Wenn aus dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli
2016 in der Türkei eine erste Lehre gezogen werden sollte, dann kann es nur die
Tatsache sein, dass der »Qualitätsjournalismus« bürgerlicher Medien völlig
ungeeignet ist, die eigentlichen Hintergründe von politischen Entwicklungen im
eigenen Land und in der Welt zu durchleuchten. Wer z.B. in der BRD die aktuelle
Entwicklung in der Türkei nur über die Berichterstattung der bürgerlichen
Medien verfolgt, kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass Erdoğan fester
denn je im Sattel sitzt, die Türkei sich vom Westen abwendet, das AKP-Regime
alles unter die Kontrolle des »Palastes« gebracht hat und natürlich nahezu alle
türkeistämmigen Migrant*innen in der BRD Erdoğan unterstützen. Entspricht das
alles wirklich der Realität?
Schauen wir uns zuerst die Situation in der Türkei an:
Seit dem Putschversuch sind nun fast 3 Wochen vergangen. Die gesamte
Bevölkerung – kurdische Teile und Linke ausgenommen – scheint von einer
Nationalismus-Euphorie erfasst zu sein. Türkische Zeitungen berichten, dass
innerhalb weniger Tage nach dem Putschversuch über 100 Millionen türkische
Fahnen verkauft worden seien – das bei einer Einwohnerzahl von knapp 75
Millionen. Aber in der Tat: wohin man blickt, überall sind türkische Fahnen zu
sehen: auf den Fenstern von Gebäuden, auf Autos, in Einkaufszentren, Schulen,
Geschäften etc. Dazu kommen die megagroßen Fahnen, die kilometerweit zu sehen
sind. Übertriebener Eifer fehlt auch nicht: Auf einem 6-stöckigen Wohnhaus
waren 30 türkische Fahnen zu zählen. Jede Nacht kommen zehntausende Menschen
mit Fahnen zu Kundgebungen, die nun »Demokratiewacht« genannt werden.
Autokorsos, »Allah-u Ekber«-Rufe und Treueeide auf die »Demokratie«, begleitet
von Gebetsrufen aus den Minaretten.
Manche Laizisten fühlen sich in einem Alptraum gefangen:
Fernsehbilder zeigen Massen von schwarzverhüllten Frauen, Bartträger in
islamistischer Bekleidung, »Scharia«-Rufe, ein Mob, der vor Angriffen auf
vermeintlich Andersdenkende nicht zurück scheut. Beispiele gibt es zuhauf: Eine
schwangere Mitarbeiterin der linken Tageszeitung »Evrensel« wird auf offener
Straße als »Gülenistin« angegriffen und zusammengeschlagen. Während die
Angreifer, darunter auch verhüllte Frauen, weitere Passanten mit »jetzt werdet
ihr euch uns unterwerfen« Rufen bedrohen und von der Polizei unbehelligt
weiterziehen können, wird dem Opfer im Krankenhaus ein ärztliches Attest
verwehrt. In Malatya werden Alewiten angegriffen, aus Konya und anderen Orten
wird von Lynchversuchen gegen syrische Flüchtlinge berichtet. Der Mob pöbelt
und die Polizei lässt sie gewähren.
Nahezu alle Fernsehkanäle und Zeitungen sind
gleichgeschaltet. Oppositionelle Medien sind entweder verboten worden oder der
Zugang zu diesen wird verhindert. Zahlreiche Internetseiten sind nicht
erreichbar. Obwohl immer noch nicht nachgewiesen werden konnte, wer die
eigentlichen Drahtzieher des Putschversuches waren, wird Fetullah Gülen als
Staatsfeind Nr. 1 dargestellt. Rund 60.000 Menschen sind vom Staatsdienst bzw.
vom Angestelltenverhältnis entfernt worden. Knapp 19.000 wurden festgenommen,
9.677 von ihnen wurden verhaftet. Fast 50.000 Menschen mussten ihre Reisepässe
abgeben. Tausende Richter und Staatsanwälte, darunter zwei Verfassungsrichter,
Offiziere, Polizeibeamte, Mitarbeiter*innen von zahlreichen Ministerien und der
Bürokratie sind inzwischen inhaftiert. Fernsehzuschauer*innen verfolgen
geschockt die Bilder von dem Putschversuch und wie der gesamte Staatsapparat
von dieser faschistoiden Gülen-Bewegung unterwandert war. Erdoğan und Regierungsmitglieder
werden nicht müde zu erklären, dass Gülen-Leute an allem, was bisher in der
Türkei an Massakern und extralegalen Hinrichtungen, Bombardierungen etc.
geschah, schuldig sind. Das Erklärungsmuster für alles Schlechte in der Türkei
ist nun »FETÖ«, die »Fetullah Gülen Terrororganisation«. Nun wird das, was
türkische Linke und die kurdische Befreiungsbewegung seit Jahren gesagt haben,
regierungsamtlich bestätigt.
Differenzierte Betrachtung notwendig
Es ist richtig, dass die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung in der Türkei gegen den Putschversuch war und das parlamentarische
System unterstützt. Es entspricht auch der Tatsache, dass seit fast 3 Wochen
jede Nacht in zahlreichen Städten zehntausende Menschen an den von der AKP
organisierten »Demokratiewacht«-Kundgebungen teilnehmen. Aber das bedeutet
keineswegs, dass die AKP immer noch über eine große gesellschaftliche
Unterstützung verfügt. Die nackten Zahlen belegen das.
Trotz der propagandistischen Bemühungen des
AKP-Regimes (Aufrufe aus den Minaretten von rund 85.000 Moscheen, Medien usw.)
nehmen durchschnittlich an den Kundgebungen in der gesamten Türkei nur einige
hunderttausend Menschen teil. Selbst an den ersten Tagen waren es kaum mehr.
Sogar die kemalistische CHP konnte, dank der Unterstützung linker Parteien und
Organisationen, am 24. Juli 2016 fast eine Million Menschen auf dem
Taksim-Platz zusammenbringen. Laut Mustafa Ataş, stellvertretender
Parteivorsitzender der AKP, hat die Partei fast 10 Millionen Mitglieder. [1]
Die militante AKP-Jugendorganisation verfügt über rund eine Million Mitglieder.
Bei den Wahlen kann die AKP rund 2,8 Millionen Wahlhelfer*innen mobilisieren. Wenn
man diese Zahlen und die Tatsache bedenkt, dass seit dem 16. Juli 2016 alle
öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos sind, auf den Kundgebungen Lebensmittel
und Getränke verteilt werden und sogar einige AKP-Organisationen Taschengelder
verteilen, kann von einer »großen Mobilisierung« nicht gesprochen werden. Dazu
kommt die Tatsache, dass alle Bediensteten der staatlichen und kommunalen
Stellen, Beamte und Angestellte, Lehrer*innen und Schüler*innen, sogar
Mitarbeiter*innen von Unternehmen in öffentlicher Hand zur Teilnahme an den
Kundgebungen verpflichtet werden. [2] Angst vor Verhaftung und vor dem Verlust
des Arbeitsplatzes ist die eigentliche Motivation für viele an den Kundgebungen
teilzunehmen. Das gilt natürlich nicht für die Kernbasis der AKP und für die
islamistischen Organisationen. Die Arroganz, die dem politischen Islam
innewohnt, ist auch bei diesen Teilen spürbar, so dass Erdoğan und sein
Ministerpräsident Binali Yıldırım ständig genötigt werden diese Kräfte
anzumahnen, »nicht übereifrig zu handeln«.
Es ist offensichtlich, dass das AKP-Regime durch das
Stricken an einer »nationalen Einheitslegende« sich aus dem Schlammassel, was
sie selbst verursacht hat, rausretten möchte. Medial wird das Bild einer
starken, von allen gesellschaftlichen Schichten unterstützten, aber von
»ausländischen Mächten« bedrängten »nationalen Kraft« aufgebaut. Die kritische
Berichterstattung westlicher Medien und die dort herrschende »Erdoğan-Gegnerschaft«
wird fast genüsslich für die Propaganda instrumentalisiert. So auch die
Pro-Erdoğan-Demo am 31. Juli 2016 in Köln. Regierungsmitglieder werfen
europäischer Politik »Zensur« vor und verherrlichen die »Türkei-Liebe
europäischer Türken«.
Hier sollte ordnungshalber darauf hingewiesen werden,
dass seitens der bürgerlichen Medien in der BRD ein ähnliches Bild gepflegt
wird. Einige Zehntausend Teilnehmer*innen der Demonstration, darunter nicht nur
AKP-Anhänger*innen, sondern auch Graue Wölfe, Mitglieder anderer
nationalistischen Parteien und Islamisten nichttürkischer Herkunft, sollen den
Beweis erbringen, dass »ein großer Teil der in Deutschland lebenden Türken
Erdoğan unterstützen«. Ein billiges Kalkül: eine normale Entwicklung in einer
Einwanderungsgesellschaft, nämlich dass Migrant*innen mit ihrem Herkunftsland eng
verbunden sind und auch aufgrund der institutionellen Diskriminierungsmechanismen
herkunftsbezogene politische / kulturelle Identitäten als Schutzschild
benutzen, wird für eine restriktive Migrationspolitik instrumentalisiert und
gerade in einer Zeit der erstarkten fremdenfeindlichen Stimmung innenpolitisch
missbraucht. Dabei wissen die Bundesregierung und die Landesregierungen seit
Jahrzehnten, dass der türkische Staat sich in der BRD verschiedenen Vereinen
und Verbänden bedient, türkeistämmige Migrant*innen als »Lobbyisten« der
türkischen Politik auszunutzen versucht, finanziell und personell Vereine und
Verbände unterstützt, sogar extralegale Hinrichtungen auf europäischem Boden
vollzogen hat, Imame und Lehrer*innen als Beamte nach Europa schickt und über
die Generalkonsulate die Geheimdiensttätigkeiten innerhalb der türkischen
Community organisiert. [3] Die gleiche verantwortliche Politik, die der
Religionsanstalt der Türkei und somit dem Nationalen Sicherheitsrat der Türkei
unterstellte DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.)
und andere regierungsnahe islamistische Organisationen als Ansprechpartner für
den islamischen Unterricht in der BRD bzw. für die sog. »Islam Konferenz«
anerkannt hat, verlangt nun von diesen, dass sie »sich von Erdoğan zu distanzieren
haben«. Wenn sie dabei ernst wären, müssten sie sofort Konsequenzen ziehen:
diese Organisationen nicht mehr anerkennen und jegliche Zusammenarbeit mit
ihnen sowie die finanzielle Förderung einstellen.
Auch die Erdoğan-Organisation »UETD – Union
europäisch-türkischer Demokraten«, die »türkische Pegida«, wie sie von der Tageszeitung
Die Welt bezeichnet wird, wird als eine »starke, mobilisierungsfähige
Organisation« bezeichnet. Dabei wäre die UETD ohne die enormen finanziellen
Zuschüsse aus dem »Palast«-Erdoğans und der türkischen Regierung kaum in der
Lage, solche Massenveranstaltungen durchzuführen. UETD bezahlt die Busse und
die Fahrt mit anderen Verkehrsmitteln, um aus ganz Europa ihre Anhänger*innen
zu den Demonstrationen bzw. Erdoğan-Auftritten zu bringen. Auch die DITIB,
Koordinierungsräte türkischer Vereine sowie die Konsulate und die türkische
Botschaft sind eifrig an der Organisierung dabei. Das alles ist der
verantwortlichen Politik und den bürgerlichen Medien seit langem bekannt.
Deshalb ist die zur Schau gestellte Empörung heuchlerisch und von Interessen
geleitet. Die aktuelle Schein-Debatte über die Doppelstaatsangehörigkeit belegt
dies.
»Segen Gottes«: Die Gülen-Bewegung
Für Erdoğan ist nun der gescheiterte Putschversuch wie
ein »Segen Gottes« [4] – aber nicht nur der Putschversuch, sondern die
faschistoide Gülen-Bewegung insgesamt. Fetullah Gülens Geheimorganisation war
anfänglich eine wichtige Stütze des AKP-Regimes. Seit rund 40 Jahren versuchte
diese Organisation, die nie mit einer Zentrale in der Öffentlichkeit auftrat
und ein riesiges internationales Netzwerk aufgebaut hat, den türkischen Staat
zu infiltrieren. Antikommunistisch, antikurdisch, rassistisch-nationalistisch
und mit einem Islamverständnis, das an Absurdität kaum zu übertreffen ist,
hatte die Gülen-Bewegung sich die Aufgabe gegeben, eine »goldene Generation«
aufzuziehen, die in die »Venen und Arterien des Staates eindringen und diesen
übernehmen« sollte (F. Gülen im O-Ton). Seine Anhänger sollten sich »verstellen,
wenn nötig im Ramadan Raki trinken und abwarten, bis ihre Zeit gekommen ist«,
so Gülen weiter. Bis dahin stellte sich die Bewegung in den Dienst [5]
verschiedener Regierungen und Parteien und fand Unterstützer wie den ehem.
Staatspräsidenten Süleyman Demirel oder den ehem. Ministerpräsidenten Bülent
Ecevit.
Mit der Gründung der AKP war die »Zeit« für die
Bewegung gekommen. Es ist allgemein bekannt, dass die AKP eine Koalition
unterschiedlicher sunnitisch-konservativer Kräfte ist. Die Gülen-Bewegung war
lange Zeit ein tragendes Element der AKP. Erdoğan konnte mit Hilfe der Gülen-Leute
seinen Machtkampf gegen die kemalistischen Eliten im Staat gewinnen. Da die Gülen-Bewegung
über loyale Verwaltungsleute, Richter und Staatsanwälte verfügte, wurden sie im
Staatsapparat an Schaltstellen gebracht und konnten das Netzwerk vergrößern. In
den Kommunalverwaltungen, Ministerien, im Justizapparat, in dem Geheimdienst,
in der Polizei, Armee und Gendarmerie bekamen sie die Entscheidungspositionen
des nach und nach entfernten kemalistischen Personals. Die Gülen-Bewegung war
für Erdoğan wirklich wie ein »Segen Gottes«, denn mit ihrer Hilfe konnte er
seinen Krieg gegen die Kemalisten erfolgreich führen. Die kemalistische
Generalität konnte mit Inhaftierungen, konstruierten Putschvorwürfen,
»Ergenekon«-Schauprozessen und Haftstrafen domestiziert werden. Aber auch gegen
die kurdische Befreiungsbewegung, insbesondere gegen den legalen politischen
Teil wurde die Gülen-Bewegung angesetzt. Mit den sog. »KCK-Prozessen« wurde die
Willkürjustiz und das Feindstrafrecht par excellence umgesetzt. [6] Nach dem von
Erdoğan durchgesetzten Verfassungsreferendum in 2010 konnte die Gülen-Bewegung
ihren Einfluss im Justizapparat noch mehr vergrößern.
Erdoğan ließ die Bewegung gewähren. Später sagte er,
»wir haben euch alles gegeben, was ihr wolltet«. Denn die Bewegung wollte nun
die gesamte Macht im Staat. Zwei Strömungen des politischen Islams, die jeweils
die völlige Unterwerfung unter ihre Macht einforderten, gerieten nun
aneinander. Die ersten Risse entstanden nach dem israelischen Angriff auf das
Gaza-Flottillen-Schiff »Mavi Marmara« im Mai 2010. Gülen kritisierte Erdoğan
persönlich, weil er es zugelassen habe, dass ohne die Einwilligung der
israelischen Behörden eine solche Aktion gestartet wurde. Aber die eigentliche
Krise kam mit dem Versuch eines Gülen nahestehenden Staatsanwalts, im Februar
2012 den Geheimdienstchef Hakan Fidan zwangsweise anzuhören. Erdoğans Regierung
ging zum Angriff über und beschloss ein Gesetz, der vorsah, die privaten
Unterrichtshilfeinstitute – meist in der Hand der Bewegung – zu verbieten. Der
Konflikt eskalierte: es kam heraus, dass Gülen-Leute, die der Abhörabteilung
der türkischen Polizei vorstanden, den Geheimdienst, den Ministerpräsidenten,
den Außenminister, ausländische Botschaften sowie den Armeechef abgehört und
die Protokolle ins Ausland verschafft haben. Und am 17. Dezember 2013 platzte
die richtige Bombe: bis zum 25. Dezember wurden in den Medien Abhörprotokolle
von Erdoğan und seinen Ministern veröffentlicht. Der Korruptionsskandal, in den
Erdoğan, seine Familie und mehrere Minister verwickelt waren, schockierte die
Öffentlichkeit.
Danach gingen die gegenseitigen Angriffe verschärft
weiter. Erdoğan versuchte durch Gesetzesänderungen und Personalentscheidungen
die Gülen-Leute aus deren Ämtern zu verjagen. Die Bewegung veröffentlichte
weitere Details der Korruptionen und ließ ein Waffentransport des
Geheimdienstes an die »IS«-Leute in Syrien auffliegen. Am 25. Februar 2014
wurden Mitschnitte aus einem Telefonat Erdoğans mit seinem Sohn veröffentlicht.
Die Terrororganisation »Parallel-Staat« war geboren. Erdoğan konnte aber die
Krise meistern. Ende März 2014 gewann die AKP die Kommunalwahlen und wurde mit 44
Prozent die stärkste Kraft. Durch Änderungen im »Hohen Rat der Richter und
Staatsanwälte« und weiteren Maßnahmen sowie Verhaftungen wie im Dezember 2014
sah es so aus, als ob die Gülen-Bewegung im Staat ausgeschaltet war. Die
Tatsache, dass Erdoğan die Staatspräsidentschaftswahlen gewann, war Anlass für
in- und ausländische Kommentare, die der Gülen-Bewegung die Niederlage
bescheinigten – diese Ansicht wurde bis zum 15. Juli 2016 weitgehend vertreten.
Der gescheiterte Putschversuch war nun für Erdoğan Anlass
genug, um die Gülen-Bewegung gänzlich auszuschalten. Anfänglich sah es danach
aus, dass Erdoğan nun seine Machtbasis stärken kann und ihm der Weg für die
Installierung eines autoritären Präsidentschaftssystems völlig offen steht. [7]
Es kann durchaus konstatiert werden, dass die Gülen-Bewegung inzwischen zum
größten Teil aus den »Venen und Arterien des Staates« entfernt wurde. Nun
bekommen sie die Auswirkungen des von ihnen installierten Feindstrafrechts am
eigenen Leibe zu spüren. Erdoğan redet inzwischen von Fehlern und bittet »Allah
und die türkische Nation um Vergebung«, weil er sich von der Gülen-Bewegung
»täuschen« ließ. Wäre die Türkei ein Rechtsstaat, würde das »Bitten um
Vergebung« und »getäuscht sein« Erdoğan nicht vor Strafe schützen. Denn Erdoğan
und die AKP sind mindestens Mittäter der kriminellen Geheimorganisation Gülens
und tragen Mitverantwortung an dessen Taten.
Gülens Logistikzentrum BRD
Mitverantwortung an den Taten dieser kriminellen
Geheimorganisation tragen auch europäische Regierungen - die Bundesregierung im
besonderen Maße. Seit fast 25 Jahren ist die Gülen-Bewegung in der BRD tätig.
Sie konnte innerhalb dieser Zeit ein großes Netzwerk aufbauen, dem zahlreiche
Privatschulen, Vereine, Verbände und Unternehmungen sowie Medien angeschlossen
sind. Ähnliche Einrichtungen sind in anderen europäischen Staaten zu finden,
aber die BRD ist für die Gülen-Bewegung weltweit das wichtigste Logistikzentrum
überhaupt. Seit fast so langer Zeit wird die Politik und Öffentlichkeit über
diese »Graue Wölfe im Schafspelz« (Nick Brauns) informiert. Obwohl immer wieder
auf die Gefährlichkeit dieser Bewegung hingewiesen wurde und im Grunde genommen
die Bundesstaatsanwaltschaft von Amts wegen Ermittlungen aufnehmen müsste,
werden diese Informationen bis heute ignoriert.
Schon vor Jahren schrieb Nick Brauns folgendes: »In
Deutschland lassen sich drei Standbeine der Gülen-Bewegung ausmachen: Ein
Bildungsnetzwerk mit dem Ziel der Gewinnung neuer Anhänger und Kader zur Schaffung
der von Gülen propagierten ›goldenen Generation‹ für eine zukünftige Weltgeltung
der Türkei als islamischer Führungsmacht, Medien zur Verbreitung der Ideen der
Gemeinde und politischen Beeinflussung der türkeistämmigen Migration, aber auch
der deutschen Öffentlichkeit im Sinne der türkisch-nationalistischen Politik
und schließlich Lobbyvereine, die eine Verankerung und damit Absicherung der
Gülen-Bewegung im akademischen und politischen Milieu betreiben. Nach außen
versuchen diese jeweils rechtlich eigenständig agierenden Vereinigungen den
Eindruck völliger organisatorischer Unabhängigkeit zu erwecken. Selbst eine
Verbindung zu Gülen wird vielfach verschwiegen und lediglich Sympathien ›für
die grundlegenden friedlichen Thesen Gülens‹ (so etwa der Bildungsverein
Academy in Frankfurt) eingestanden. Dabei kommt den zuvor in den Bildungseinrichtungen
des Netzwerkes ausgebildeten Mitarbeitern der Gülen-nahen Medien eine Funktion
als Kader zu – entsprechend der Rolle, die Imame der Gülen-Bewegung in der
Türkei einnehmen.« [8] Selbst die regierungsnahe »Stiftung Wissenschaft und
Politik« (SWP) bewertete die Bewegung kritisch. [9] Der Autor der SWP-Studie,
Günter Seufert bewertet jedoch die Bewegung »in Deutschland nicht als Gefahr«
und empfiehlt Entscheidungsträgern und Institutionen »in Deutschland deshalb
für die Zusammenarbeit mit Initiativen der Gülen-Bewegung in der Regel offen«
zu sein.
So können
Gülen-Leute heute weiterhin mit Unterstützung staatlicher Stellen Schulen,
Kindergärten eröffnen und »Integrationspreise« erhalten. Sie können ungehindert
ihre Mär vom »interkulturellen und interreligiösen Dialog« verbreiten und
werden dabei von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen berechtigte
Kritiken verteidigt. Das hat natürlich nichts mit einer politischen Naivität zu
tun. Im Gegenteil: es geht darum, und das kann auch aus der SWP-Studie
herausgelesen werden, diese Bewegung als Ersatzkraft unter Kontrolle zu halten.
Immerhin konnte die Bewegung Jahrzehnte lang unter Beweis stellen, wie sie die
Interessen imperialistischer Mächte verteidigte und als schlagkräftiger
Handlanger westlicher Geheimdienste tätig war. Es mag sein, dass die
Gülen-Bewegung z.Zt. für die Herrschenden in Europa keine »Gefahr« darstellt.
Sie verhält sich zurückhaltend und hält sich scheinbar an das geltende Recht
und Ordnung. Aber der gescheiterte Putschversuch am 15. Juli 2016 hat bewiesen,
zu welchen Taten sich diese kriminelle Organisation entschließen kann. Deshalb
werden naive Aufforderungen, wie die von Grünen-Chef Özdemir, [10] nach
»Transparenz« keine Auswirkungen haben. Die Gülen-Bewegung ist eine kriminelle
Geheimorganisation, die im Rahmen rechtsstaatlicher Instrumente verfolgt werden
muss. Und solange die Bundesregierung sich dazu verweigert, solange wird sie
sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, an den bisherigen Taten der Bewegung
mitverantwortlich zu sein.
Die Tage nach dem Putschversuch
In der Türkei gibt es innerhalb der demokratischen
Opposition, der kurdischen Befreiungsbewegung und in den linken Kräften
niemanden, der der Gülen-Bewegung eine einzige Träne nachweinen würde. Ihre
Verbrechen haben derart tiefe Wunden hinterlassen, dass die Opposition die
jetzige totale Zerschlagung dieser Bewegung als ein positives Ergebnis der
letzten Tage betrachtet. In der Tat: auch der Autor dieser Zeilen war
überrascht von dem aufgebauten gewaltigen Netzwerk – trotz langjähriger
Kenntnisse über die Gülen-Bewegung. Insofern ist es zu begrüßen, dass die
verantwortlichen Gülen-Leute aus den Schaltstellen der Macht entfernt wurden.
Das bedeutet aber keineswegs, dass die nichtrechtsstaatliche Behandlung und
Folter gutgeheißen wird. Im Gegenteil; es sind gerade linke Kräfte und die
Opfer dieser Bewegung, die sich dagegen aussprechen und Rechtsstaatlichkeit
auch gegenüber ihren Folterer und Mörder einfordern. Erdoğan und seine
Regierung wären gut beraten, wenn sie auf diese Forderungen eingehen würden.
Immerhin waren es laizistische, moderne gesellschaftliche Kräfte und die
demokratische Opposition, die sich klar gegen den Putsch positioniert haben.
Unabhängige türkische Beobachter wie die Journalisten Gökhan Biçici oder Kadri
Gürsel sind sich einig: hätte eine kritische Masse von laizistischen Kräften
den Putschversuch auf der Straße unterstützt, hätten die Putschisten durchaus –
wenn auch sehr blutige – Erfolgschancen erhalten.
Das AKP-Regime scheint diese Tatsache erkannt zu
haben. Derzeit versucht Erdoğan mit einer Charmeoffensive die bürgerliche
Opposition auf seine Seite zu ziehen. Erdoğans Friedensangebot an die
kemalistische CHP und die neofaschistische MHP folgt nicht aus einer
Überzeugung für das parlamentarische System, sondern aus einer Zwangslage. Denn
die harsche Rhetorik Erdoğans oder einiger seiner Minister sollte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das Regime mit dem Rücken zur Wand steht. Dafür gibt es
verschiedene Gründe.
In den ersten Tagen nach dem Putschversuch sah es
danach aus, dass Erdoğan gestärkt aus dieser Krise herauskam und nun die Chance
für die Installierung eines autoritären Präsidialsystems nutzen werde. Bis zum
19. Juli 2016 sah man einen Erdoğan, der vor Kraft und Selbstbewusstsein
geradezu strotzte. Jede seiner Reden war wie eine Kriegserklärung an die
Opposition: »Ob sie es wollen oder nicht. Wir werden den Gezi-Park umbauen.«
Doch am 20. Juli verwandelte er sich wie geläutert »vom Saulus zum Paulus«. Die
Frage, ob das Telefonat mit dem US-Präsidenten Obama am 19. Juli eine Rolle
gespielt hat wäre rein spekulativ, aber die Annäherungsbemühungen Erdoğans
waren real. Schon nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates und dem
Parlamentsbeschluss über die Verhängung des Ausnahmezustandes im ganzen Land
versuchte Erdoğan die Auswirkungen zu relativieren. Der Ausnahmezustand würde
»im Alltagsleben unserer Nation nichts ändern«. Im Parlament hatten AKP und MHP
Abgeordnete mit Ja und CHP und HDP Abgeordnete mit Nein abgestimmt.
In Zusammenhang mit den Mobilisierungsschwierigkeiten
der eigenen Basis schien Erdoğan erkannt zu haben, dass die 50-prozentige
Zustimmung in einer Zeit der außenpolitischen Isolation und dem erhöhten Druck
der strategischen Partner für den Machterhalt nicht ausreichend ist. Denn
selbst ein durchgesetztes Präsidialsystem wäre unter diesen Umständen nicht
nachhaltig und würde die erforderliche Stabilität nicht gewährleisten können.
Erdoğan sah, dass er und seine Partei auf die kemalistische CHP angewiesen sind
und eine Koalition alleine mit der MHP nicht viel bringt – auch die CHP sah
dies. Immerhin mussten zehntausende von Stellen in den Ministerien,
Verwaltungen, im Militär und Justizapparat neu besetzt werden.
So ist in vielen Teilen der Türkei – natürlich mit
Ausnahme Kurdistans – kaum etwas von einem Ausnahmezustand zu spüren. Der
Ausnahmezustand sei »dem Staatsapparat verhängt worden«, so der
Ministerpräsident Yıldırım. Dass dabei linke Aktivisten mit dem Vorwurf »Gülenisten«
verhaftet wurden, sei »ein Fehler, der behoben« werde. In den sozialen Medien
konnte man verfolgen, wie Freigelassene meinten, dass es das erste Mal geholfen
habe, »ein Atheist und Marxist zu sein«. Ironischer Weise hat sich auch für die
kurdische Bevölkerung nichts verändert. In Kurdistan gilt weiterhin das
Kriegsrecht und in einigen Orten sind immer noch Ausgangsverbote gültig. Der
schmutzige Krieg hat an seiner Abscheulichkeit nichts verloren.
Während Erdoğan »ausländische Mächte« als Drahtzieher
des Putschversuches beschuldigte und gegenüber dem Westen scharfe Rhetorik
verwandte, sendete er im Inland Signale für ein »nationales Übereinkommen«. So
wurde der Taksim-Platz, der für politische Veranstaltungen stets verschlossen
war, auf Befehl Erdoğans der CHP für die Kundgebung am 24. Juli zur Verfügung
gestellt. Nach dieser beeindruckenden Kundgebung erklärte er, dass »die Türkei
innerhalb des demokratisch-parlamentarischen Systems bleiben und sich davon
niemals entfernen wird«. Das wurde als ein klares Signal für die Verschiebung
der Präsidialsystempläne verstanden. Vor dem Putschversuch hatte Erdoğan stets
vermieden, Oppositionsführer in seinem Palast zu empfangen. Nun wurden der
CHP-Führer Kemal Kılıçdaroğlu und der MHP-Führer Devlet Bahçeli im Palast
empfangen. Demonstrativ wurde die linke HDP ausgegrenzt. Der türkische
Nationalismus ist nun das verbindende Element zwischen der AKP, CHP und der
MHP.
Erdoğan erklärte, dass er alle Strafanzeigen wegen
Beleidigung, immerhin einige Tausend, nun zurückziehe und den »Beleidigern
einmalig vergebe«. »Alle« ist natürlich relativ – die Strafanzeigen gegen
kurdische Politiker*innen und ausländische Personen bleiben weiterhin bestehen.
Überall im Land und insbesondere auf dem Gebäude der AKP-Zentrale in Ankara
wurden übergroße Atatürk-Poster als Signal für den Laizismus (kemalistischer
Art) aufgehängt und auf zahlreichen Werbetafeln in den Städten wird »der
Nation« gedankt: »Heldenmut unserer Nation hat den Putsch verhindert«,
»Türkische Nation, wir danken dir«, »Die Souveränität gehört der Nation« usw.
Erdoğan spricht nun davon, dass alle Parteien, außer der »Terrorunterstützerin
HDP«, nun »geeint mit der türkischen Nation die Demokratie retten werden«.
Beharrlich wird an der Legende der »nationalen Einheit« gearbeitet.
Der Ausnahmezustand wird auch für
wirtschaftsfreundliche Dekrete und Gesetzespakete genutzt. Die türkische
Monopolbourgeoisie und internationale Konzerne werden mit umfangreichen
Vergünstigungen umworben. Ein neues Gesetzespaket sieht vor, dass neue
Investoren 100 Prozent Steuerbefreiung sowie weitere Subventionen, wie 10 Jahre
lang Übernahme der Versicherungsprämien für Beschäftigte oder Rückzahlung der
Umsatzsteuer, erhalten. [11] Eines der ersten Maßnahmen des Regierens per
Dekret war das Streikverbot. Während Unternehmerverbände mit den Kammern und
anderen sog. NGOs zusammenkamen und ihre Gemeinsamkeit mit der Regierung zur
Schau stellten, traf Erdoğan Vertreter internationaler Konzerne und sicherte
ihnen die Unterstützung des türkischen Staates zu. Diese Bemühungen sind auch
notwendig, da die Kreditwürdigkeit Ankaras von Ratingagenturen als schlecht
eingeschätzt wird, das Wirtschaftswachstum rückgängig ist und die
Inflationsrate inzwischen wieder 9 Prozent beträgt. Die Tourismusbranche leidet
unter Fehlbuchungen und das Handelsbilanzdefizit erhöht sich weiter. Um den
Konsum anzuregen, wurde die Zentralbank angewiesen, die Zinsen weiter
herabzusenken und die Regierung beschloss zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen
für die Bauwirtschaft. Vom »türkischen Wirtschaftswunder« ist wenig
übriggeblieben.
Mögliche Perspektiven
Erdoğan und seine Regierung sind aufgrund der außen-
wie innenpolitisch und wirtschaftlich desolaten Situation gezwungen, mit der
CHP und MHP zusammenzuarbeiten. Bei der verfassungsrechtlich höchstumstrittenen
Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten hatten sie schon erste Erfahrungen
der Zusammenarbeit gemacht. Aus den Ministerien und Verwaltungen sind
Informationen bekannt geworden, dass sowohl die CHP als auch die MHP
Personalvorschläge für die freigewordenen Stellen gemacht haben. Und wenn man
die selten freundliche Behandlung der Parteichefs von CHP und MHP
berücksichtigt, ist es nicht von Hand zu weisen, was manche Journalisten aus
Ankara berichten: nämlich, dass Vertreter von Parlamentsfraktionen der AKP, CHP
und MHP längst geheime Sondierungsgespräche führen.
Wie eine mögliche Koalition aussehen könnte, konnte
man auf der sog. »Demokratie und Märtyrer Kundgebung« am 7. August 2016 in
Istanbul sehen. Erdoğan hatte die bürgerliche Opposition zu dieser
Veranstaltung eingeladen und hatte dem CHP-Parteichef mehrmals seine Leute
geschickt, damit er an dieser Veranstaltung teilnimmt. Der CHP-Parteivorstand
entschied sich für eine Teilnahme. So konnte eine Massenveranstaltung
(türkische Medien berichten von über 3 Millionen Teilnehmer*innen), die der
Euphorie eines Reichsparteitages der NSDAP in nichts nachstand, realisiert
werden. Vor einem Fahnenmeer sprachen nacheinander Devlet Bahçeli (MHP), Kemal
Kılıçdaroğlu (CHP), der Armeechef Hulusi Akar, der Ministerpräsident Binali
Yıldırım, der Parlamentspräsident İsmail Kahraman und zuletzt Erdoğan. Während
Kılıçdaroğlu seine 12 Forderungen aufstellte (die durchaus als Bedingung für
eine Regierungsbeteiligung verstanden werden konnten), bestanden die übrigen
Reden aus reiner Beschwörung von nationalistischen Formeln, dem Vortragen von
Heldengedichten, Danksprechungen, Vergangenheitsglorifizierung und Lobhudelei
auf das muslimische Türkentum, das »aller Welt gezeigt« habe, dass »die
türkische Nation sich nicht in die Knie zwingen lässt«. Es war schon
außergewöhnlich, aus den Mündern nationalistischer und islamistischer Politiker
Gedichte zu hören, die von dem kommunistischen Dichter Nazım Hikmet oder dem
kurdischen Dichter Ahmet Arif geschrieben wurden und jahrzehntelang in der
Türkei verboten waren.
Es war eine Veranstaltung, mit der das AKP-Regime ihren
strategischen Partnern zeigen wollte, dass sie den Wink mit dem Zaunpfahl
verstanden hat und alle wesentlichen Kräfte hinter sich versammeln konnte.
Bewusst ausgeschlossen war die HDP, die nun zu Recht behaupten kann, die
einzige Oppositionspartei des Landes zu sein. Interessant waren auch die
Werbungen während der fast 8-stündigen Liveberichterstattung in allen Kanälen.
Alle Werbefilme bzw. Werbeeinlagen während der Live-Sendung beschworen die
»eine Nation, eine Heimat, eine Fahne, ein Staat«-Losung Erdoğans. So zeigte
die türkische Bourgeoisie, dass alle Kapitalfraktionen hinter der »nationalen
Einheit« stehen. Erstaunlicher Weise sprach Erdoğan mit keinem Wort von seinen
Präsidialsystemplänen, die er vorher bei jeder Gelegenheit wiederholte. Auch
das zeigt, dass diese Pläne – vorerst – in die Schubladen des Palastes gelegt
worden sind.
Wann und wie nun eine »Regierung der nationalen
Einheit« gegründet wird, kann nicht vorausgesagt werden. Aber es ist mit großer
Wahrscheinlichkeit keine Frage des »ob« mehr. Denn es ist die einzige
Möglichkeit das Land aus der Sackgasse, in die sie von der AKP hineinmanövriert
wurde, raus zu lotsen. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe der nächsten Monate
diese drei Parteien eine Übergangsregierung bilden und eine weitgehende
Verfassungsänderung vorbereiten werden. Auch wenn Erdoğan die HDP demonstrativ
ausschließt, so hat er längst zugestimmt, dass die HDP an einer noch zu
bildenden Verfassungskommission des Parlaments teilnimmt. Möglich ist auch die
Wiederaufnahme der Gespräche mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı.
Denn schon jetzt haben Erdoğan und weitere AKP-Funktionäre begonnen, die Schuld
an der Eskalation der militärischen Gewalt der Gülen-Bewegung zu zuschieben. Auch
die CHP spricht sich dafür aus, die HDP in die parlamentarische Arbeit
einzubinden. Der Türkei wäre es zu wünschen, denn ohne die friedliche und
demokratische Lösung der kurdischen Frage ist eine echte Demokratisierung des
Landes nicht möglich. Noch aber scheint das Land davon weit entfernt zu sein.
Die Debatten in der EU über die Flüchtlingsübereinkunft
mit der Türkei und über die Beitrittsperspektiven zeigen, dass der
außenpolitische Druck auf das AKP-Regime sich erhöhen wird. Der Westen wird
alles unternehmen, um die von ihren strategischen Interessen geleiteten
Forderungen zu diktieren. Trotz der in den bürgerlichen Medien der BRD
fortgeführter Erdoğanbashings und bewusst gepflegter Befürchtungen, die Türkei
könnte sich vom Westen abwenden und sich Russland und Iran annähern, sind sich die
Herrschenden im Westen sicher, dass ein Abgleiten der Türkei nicht möglich ist.
Erdoğans Reise nach Russland sollte als Schadensbegrenzungsmaßnahme verstanden
werden, nicht als eine außenpolitische Alternative zur NATO. Die Türkei ist
wirtschaftlich, politisch und militärisch von der EU und den USA völlig
abhängig, wobei auch eine gegenseitige Interessenabhängigkeit besteht. Die
Stabilisierung der Türkei durch eine Regierung, die im Parlament über die
absolute Mehrheit verfügt, ist im Interesse der EU und der USA, so dass es zu
erwarten ist, dass die Bemühungen zur Bildung einer Übergangsregierung bzw.
einer »Regierung der nationalen Einheit« von der EU und der USA unterstützt
werden. Der »Pragmatismus« strategischer Interessen wird sie dazu zwingen.
Dadurch ist es aber auch wahrscheinlich geworden, dass
Erdoğan bezüglich der Korruptionsvorwürfe keine Verfolgung mehr zu befürchten
haben wird. Wie im Fall der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die
nachweislich in Korruption verwickelt war und Kriegsverbrechen zu verantworten
hat, aber nach ihrer Abwahl unbehelligt gelassen wurde, könnte Erdoğan nach
Ablauf seiner Zeit als Staatspräsident seine »Pension« in Ruhe genießen. Natürlich
ist ein solches Szenario nur dann möglich, wenn Erdoğan sich von seinem
Größenwahn und islamistischer Arroganz befreien kann und die Bedingungen des
CHP-Chefs für eine Regierungsbeteiligung akzeptiert. Das ist noch nicht sicher.
Auch wenn es sich absurd anhört; das eigentliche
Ergebnis des Putschversuches könnte sein, dass das parlamentarische System
erhalten und die Installation eines diktatorischen Präsidialsystems abgewendet
wird. Das bedeutet aber nicht, dass die Türkei dadurch demokratischer würde.
Vergleicht man die Programmatik der AKP, CHP und der MHP, so wird man sehr
schnell feststellen, dass alle drei Parteien für eine neoliberale
Wirtschaftspolitik, für den türkischen Nationalismus und eine antikurdische
Politik, für Kapitalinteressen und für die Zusammenarbeit mit dem Kriegsbündnis
NATO stehen. Dennoch; ein halbwegs funktionierendes parlamentarisches System,
Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Wiederherstellung von bürgerlicher
Freiheiten sind vielfach besser als eine faschistisch-islamistische Diktatur.
Ohne Frage: die Türkei befindet sich in einer
gewaltigen Umbruchsphase. Noch sind breite Teile der Bevölkerung in der
giftigen Atmosphäre der nationalistischen Euphorie gefangen. Noch ist die
Gefahr einer AKP-Diktatur nicht gebannt. Auch die Gefahr eines erneuten
Putschversuches besteht weiterhin – auch wenn sie geringer geworden ist. Schlimmer
noch: das Beharren auf einer militärischen »Lösung« der kurdischen Frage hat
das Potential, das Land in einen Flächenbrand zu verwandeln. Und die Bedrohung
durch jihadistische Terrorbanden ist auch nicht geringer geworden. In einer
solchen Situation könnte die Regierungsbeteiligung der CHP einen Ausweg aus dem
Schlammassel schaffen – nicht nur für die herrschenden Klassen, sondern auch die
beherrschten Klassen, die demokratischen Opposition und vor allem für das
kurdischen Bevölkerung, denn in dem wiederhergestellten parlamentarischen
System würden sich neue Chancen für emanzipatorische Kämpfe, Demokratisierung
und Frieden ergeben. Die kurdische Befreiungsbewegung, das Linksbündnis HDP und
andere linke-demokratische Kräfte der Türkei stehen vor einer gewaltigen
Aufgabe: die Herausforderung zu meistern, ein breites gesellschaftliches
Bündnis für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und für die friedliche Lösung der
kurdischen Frage aufzubauen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die
demokratische Opposition dieser Aufgabe gewachsen ist und welchen Weg die
Türkei nehmen wird.
***
[1] Siehe: https://www.akparti.org.tr/site/haberler/ak-partinin-uye-sayisi-10-milyona-yaklasmis-vaziyette/83323#1
(Türkisch).
[2] Bekannte des Autors
berichten von einem großen Druck in den Behörden und Unternehmen. Die
Mitarbeiter*innen werden gezwungen (»das ist ein Befehl, keine Bitte«), an den
Kundgebungen mit Familienangehörigen teilzunehmen. Es reicht ein Vorwurf, dass
man ein »Gülenist« ist aus, um fristlos gekündigt zu werden.
[3] Siehe: Murat Çakır, »Die
Pseudodemokraten – Türkische Lobbyisten, Islamisten, Rechtsradikale und ihr
Wirken in der Bundesrepublik«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000 (vergriffen).
Siehe auch: http://www.kozmopolit.com/haziran03/Dosya/Dosya.html
[4] Siehe auch: Errol Babacan,
»Der fingierte Putsch – Gottes Segen«, in: Infobrief Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.com/2016/07/der-putschversuch-dilettantisch.html.
[5] Die Gülen-Bewegung wird
auch »Hizmet« genannt. Das bedeutet auf Deutsch »Dienst«. Zwar wird damit
gemeint, dass dieser Dienst Allah gilt, aber nachweislich stand die Bewegung
auch unter dem Dienst der CIA. Die ehemalige FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds hat
viele Details darüber veröffentlicht.
[6] Siehe: Murat Çakır,
»Autoritärer Neoliberalismus und Islamisierung – Die Charakterzüge der „neuen
Türkei“«, RLS-Papers: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_02-15_AutoritaererNeolib.pdf.
[7] Siehe: Murat Çakır, »Der
Putschversuch: „Dilettantisch“ oder „für Erdoğan“?«, in: http://murat-cakir.blogspot.com.tr/2016/07/der-putschversuch-dilettantisch-oder.html.
[8] Siehe: Nick Brauns, »Wölfe
im Schafspelz«, in: http://civaka-azad.org/woelfe-im-schafspelz/.
[9] Siehe: Günter Seufert,
»Überdehnt sich die Bewegung von Fetullah Gülen? Eine türkische
Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur«, SWP-Studie
Dezember 2013, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S23_srt.pdf.
[10] Siehe: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutschland-oezdemir-fordert-transparenz-von-guelen-bewegung-14375215.html.
[11] Siehe: Bericht der
Tageszeitung Dünya, http://www.dunya.com/ekonomi/ekonomi-diger/proje-bazinda-super-tesvik-modeli-geliyor-307860h.htm
(Türkisch).