Über
die vermeintlichen Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen
Nachdem der
Putschversuch die Machtverhältnisse in der Türkei durcheinander gewirbelt hat,
versucht Erdoğan, mit Unterstützung der bürgerlichen Opposition im Inland die
strategischen Partnerschaften zu erneuern. Die Rechnung könnte durchaus
aufgehen, denn das ›erneuerte‹ Regime ist für alle Bündnispartner attraktiv.
Wer
heutzutage die Berichterstattung der Medien über die Türkei verfolgt, wird sich
des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Bundesregierung und somit Europa
dem erpresserischen Handeln eines selbstherrlichen Despoten – wie der türkische
Staatspräsident Erdoğan zuweilen bezeichnet wird – ohnmächtig gegenübersteht.
Die »erratische Regierung« (Rainer Herrmann, FAZ) sei dabei, die Türkei ins
Autoritäre abdriften zu lassen. Damit stünde die Flüchtlingsvereinbarung auf
der Kippe – »eine Vereinbarung, die dem wohlverstandenen Interesse beider
Seiten dient, wozu ausdrücklich auch die humanitären und menschenrechtlichen
Ansprüche an den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern« gehöre, so die FAZ.
Ähnliches
ist auch von kritischen Stimmen aus der Türkei zu hören: so schreibt z.B.
Behlül Özkan, dass »die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei
innerhalb eines Jahres zum Zerreißen gespannt« seien, und spricht von einem »Merkel-Erdoğan-Duell«. Dieser
Eindruck verschärft sich durch die harsche Rhetorik, gar die rassistischen
Tiraden des türkischen Staatspräsidenten gegenüber Bundestagsabgeordneten sowie
durch die kritischer werdenden Töne aus Berlin. Während der Bundestagspräsident
in »unmissverständlicher« Empörung die »Verbalattacken Erdoğans mit deutlichen
Worten zurückweist« und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin
Schulz, mit Blockade der Visafreiheit droht, tritt Hansjörg Haber, der
EU-Botschafter in der Türkei, zurück. Regierungsnahe Medien der Türkei
beleidigen Merkel mit Hitler-Vergleichen. Gute Beziehungen sehen anders aus,
müsste man meinen.
Aber sind
die Beziehungen tatsächlich so schlecht? Ist die vor mehr als hundert Jahren
geschlossene, mit beiderseitigem beharrlichem Eifer betriebene
deutsch-türkische Waffenbrüderschaft nun am Ende? Spitzt sich das Ganze
wirklich zu einem »Merkel- Erdoğan-Duell« zu? Oder ist es vielleicht nur eine
vom Störenfried Erdoğan verursachte vorübergehende Beziehungskrise? Was sind
die Gründe, die in den deutsch-türkischen Beziehungen zu solchen Verwerfungen
geführt haben?
Die
unverzichtbare Bedeutung der Türkei für das deutsche Kapital
Derselbe
deutsche ›Qualitätsjournalismus‹, der gegenüber Erdoğan mit Häme nicht spart,
ist vollen Lobes für die türkische Flüchtlingspolitik und für die geopolitische
Schlüsselposition der Türkei. Noch Ende April bedankte sich die Bundeskanzlerin
für »den allergrößten Beitrag der Türkei bei der Bewältigung der
Flüchtlingskrise«. Der EU-Ratspräsident würdigte die Türkei als »heute das
beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«,
weshalb keiner das Recht habe, »belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es
darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe kam auch vom
Bundesinnenminister, der nicht will, dass »wir der Schiedsrichter beim Thema
Menschenrechte für die ganze Welt sein« sollen, sowie vom Bundespräsidenten,
der betonte, »dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben
gefunden haben«.
Den Medien
und der verantwortlichen Politik dürfte nicht entgangen sein, dass in dem
»größten Aufnahmeland«, was ja zahlenmäßig zutrifft, Millionen Flüchtlingen
grundlegende Rechte verwehrt werden. Sie haben keinen gesicherten Zugang zu
medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen. Ihnen dürfte auch
bekannt sein, dass die Türkei »den humanitären und menschenrechtlichen
Ansprüchen an den Umgang mit Flüchtlingen« und Schutzsuchenden nachweislich
nicht genügt. Selbst das wiederholte Erschießen von Flüchtlingen an der längst
gesperrten syrisch-türkischen Grenze ist nicht mehr zu verheimlichen.
Das alles zu
ignorieren ist aber keinesfalls Ausdruck
politischer Naivität. Im Gegenteil, diese Ignoranz ist das Ergebnis strategischer
Prioritäten der Bundesrepublik, die als zentrale Ordnungsmacht in Europa den »ungehinderten
Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« (Verteidigungspolitische
Richtlinien der Bundesregierung) erhalten will. Für diese Ziele hat die Türkei
eine unschätzbare Bedeutung und in Anbetracht dessen ist für die
Bundesregierung die humanitäre Behandlung von Flüchtlingen zweitrangig, ja gar
verzichtbar.
Es genügt
ein Blick auf die Weltkarte, um die geopolitische Schlüsselposition der Türkei
zu verstehen: Sie ist die einzige Landbrücke zwischen Schwarzem Meer und
Mittelmeer, über den die Märkte, Energiequellen und Ressourcen im Kaukasus,
Nahen und Mittlerem Osten sowie in Zentralasien erreicht werden können. Sie ist
Herrin der beiden Meerengen des Marmarameeres, den die russischen
Seestreitkräfte als Zugang zum Mittelmeer und darüberhinaus benötigen. Sie ist
einer der weltweit wichtigsten Energieumschlagplätze. Das kann für die eigene »Energiediversität«,
sprich für die Unabhängigkeit vom russischen Erdgas, dienlich sein. Sie ist ein
verlässlicher NATO-Partner, der mit seiner modernisierten Militärmaschinerie
die beabsichtigte »Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens« überwachen kann.
Der militärisch-industrielle Komplex der Türkei wurde mit Hilfe deutscher
Rüstungsexporte hochgezüchtet. Als Lizenznehmerin deutscher Rüstungskonzerne
ist sie für die Umgehung der deutschen Rüstungsexportrichtlinien am besten
geeignet. Als billiger Produktionsstandort für deutsche Güter sowie als Markt
verspricht die Türkei mit ihrer jungen, aufstrebenden Bevölkerungsstruktur hohe
Profite. Und nicht zuletzt ist die Türkei das Land, dem die Aufgabe zufällt,
das »historisch beispiellose, ambitionierte, aber im schönsten Sinne eben auch
europäische Unterfangen« (FAZ), nämlich das EU-Grenzregime, aufrecht zu
erhalten.
Kurz: In der
Kontinuität der bewährten deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft wäre die
Bundesregierung die Letzte, die die Unterstützung der türkischen Regierungen
beenden würde – trotz der Schwierigkeiten mit Erdoğan. Weder die von der Bild-Zeitung
heraufbeschworene »Eiszeit« in den Beziehungen oder die gegenseitigen
Belehrungen im Zusammenhang mit der Völkermord-Resolution des Deutschen
Bundestages, noch die Forderungen einiger bundesdeutscher Regierungspolitiker »die
deutschen Tornados von der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik abzuziehen« oder
Erdoğans Vorwürfe an die deutsche Seite, dass »Deutschland aus Neid an den
Erfolgen der Türkei kurdische Terroristen unterstütze«, sollten darüber hinweg
täuschen, dass die deutsch-türkische Partnerschaft wie »ein Fels in der
Brandung« steht.
Es gibt
mehrere Tatsachen, die das belegen: Als erstes sind die deutschen Tornados in
der Türkei zu nennen. Trotz diplomatischer ›Missstimmungen‹ steht der Aufbau
eines permanenten Stützpunktes für deutsche Tornados und Airbus-Tankflugzeuge
innerhalb der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik für knapp 65 Mio. Euro
weiterhin auf der Tagesordnung. Auch wenn die türkische Regierung
Bundestagsabgeordneten den Besuch der Luftwaffenbasis verweigert hat, so ist
weder von deutscher, noch von türkischer Seite erklärt worden, dass es
irgendeine Planänderung in dieser Sache gibt. Während die AKP-Regierung die
weitere Präsenz der Bundeswehr in der Türkei nicht problematisiert, sieht das
Bundesverteidigungsministerium in dem geplanten Stützpunkt eine »solide
Grundlage für den dauerhaften Einsatz der Bundeswehr«. Ebenso wenig erkennt
General Warnecke, Abteilungsleiter Strategie und Einsatz, eine »Gefährdung der
Kooperation«, was durch die von einem deutschen Admiral in der Ägäis geführte
griechisch-türkische Mission »zur Eindämmung der Schleuser-Kriminalität« belegt
werde.
Weiterhin
steht die Bundesregierung in Sachen »Flugverbotszone in Nordsyrien«, also bei
den Bestrebungen der Türkei den Zusammenschluss der kurdischen Kantone Cizire
und Kobane mit Afrin zu verhindern, an der Seite der türkischen Regierung. Seit
Februar 2016 fordert die Bundeskanzlerin die Einrichtung einer solchen
Flugverbotszone. Für die Sicherheit einer solchen Flugverbotszone wurden seinerzeit
die deutschen Patriot-Systeme in der Türkei stationiert. Der jetzige
völkerrechtswidrige Einmarsch türkischer Streitkräfte im Verbund mit
islamistischen Gruppen wird von der Bundesregierung nicht kritisiert, obwohl
Panzer aus deutscher Produktion zum Einsatz kommen. Im Gegenteil, die Bundesregierung
drückt ausdrücklich ihre Zustimmung und »Sympathie« für die türkischen
Operationen aus. Insofern war es keiner diplomatischen Zurückhaltung
geschuldet, dass die Bundeskanzlerin in ihrem ›Sommerinterview‹ am 28. August
2016 in der ARD keinen einzigen Kritikpunkt ansprach, obwohl sie explizit dazu
befragt wurde.
Das zeigt:
Die Verwerfungen in den deutsch-türkischen Beziehungen sind nur scheinbare, mitnichten
findet ein »Merkel-Erdoğan-Duell« statt. Wie jede Kollaboration folgt der
Prozess der deutsch-türkischen Partnerschaft gewissen Regeln, in der die
Interessenlage ambivalent sein kann. Es liegt in der Natur dieser
Kollaboration, dass auch der kleinere Partner sich situationsabhängig
durchsetzen und gerade in Krisenzeiten den Takt vorgeben kann – wie in der sogenannten
Flüchtlingskrise. Das beeinträchtigt jedoch keineswegs die langfristig
ausgelegte Partnerschaft: Die gegenseitigen Abhängigkeiten bleiben erhalten [1].
In der Flüchtlingsfrage
sitzen Deutschland und die EU ohnehin am längeren Hebel. Im Umgang mit der
Flüchtlingsproblematik wird die Militarisierung des EU-Grenzregimes weiter
getrieben und eine zusätzliche Rechtfertigung für Auslandseinsätze der
Bundeswehr geschaffen. Sowohl das EU-Türkei-Abkommen als auch der »Heranführungsprozess
an die EU« sind letztlich Mittel, um strategische Interessen der deutschen
Regierung durchzusetzen. Denn, wie Günter Seufert von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik
zurecht unterstreicht, kann die Türkei als Beitrittskandidatin an der Seite der
Bundesrepublik gehalten und die außenpolitische Kooperation erleichtert werden.
Aber auch für das AKP-Regime gilt, an der Seite Deutschlands zu stehen – ohne
die Unterstützung der EU und insbesondere ohne die Zollunion mit der EU läge
die türkische Wirtschaft am Boden. Allein die wirtschaftlichen Realitäten
offenbaren eine enge Verquickung mit der BRD: Mit einem Warenwert von 13,2 Mrd.
Dollar im Jahr 2015 ist die BRD das Exportland Nummer 1 für die Türkei.
Dennoch gibt
es auch Interessenkonflikte zwischen den ›Waffenbrüdern‹. Wie die
Obama-Administration scheint auch die Bundesregierung sich eine ›AKP ohne
Erdoğan‹ zu wünschen. Die Weigerung Erdoğans, sich den strategischen Partnern
völlig zu unterwerfen und Souveränitätsrechte abzugeben, ist der Hauptgrund an
der Erdoğan-kritischen Haltung der Bundesregierung. Hinzu kommt noch das
Festhalten der Bundesregierung an der Gülen-Bewegung als »Dialog-Partner«.
Erdoğan und die AKP-Regierung wissen zu gut, dass Deutschland zu einem
logistischen Zentrum für das weltweite Gülen-Netzwerk geworden ist und die
Bundesregierung in der Gülen-Bewegung einen potentiellen Kooperationspartner erkennt.
Trotz mehrfacher türkischer Aufforderungen weigert sich die Bundesregierung
gegen die kriminelle Geheimorganisation von Fetullah Gülen vorzugehen, was
wiederum Erdoğan erzürnt.
Die
Interessenkonflikte ändern aber nichts an der Ausweitung der Kooperation
deutscher Rüstungskonzerne mit der türkischen Militärindustrie. Einige
Beispiele: Während der europäische Konzern Airbus in Kooperation mit den
türkischen Rüstungskonzernen TAI (Militärflugzeuge) und Roketsan (Raketenbau)
die Produktion in der Türkei fortsetzt, will Rheinmetall gemeinsam mit dem
staatlichen Rüstungskonzern MKEK Waffenmunition produzieren und mit dem
BMC-Konzern, der dem Erdoğan-Intimus Ethem Sancak gehört, gepanzerte Fahrzeuge
bauen. Der neue türkische Panzer »Altay« soll mit einem Dieselmotor von MTU
Friedrichshafen und einer 120 mm Glattrohrkanone von Rheinmetall ausgestattet
werden.
Die
»Neue Türkei«: außenpolitisches Desaster
Bis zum
gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 wurde Erdoğan nicht müde, die »Realität
der neuen Türkei« zu betonen und die verfassungsrechtliche Verankerung eines
Präsidialsystems einzufordern. Erdoğan sagte, dass das Land wie eine
Aktiengesellschaft zu führen sei und die Gerichte die »großen Investitionen in
die Zukunft der Türkei nicht behindern« dürften. Deshalb sei ein Präsidialsystem
»türkischer Art« das Beste für die türkische Nation. Offensichtlich war, dass
dieses Präsidialsystem nichts anderes als eine offene Diktatur sein würde, aber
nicht weil Erdoğan es so will oder sein »Team, die Welt mit Bauernschläue
bezwingen möchte« (Behlül Özkan), sondern weil die Sicherung der AKP-Macht die
Installation eines diktatorischen Sicherheitsregimes erforderlich machte.
Eine kurze
Betrachtung der Ergebnisse der türkischen Außenpolitik – zunächst als »strategische
Tiefe« und »Null-Probleme-Politik«, dann als »noble Einsamkeit« bezeichnet – verdeutlicht
dies. Nach dem Zickzack-Kurs mündete das außenpolitische Abenteuer des Regimes
in ein Fiasko. Im Telegrammstil sahen die Ergebnisse folgendermaßen aus: Niederlage
in der Syrienpolitik; Vertiefung der alten Konflikte mit Armenien, Griechenland
und Zypern; Spannungen mit dem Mullah-Regime in Iran und der irakischen
Zentralregierung; vollständiger Einflussverlust in der Palästina-Frage – weder
Israel, noch die Fatah oder Hamas vertrauen der AKP –; bei ihren Schritten im
Nahen Osten sehen die USA die Interessen des AKP-Regimes nur als zweitrangig an;
massive Konflikte mit dem größten Energielieferanten Russland und Verlust der
Einflussmöglichkeiten im Kaukasus sowie in den Ländern Zentralasiens.
Außenpolitisch
war die Türkei, abgesehen von den saudischen und katarischen Despoten,
isoliert. Folglich sah sich das Regime in einer Position der »noblen Einsamkeit«.
Offensichtlich unterlagen Erdoğan und seine AKP-Regierung dem Trugschluss, die
Krisen in Europa und der militärische Rückzug der USA aus dem Nahen Osten eröffneten
eine große Chance für die Etablierung einer neoosmanischen Hegemonie in der
Region. Diese verblendete Wahrnehmung der Machtverhältnisse und der politischen
Realitäten konnte jedoch nur für kurze Zeit überdecken, in welchem Maße die
Türkei von den USA und der EU abhängig ist.
Realitätsblind
verhielt sich das Regime mit Blick auf die Zerfallserscheinungen im Irak und in
Syrien. Ankara war davon überzeugt, dass infolge der hiermit verbundenen
Grenzverschiebungen eine durch die »türkisch-kurdische Allianz« zusätzlich
gestärkte Türkei »die Führungsposition innerhalb der sich entwickelnden
sunnitischen Achse« übernehmen könnte (Arzu Yilmaz) [2]. Weit gefehlt: Statt der
erhofften Domestizierung der kurdischen Befreiungsbewegung durch den
sogenannten »Friedensprozess« steht das AKP-Regime in Syrien nun nicht nur der
kurdischen Bewegung, sondern nahezu allen beteiligten Akteuren konfrontativ
gegenüber.
Nachdem der
Putschversuch die Machtverhältnisse in der Türkei durcheinander gewirbelt hat,
versucht Erdoğan, der die bürgerliche Opposition aus CHP und MHP als
Unterstützer gewinnen konnte, mit einem breiteren parlamentarischen Rückhalt
die strategischen Partnerschaften zu erneuern. Dafür hat er sogar – vorerst –
auf das Präsidialsystem verzichtet und ist notgedrungen bereit, die CHP und die
MHP an der Macht zu beteiligen. Die von Erdoğan angekündigte »Neustrukturierung
des Staates« kann ohne die bürgerliche Opposition nicht bewerkstelligt werden.
Gemeinsam mit seinen autoritär-kemalistischen und ultranationalistischen
Koalitionären arbeitet er daran, im Innern mit einer von einer großen
parlamentarischen Mehrheit getragenen Regierung Stabilität zu generieren und
die außenpolitische Isolation zu brechen. Damit wird auch ein neues Angebot für
die Erneuerung der strategischen Partnerschaften mit dem Westen formuliert.
Neubegründung
strategischer Partnerschaften im wechselseitigen Interesse
Die Rechnung
könnte durchaus aufgehen, denn das ›erneuerte‹ Regime ist für die nationalen
wie auch internationalen Bündnispartner attraktiv: Auf der Grundlage eines antikurdisch-nationalistischen
Konsens werden die bürgerlichen Oppositionsparteien einbezogen und zugleich die
innenpolitische Legitimität konsolidiert, die Offenheit gegenüber globalen
Kapitalflüssen wird erhalten, die neoliberale Wirtschaftspolitik forciert
umgesetzt, während die Kämpfe der Lohnabhängigen und andere Widerstände unterdrückt
werden. Es entsteht ein Regime, das mit der autoritären Regierungsführung die
erforderliche ›Stabilität‹ sichern kann und nicht davor zurückscheut, mit
paramilitärisch umgebauten Polizeikräften und der militärischen
Gewaltmaschinerie sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch, wenn nötig,
gegen die der Nachbarländer vorzugehen. Ein Regime also, das bereit ist, als
strategischer Partner und schlagkräftige Vorhut imperialistischer Mächte zu
fungieren, die Interessen nationaler wie internationaler Monopole zu schützen
und als williger Gendarm für die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zu
dienen. Und als Bonbon dazu: die geostrategisch, geopolitisch und geoökonomisch
unschätzbare Lage des Landes. Ohne Frage: Geht es um den freien Zugang zu
Märkten und Energieressourcen in der Region und um die Kontrolle der
Transportwege, spielt die Türkei eine Schlüsselrolle.
Das Regime
baut auf diese Schlüsselrolle und auf die weiterhin vorhandene Unterstützung
aus großen Teilen der türkischen Bevölkerung. Doch diese Unterstützung ist
brüchig: Die privaten Haushalte sind mittlerweile mit über 150 Mrd. Dollar
verschuldet (2003: 4,5 Mrd. Dollar), so dass im Schnitt rund 70 Prozent der
Gehälter bei den Banken verbleiben. Eine wirtschaftliche Krise, die nicht
auszuschließen ist, würde diese Unterstützung auf die Kernbasis schrumpfen
lassen. Die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 (also der ersten der beiden Wahlen
von 2015) haben das gezeigt. Die regierungsseitig geförderte gesellschaftliche
Spaltung gefährdet die innere Stabilität, was nur durch immer autoritärere
Maßnahmen gesichert werden kann.
Das
AKP-Regime hat sich in gefährliche Gewässer und größere Abhängigkeiten
manövriert. Der Putschversuch hat gezeigt, dass die AKP unter einem immensen
außenpolitischen Druck steht. Jetzt gerät die herrschende türkische Politik bei
dem Versuch, sich mit einem attraktiven ›Angebot‹ an die imperialen Mächte aus
der abhängigen Lage zu befreien, in Interessenkonflikte zwischen der
Führungsmacht USA und der Ordnungsmacht Deutschland. Wer allerdings in dieser
Konstellation erwartet, dem Regime in der Türkei werde Einhalt geboten, irrt
gewaltig. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine wachsende, den kurdischen Osten
und den türkischen Westen sowie verstreute Widerstandsherde verbindende
gesellschaftliche Gegenmacht von unten. Noch ist die Aussicht auf eine solche
Kraft gering. Aber wie heißt es doch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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[1] Zu den
deutsch-türkischen Beziehungen siehe auch: Mehmet Okyayuz; Uğur Tekiner:
Hundertjährige Allianz? Türkisch-deutsche Beziehungen im Spannungsfeld
neuer-alter Interessenpolitik. http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2016/08/hundertjahrige-allianz.html
[2] Gescheiterter
Friedensprozess und Bürgerkrieg in der Türkei. In: Wissenschaft & Frieden,
Dossier Nr. 82, Mai 2016. http://wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?dossierID=086