Die Trauer der
Hinterbliebenen ist unermesslich, die Wut über die Regierung wächst, denn diese
Bergwerkskatastrophe ist nicht zuletzt ein Produkt der Türkei als Labor des
Neoliberalismus.
Die Katastrophe von Soma hat der Weltöffentlichkeit die elendige Realität der türkischen Arbeitswelt auf fatale Weise vor Augen geführt. Das Grubenunglück ist, auch wenn es durch einen explodierenden Trafo ausgelöst wurde, ein Ergebnis des neoliberalen Umbaus der Türkei, welcher seit 2002 von der Regierung mit aller Wucht fortgeführt wird. Die Türkei ist nicht mehr »nur« ein Labor des Neoliberalismus, sondern ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen par excellence.
Die Katastrophe von Soma hat der Weltöffentlichkeit die elendige Realität der türkischen Arbeitswelt auf fatale Weise vor Augen geführt. Das Grubenunglück ist, auch wenn es durch einen explodierenden Trafo ausgelöst wurde, ein Ergebnis des neoliberalen Umbaus der Türkei, welcher seit 2002 von der Regierung mit aller Wucht fortgeführt wird. Die Türkei ist nicht mehr »nur« ein Labor des Neoliberalismus, sondern ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen par excellence.
Als die heute
regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 die Regierung
übernahm, hob sie als eine ihrer ersten wirtschaftlichen Maßnahmen die
sogenannten Arbeitsschutzgesetze auf. Mit dem neuen Arbeitsgesetz Nr. 4857 vom
22. Mai 2003 wurden der Arbeitsmarkt flexibilisiert, die Rechte der
Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, eine Beschäftigung »auf Abruf«
eingeführt, befristete Arbeitsverhältnisse und der Niedriglohnsektor massiv
ausgeweitet. Fortan konnten die Arbeitgeber ihre Beschäftigten untereinander so
oft verleihen, wie sie es für notwendig hielten. Das war übrigens der
Startschuss für das heute in der Türkei ausufernde Subunternehmertum.
Die
Subunternehmen wurden in nahezu allen Bereichen eingesetzt – auch im
öffentlichen Dienst. Die Zahlen der türkischen Statistikbehörde (TUIK) sprechen
für sich: Während rund 16,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig
beschäftigt sind und nur knapp 700 000 Beschäftigte nach einem – wie auch immer
gearteten – Tarif bezahlt werden, arbeiten rund elf Millionen Menschen im informellen
Sektor ohne Absicherung.
Durch die
Privatisierungen, die übrigens schon 1980 unter der damaligen Militärjunta
begannen, wurden vor allem die Bergwerke zu Todesfallen für die Arbeiter. Laut
TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10 600 Beschäftigte bei Arbeitsunfällen
ums Leben. Alleine in den ersten vier Monaten dieses Jahres starben 396
Beschäftigte – darunter 23 Arbeiterinnen. Gewerkschaften und zahlreiche
Initiativen bemängeln seit Jahren die völlige Vernachlässigung der
Sicherheitsbestimmungen und des Arbeitsschutzes. Seit 19 Jahren verweigern die
türkischen Regierungen zum Beispiel internationalen Verträgen zum Schutz in den
Bergwerken ihre Unterschrift.
Nach dem
Verfassungsreferendum von 2010 konzentrierte die AKP-Regierung, nachdem sie die
Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgehöhlt hat, sämtliche Entscheidungen über
Lizenzvergabe und Bergwerkskontrollen bei einer bestimmten Abteilung des
Ministeriums für Naturressourcen und Energie. Die Folge war, dass die
Kontrollen über Sicherheitsbestimmungen in den Bergwerken vernachlässigt wurden
und – wie von verschiedenen türkischen Zeitungen berichtet wird – die Kohle
fördernden Unternehmen mit Gefälligkeitsberichten versorgt wurden.
Zudem
ermöglichte die Regierung den Einsatz von zahlreichen Subunternehmen, deren
Beschäftigungspraxis undurchsichtig war. Dieser Missstand ist übrigens einer
der Gründe, warum die genaue Zahl der eingeschlossenen Kumpel in der
Unglückszeche Soma nicht genannt werden kann.
Eine wesentliche
Begründung für die Privatisierung der Kohleförderung war, dass die privaten
Firmen Kostensenkungen besser umsetzen können. In Soma wurden jährlich 2,5
Millionen Tonnen Kohle gefördert. Der zuständige Minister und der Firmenchef
strahlten, als sie bekanntgaben, dass jetzt »eine Tonne Kohle anstatt 135
Dollar nur noch 24 Dollar kostet«. Den eigentlichen Preis bezahlten die
Bergleute mit ihrer Gesundheit oder gar wie jetzt mit ihrem Leben. Für den
Ministerpräsidenten ist das »ein Risiko des Berufes«. Eine zynische
Feststellung. Was die Angehörigen der Opfer davon halten, haben sie ihm ins
Gesicht geschrien: »Mörder Erdogan!« Das ist wohl dem Schmerz geschuldet. Wahr
ist, dass Erdogan mit seiner Politik eine Hauptverantwortung für diese
Grubenkatastrophe trägt.
Erdogan hatte
nichts Besseres zu tun, als die Opfer zu verhöhnen. Am Katastrophenort erklärte
er: »Solche Unfälle passieren ständig. Ich schaue zurück in die englische
Vergangenheit, wo 1862 in einem Bergwerk 204 Menschen starben.«
* Aus: neues
deutschland, Freitag 16. Mai 2014