Von Nick Brauns / Murat Çakır
Über die Gülen-Bewegung und ihre
Verstrickung in den gescheiterten Putschversuch in der Türkei
In den bürgerlichen Medien der BRD, dem sog.
»deutschen Qualitätsjournalismus« finden sich seit einigen Jahren kritische
Berichte über das weltweite Netzwerk der Gülen-Bewegung [1]. Aber gerade nach
dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 kam die
Bewegung stärker in den Focus der Berichterstattung. Seit der Niederschlagung
der Putschisten erhebt die türkische Regierung schwere Vorwürfe gegen die
Gülen-Bewegung und fordert von den USA nachdrücklich die Auslieferung ihres
Staatsfeindes Nr. 1, des Predigers Fetullah Gülen. Auch von der Bundesregierung
erwartet die Türkei die strafrechtliche Verfolgung von Gülen-Leuten und das
Verbot deren Organisationen in der BRD. Doch die Bundesregierung verhält sich
in dieser Frage auffallend zurückhaltend und moniert stattdessen die scheinbar
seit langem geplante »Hexenjagd« des AKP-Regimes.
Inzwischen steht es außer Frage, dass die
Gülen-Bewegung in den dilettantisch vorbereiteten und in der Folge
gescheiterten Putschversuch verwickelt ist. Aber ob der 75-jährige Fetullah
Gülen der eigentliche Drahtzieher dahinter sei, erscheint als sehr zweifelhaft.
Dennoch; auch die Autoren dieser Zeilen, die sich seit Jahren mit dieser
Bewegung beschäftigen, sind von dem Ausmaß der erfolgreichen Infiltration des
türkischen Staatsapparates durch die Gülen-Bewegung überrascht. Und es wäre
aufgrund der Entwicklungsgeschichte dieser Bewegung nicht verwunderlich, dass
trotz der penibel durchgeführten Säuberungsaktionen des AKP-Regimes weitere
Gülenisten in den Apparaten des türkischen Staates weiterhin konspirativ tätig
sind.
Da in den letzten Monaten sehr viel und detailliert
über die Gülen-Bewegung publiziert wurde, wollen wir in diesem Artikel, auch um
Redundanzen zu vermeiden, uns mit folgenden Fragen beschäftigen: Was sind die
eigentlichen Hintergründe der Verwicklung der Gülen-Bewegung in den
Putschversuch? Warum schützen imperialistische Mächte, vor allem die USA und
die BRD weiterhin diese Bewegung, obwohl ihr strategischer Partner, das
AKP-Regime deren Zerschlagung fordert? Und nicht zuletzt, welche Rolle spielte
und spielt die Gülen-Bewegung in der Umsetzung von imperialistischen
Strategien?
»Segen Gottes«?
Einige Tage nach dem 15. Juli erklärte der
türkische Staatspräsident Erdoğan, dass dieser Putschversuch für sie ein »Segen
Gottes« [2] sei. Nun habe man die Möglichkeit erhalten, »die Fetullah Gülen Terrororganisation
[FETÖ] völlig zerschlagen zu können«. Im Bezug auf die
Machterhaltungsinteressen kann der gescheiterte Putschversuch durchaus als ein
»Segen Gottes« bezeichnet werden, zumal das AKP-Regime mit dem Instrument des
landesweiten Ausnahmezustandes sich von allen ihren Gegnern zu entledigen
versucht. Aber auch die faschistoide Gülen-Bewegung war für Erdoğan und seine
AKP ein »Segen Gottes«. Bis 2010 war Fetullah Gülens kriminelles Netzwerk eine
wichtige Stütze des AKP-Regimes.
Immerhin hatte die Gülen-Bewegung ein weltweit
agierendes Netzwerk von Medien, Privatschulen, Stiftungen,
Wirtschaftsunternehmen und anderen Organisationen aufgebaut und war dabei seit
40 Jahren den türkischen Staat zu infiltrieren. Antikommunistisch,
antikurdisch, rassistisch-nationalistisch und mit einem Islamverständnis, das
an Absurdität kaum zu übertreffen ist, hatte sich die Gülen-Bewegung, die nie
mit einer offiziellen Zentrale auftrat und stets im Verborgenen agierte, sich
die Aufgabe gegeben, eine »goldene Generation« aufzuziehen, die in die »Venen
und Arterien des Staates eindringen und diesen übernehmen« sollte. Noch in den
1990er Jahren sagte Gülen, »Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen,
ohne dabei bemerkt zu werden, bis ihr in alle Schaltstellen der Macht
vorgedrungen seid. (...) Ihr müsst bis zu dem Moment warten, da ihr genug seid
und die Lage reif ist, bis wir die gesamte Welt auf unsere Schultern nehmen und
tragen können. (...) Ihr müsst geduldig warten, bis ihr alle staatliche Macht
in den Händen haltet«. Seine Anhänger sollten sich »verstellen, wenn nötig im
Ramadan Raki trinken und abwarten, bis ihre Zeit gekommen ist« so Gülen weiter.
Bis dahin stellte sich die Gülen-Bewegung in den Dienst [3] verschiedener
Regierungen und konservativer Parteien gleichzeitig. So fand die Bewegung
Unterstützer wie den ehemaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel oder den
ehemaligen Ministerpräsidenten und bekennenden Laizisten Bülent Ecevit, die
sich national wie international für die Gülen-Bewegung persönlich einsetzten.
Mit der Gründung der AKP, als eine Koalition
unterschiedlicher sunnitisch-konservativer Kräfte sah die Gülen-Bewegung ihre
größte Chance für die Verwirklichung ihrer Unterwanderungsstrategie. So wurde
die Bewegung zu einem tragenden Element der AKP. Aufgrund der Tatsache, dass
die kemalistischen Eliten lange Zeit den Staatsapparat vor offen islamistisch
auftretenden Personal schützen konnten und es verhinderten, dass Islamisten
Karriere im Staatsapparat machen konnten, verfügte Erdoğan über wenig
erfahrenes Personal für die Besetzung der entscheidenden Stellen. Die
Gülenisten hatten aber schon längst in verschiedenen Ministerien und
insbesondere im Polizei- und Staatsapparat ihre Leute untergebracht. So konnte Erdoğan
seinen Feldzug gegen die kemalistischen Eliten im Staat beginnen. Gülens loyale
Verwaltungskräfte, Richter und Staatsanwälte wurden von der AKP nach und nach
an Schaltstellen gebracht. In den Entscheidungspositionen der
Kommunalverwaltungen, Ministerien, des Justizapparates, des Geheimdienstes und
der Polizei wurde das kemalistische bzw. laizistische Personal durch Gülenisten
ersetzt. Die »Zeit« für Gülen-Bewegung war gekommen und sie konnte ihr Netzwerk
ausbauen.
Die Gülen-Bewegung war für Erdoğan wirklich wie ein
»Segen Gottes«, denn mit ihrer Hilfe konnte er seinen Feldzug gegen die
Kemalisten erfolgreich führen und die seitens der USA geförderte
Neustrukturierung des türkischen Staates vollenden. Die kemalistische
Generalität und die Staatsbürokratie konnten mit Inhaftierungen, konstruierten
Straftatbeständen, sog. »Ergenekon«-Schauprozessen und Haftstrafen domestiziert
werden. Es stellte sich heraus, dass die als Gülenisten bekannten Staatsanwälte
und Richter bei Anklagen und Hafturteilen gegen die Generäle besonders eifrig
waren, so dass sogar Erdoğan sich über »unangemessene Behandlung« beschweren
musste.
Aber Erdoğan brauchte die Gülen-Bewegung gerade in
seinem Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung, insbesondere gegen den
legalen politischen Teil. Während die paramilitarisierten Spezialteams der
Polizei und der Gendarmerie, die vorwiegend von Gülenisten kommandiert wurden,
in den kurdischen Gebieten der Türkei wüteten, setzten Gülens Staatsanwälte und
Richter mit den sog. »KCK-Prozessen« die Willkürjustiz und das Feindstrafrecht
par excellence um. [4] Nach dem Verfassungsreferendum von 2010, das von Erdoğan
durchgesetzt wurde, konnte die Gülen-Bewegung ihren Einfluss im Justizapparat
gänzlich ausweiten.
Damals ließ Erdoğan die Bewegung gewähren. Erst später,
als der Machtkampf im Staat begonnen hatte, beklagte er sich: »Wir haben euch
alles gegeben, was ihr wolltet«. Inzwischen fühlte sich die Bewegung so stark,
dass sie die gesamte Macht im Staat beanspruchte. So gerieten zwei Strömungen
des politischen Islams in der Türkei, die jeweils die völlige Unterwerfung
unter ihre Macht einforderten, aneinander. Die ersten Risse zwischen den
Koalitionären waren nach dem völkerrechtswidrigen israelischen Angriff auf das
Gaza-Flottillen-Schiff »Mavi Marmara« im Mai 2010 entstanden. Der von dem
proisraelischen Rüstungslobby »Aipac« unterstützte Gülen kritisierte Erdoğan
persönlich, weil er es zugelassen und die Organisatoren ermutigt habe, ohne die
Einwilligung der israelischen Behörden eine solche Aktion zu starten. Aber die
eigentliche Krise trat im Mai 2012 zutage, als ein Gülen nahestehender
Staatsanwalt versuchte, den Geheimdienstchef Hakan Fidan zwangsweise anzuhören.
Ein wichtiger Grund dafür war die strategische
Differenz in der kurdischen Frage. Während Erdoğan und andere in der AKP keine
Probleme in der kurdischen Identität sahen – solange es um
sunnitisch-konservativen Kurden ging – und mit dem sog. »Friedensprozess« eine
»kurdisch-türkische Allianz«, die dem hegemonialen AKP-Projekt in der Region
Auftrieb geben sollte, verfolgten, sabotierte die Gülen-Bewegung mit aller
Macht den »Friedensprozess«. Die Gülen-Bewegung verfolgte ein assimilatorisches
Konzept und befürchtete durch die mögliche Annäherung der kurdischen Bewegung,
ihren Einfluss in Kurdistan zu verlieren.
Inzwischen wird in der kurdischen
Befreiungsbewegung nicht mehr ausgeschlossen, dass z. B. die Pariser Morde an
drei kurdischen Aktivistinnen, unter ihnen Sakine Cansız, eine der PKK-Gründer*innen, auf das Konto der
Gülen-Bewegung gehen. Die Bewegung hatte schon mit mehreren extralegalen
Hinrichtungen unter Beweis gestellt, dass sie über Leichen geht. Sie pflegte
enge Kontakte zur neofaschistisch-islamischen »Großen Einheitspartei« (BBP) von
Muhsin Yazıcıoğlu. [5] Es ist kein Zufall,
dass der Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink oder die Mörder der
Christen in Malatya BBP-Anhänger waren. Während BBP-Mitglieder vor allem in den
Polizeidienst gestellt wurden, wurde vor allem Mitgliedern der
BBP-Jugendorganisation »Alperenler« vorgeworfen, dass sie quasi als der
terroristische Arm der Bewegung fungieren. Diese Morde sollten die Existenz der
Geheimloge Ergenekon beweisen und die AKP spielte das Spiel gerne mit.
Erdoğans Regierung ging zum Angriff auf die
Gülen-Bewegung über und beschloss ein Gesetz, der vorsah, die privaten
Unterrichtshilfeinstitute – meist in der Hand der Gülen-Bewegung – zu
verbieten. Die Gülen-Bewegung sah das als einen Angriff auf eines ihrer Lebensader,
da diese Institute und Privatschulen zur Kaderrekrutierung benötigt wurden. Der
Konflikt eskalierte: es wurde öffentlich, dass Gülen-Leute, die der
Abhörabteilung der türkischen Polizei vorstanden, den Geheimdienstchef, Erdoğan
persönlich, den Außenminister, ausländische Botschaften sowie den Armeechef
abgehört und die Protokolle ins Ausland verschafft haben. Und am 17. Dezember
2013 platzte die richtige Bombe: bei Polizeirazzien wurden hunderte Millionen
Dollar und Euro in den Privatwohnungen von Angehörigen der AKP-Minister und
einigen Bürokraten gefunden. In den Medien wurden Abhörprotokolle und Fotos
veröffentlicht, die die Verwicklung von Ministern, Bürokraten und Unternehmern
in Korruptionen nachwiesen. Der Korruptionsskandal, in den Erdoğan, seine
Familie und mehrere seiner Minister verwickelt waren, schockierte die
Öffentlichkeit.
Die gegenseitigen Angriffe verschärften sich. Erdoğan
versuchte durch Gesetzesänderungen und Personalentscheidungen die Gülen-Leute
aus deren Ämtern zu verjagen. Die Bewegung veröffentlichte weitere Details der
Korruptionen und ließ ein Waffentransport des türkischen Geheimdienstes an die
»IS« in Syrien auffliegen. Am 25. Februar 2014 wurden Mitschnitte aus einem
Telefonat Erdoğans mit seinem Sohn Bilal veröffentlicht, in dem um das
Verschieben von mehreren Hundert Millionen Dollar ging. Die Terrororganisation
»Parallel-Staat« war geboren. Nun wurde Fetullah Gülen Staatsfeind Nr. 1 und
seine Bewegung wurde als »FETÖ« verfolgt.
Trotz der Korruptionsvorwürfe konnte Erdoğan die
Krise meistern. Ende März 2014 gewann die AKP die Kommunalwahlen und wurde mit
44 Prozent die stärkste Kraft. Durch Änderungen im »Hohen Rat der Richter und
Staatsanwälte« und weiteren Maßnahmen sowie Verhaftungen wie im Dezember 2014
sah es so aus, als ob die Gülen-Bewegung im Staat ausgeschaltet war. Die
Tatsache, dass Erdoğan trotz Gegenpropaganda Fetullah Gülens die
Staatspräsidentschaftswahlen gewann, war Anlass für in- und ausländische
Kommentare, die der Gülen-Bewegung eine Niederlage bescheinigten – diese
Ansicht wurde bis zum 15. Juli 2016 weitegehend vertreten.
Mit dem Putschversuch bekam Erdoğan eine ungeheure
Chance zur endgültigen Zerschlagung der Gülen-Bewegung, die offensichtlich die
Absicht hatte, ihn noch in der Putschnacht zu töten. Das AKP-Regime schlug mit
voller Wucht zurück. Binnen weniger Tage wurden Tausende verhaftet und
Zehntausende aus dem Staatsdienst entfernt. Es begann eine Säuberungsaktion,
die mit aller Sicherheit Monate zuvor geplant war und dazu führte, dass ein
großer Teil der Gülenisten aus den »Vene und Arterien des Staates« entfernt
wurden. Nun bekamen die Gülenisten die Auswirkungen des von ihnen selbst
installierten Feindstrafrechtes am eigenen Leibe zu spüren: die Willkürjustiz
traf sie mit der vollen Härte.
Erdoğan wandelte sich vom »Saulus zum Paulus«.
Öffentlich gab er Fehler zu und bat »Allah und die türkische Nation um
Vergebung«, weil er sich von den Gülenisten derart »täuschen« ließ. Inzwischen
haben sich die Säuberungsaktionen zu einer regelrechten Hexenjagd verwandelt.
Sogar bekennende Marxisten werden nun als »FETÖ-Unterstützer« verhaftet. Für Erdoğan
und seine AKP ist die »Terrororganisation Fetullah Gülen« zu einem wichtigen
Machterhaltungsinstrument geworden, so dass durchaus gesagt werden kann, dass
die AKP »FETÖ« hätte erfinden müssen, gäbe es sie nicht. Letztendlich kann Erdoğan
die gesamte Schuld für die verfehlte Politik auf die Gülen-Bewegung schieben
und versuchen, seine Mittäterschaft an den Verbrechen vergessen zu machen. Und
obwohl Erdoğan öffentlichkeitswirksam von den USA die Auslieferung von Fetullah
Gülen und von der BRD die der dort ansässigen Gülenisten fordert, ist es zu
offensichtlich, dass er kein großes Interesse an einer Auslieferung hat. Dem
AKP-Regime ist es dienlicher, wenn die Gülen-Bewegung im Ausland geschwächt
weiter existiert und jedes Mal, wenn unpopuläre Maßnahmen durchgesetzt werden
sollen, ein quasi »Antichrist« aus dem Hut gezaubert werden kann. Zur
Rechtfertigung der Verlängerung des Ausnahmezustandes ist die Gülen-Bewegung
ein probates Feindbild.
BRD als Logistikzentrum der Bewegung
Wie die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke mitteilt,
wurde Erdoğan gerade in Sachen »Auslieferung der Gülenisten« beim Lügen
ertappt. [6] Obwohl Erdoğan großspurige verkündet habe, dass »Deutschland,
Frankreich, Belgien und Holland die gesuchten Terroristen nicht ausliefern«,
habe die Bundesregierung nach einer kleinen Anfrage der Linksfraktion
klargestellt, dass »nach dem Putschversuch weder Fahndungs- noch
Auslieferungsersuchen zu diesem Tatversuch eingegangen« seien, so Jelpke. Das
bestätigt die Tatsache, dass Erdoğan die Gülen-Bewegung weiter als Feindbild
nutzen möchte.
Einen Nutzen hat die Gülen-Bewegung auch für die
imperialistischen Mächte – im besonderen Maße auch für die BRD. Seit fast 25
Jahren ist die Bewegung in der BRD tätig. Sie konnte innerhalb dieser Zeit ein
großes Netzwerk aufbauen, so dass sich in der BRD drei Standbeine ausmachen
lassen: Ein Bildungsnetzwerk mit dem Ziel der Gewinnung neuer Anhänger und
Kader zur Schaffung einer »goldenen Generation« für die zukünftige Weltgeltung
der Türkei als islamische Führungsmacht; Medien zur Verbreitung der Ideen der
Gemeinde und politischen Beeinflussung der türkeistämmigen Migrant*innen, aber
auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Sinne der türkisch-nationalistischen
Politik und schließlich Lobbyvereine, die eine Verankerung und damit
Absicherung der Bewegung im akademischen und politischen Milieu betreiben.
Während Gülen-Organisationen in der BRD früher
versuchten, als jeweils reicht eigenständige Vereinigungen den Eindruck
völliger organisatorischer Unabhängigkeit zu erwecken und selbst eine
Verbindung zu Fetullah Gülen verschwiegen, sind sie nach dem Putschversuch in
die Offensive gegangen und stellen sich mit Hilfe der unkritischen Behandlung
durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender als »Opfer des Diktators Erdoğan«
dar. Es sieht sehr danach aus, dass Entscheidungsträger in der Regierung und
den Medien dem Vorschlag Günter Seufert von der regierungsnahen »Stiftung
Wissenschaft und Politik« (SP) zu folgen: [7] Obwohl Seufert die Gülen-Bewegung
als »eine hierarchisch strukturierte religiöse Gemeinde [mit einer »dem Militär
ähnlichen Disziplin«] (...) die einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen
hat« bezeichnet, empfiehlt er den »Entscheidungsträgern in Deutschland (...)
nicht die Zusammenarbeit zu verweigern« und »in Deutschland für die
Zusammenarbeit mit Initiativen der Gülen-Bewegung i. d. Regel offen« zu sein.
Seufert begründet seine Empfehlung damit, »dass die Bewegung in der Diaspora –
anders als in der Türkei – kein signifikanter politischer Faktor ist und werden
kann«. Insofern könne die Gülen-Bewegung keine »Gefahr in Europa« sein – nun
für die Herrschenden sicher nicht.
So kann die Bewegung heute weiterhin mit offener
Unterstützung staatlicher Stellen in der BRD Schulen und Kindergärten eröffnen,
»Integrationspreise« erhalten und ungehindert ihr Netzwerk ausbauen. Dabei wird
sie von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen berechtigte Kritik, die
inzwischen auch von einigen bürgerlichen Medien geäußert wird, verteidigt.
Übrigens, die Gülen-Bewegung hat derzeit kein großes Interesse daran, in der
BRD »ein signifikanter politischer Faktor« zu werden. Der Bewegung geht es in
erster Linie darum, das weltweite Netzwerk von der BRD aus logistisch zu
unterstützen. Dafür nehmen die Gülenisten es hin – sowohl in der BRD als auch
in der USA – unter strenger Kontrolle der Geheimdienste gestellt zu werden.
Welche Rolle spielt die Bewegung
überhaupt?
Die unkritische Behandlung der Gülen-Bewegung durch die
bürgerlichen Medien oder Persönlichkeiten in der BRD hat keineswegs etwas mit
politischer Naivität zu tun. Im Gegenteil, gerade der militärisch-industrielle
Komplex der BRD hatte die »Dienste« der Bewegung gerne angenommen, wenn es um
Rüstungsexporte und militärische Zusammenarbeit ging. Jetzt, wo die Bewegung
weder in der türkischen Politik, noch in der Wirtschaft über Einfluss verfügt,
wird sie nicht benötigt – aber weiterhin als Ersatzkraft unter Kontrolle
gehalten. Immerhin hat die Gülen-Bewegung seit Jahrzehnten unter Beweis
gestellt, wie zuverlässig sie die Interessen imperialistischen Mächte
verteidigte und als schlagkräftige Vorhut westlicher Geheimdienste tätig war.
Die Tatsache, dass diese faschistoide Bewegung als
Vorfeldorganisation der westlichen Geheimdienste, insbesondere der CIA seit
langem tätig ist, wurde mit zahlreichen Veröffentlichungen nachgewiesen. Sei es
durch Wikileaks-Veröffentlichungen, sei es durch die vielen Veröffentlichungen
der Whistleblowerin und ehemalige FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds [8] ist es
bekannt, dass die Gülen-Bewegung von der CIA zur Destabilisierung Russlands und
Eindämmung des chinesischen Einflusses in Zentralasien eingesetzt wurde. Edmonds
schrieb schon 2008, dass die Gülen-Schulen »den CIA- und
US-State-Department-Mitarbeitern als Operationsbasen für geheime Operationen in
den jeweiligen Regionen« dienten. Auch der ehemalige Regional-Chef des
türkischen Geheimdienstes MIT, Osman N. Gündeş wies in seinem Buch darauf hin,
dass die Gülen-Bewegung »alleine in Kirgisistan und Usbekistan 130 CIA-Agenten,
die mit Diplomatenpässen ausgestattet waren, untergebracht« hat. [9] Gündeş war einer derjenigen türkischen Geheimdienstler,
der in den 1990er-Jahren die Ausbreitung der Gülen-Schulen in Aserbaidschan,
Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Turkmenistan und Usbekistan auf
Anordnung des damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel begleitet hatte.
Demirel selbst hatte seine Kollegen in den ehem. Sowjetrepubliken persönlich
angeschrieben und um Unterstützung für die Schulen der Gülen-Bewegung gebeten.
Innerhalb einiger Jahren breiteten ich die Gülen-Schulen, somit die
Operationsbasen der CIA aus – bis 2002 der Direktor des russischen
Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolai Patrushev eingriff und nach und nach
sämtliche dieser Schulen sowie ab Frühjahr 2008 auch alle weiteren Aktivitäten
der »Nurcu-Bruderschaft« in Russland verboten wurden. Die Turkstaaten folgten
diesem Beispiel und haben die Gülen-Schulen wegen »destruktiver Aktivitäten«
verboten.
Auch im Nahen Osten und in Afrika war die
Gülen-Bewegung für westliche Geheimdienste tätig. Insbesondere im Nordirak hat
die Gülen-Bewegung als Wegbereiter für das türkische Kapital fungiert und mit
über 30 Schulen, Fernsehsendern und zahlreichen Unternehmen ihren Einfluss
innerhalb der Kurdischen Autonomieregion in Nordirak erweitert. Während die
Vertreter der Gülen-Bewegung sich in Südkurdistan jahrelang wie »Botschafter
der Türkei« verhielten, haben andere Gülenisten in verschiedenen afrikanischen
Staaten die Eröffnung von Auslandsvertretungen der Türkei organisiert.
Sämtliche Aktivitäten folgten dem gleichen Schema: Eröffnung von Schulen, die
vor allem Kinder von Regierungsmitglieder unterrichten, Investitionsgespräche
mit der Gülen-nahen Unternehmensverband TUSKON, Einsatz von CIA-Mitarbeitern
als Englischlehrer, Organisierung von Türkisch-Olympiaden etc. Wie wichtig
Fetullah Gülen und seine Organisation der CIA war, belegt die Tatsache, dass
hochrangige CIA-Mitarbeiter gegen die Widerstände des FBI und des
Heimatschutzministeriums der USA für Gülen eine Green Card organisieren
konnten.
Inzwischen haben viele Länder erkannt, dass die
Gülen-Bewegung eine CIA-Vorfeldorganisation ist und ihre nationalen
Sicherheitsinteressen bedroht. Deshalb werden ihre Schulen geschlossen und ihre
Aktivitäten verboten. Auch Erdoğan ist sich bewusst, dass die ehemaligen
Koalitionäre nun seine Hauptfeinde geworden sind. Dazu hat aber Erdoğan vieles
selbst beitragen: Erdoğan setzte auf »falsche Pferde« - so z.B. als er mit
seiner Israelkritischen Rhetorik zu weit ging. Erdoğan weigerte die
vollständige Unterwerfung und die Abgabe der staatlichen Souveränität. Erdoğan
drohte damit, chinesischen Firmen Rüstungsaufträge zu vergeben und machte
Avancen für die Mitgliedschaft in der »Schanghaier Organisation für
Zusammenarbeit« (SOZ). Die Türkei ist das einzige NATO-Mitglied, das
gleichzeitig eine Dialogpartnerschaft mit der SOZ unterhält. Und schließlich
das außenpolitische Fiasko der Türkei. Die verblendete Wahrnehmung der
Machtverhältnisse und der Realitäten in der Region durch das AKP-Regime,
missfällt dem Westen. Sowohl die USA als auch die BRD haben deutlich gemacht,
dass sie eine »AKP ohne Erdoğan« wollen. Die Gülen-Bewegung dient weiterhin für
dieses Ziel als Handlanger.
Günter Seufert mag rechthaben, wenn er feststellt,
dass die Gülen-Bewegung für Europa »keine Gefahr darstellt«. Eine Gefahr stellt
jedoch die Gülen-Bewegung weiterhin für türkeistämmige und kurdische
Oppositionelle in Europa. Es ist bekannt, dass neben den rund 6.000 türkischen
Geheimdienstlern, auch ehemalige Kommandeure der Spezialkräfte der türkischen
Polizei, die als Mörder und Folterer bekannt sind, in der BRD Asyl beantragt
haben. Es ist höchst suspekt, dass gerade diese ehemaligen Offiziere zeitgleich
den Kontakt zu kurdischen und türkischen kriminellen Kreisen suchen.
Vertreter*innen von kurdischen Organisationen in Europa haben kürzlich die
Öffentlichkeit davon unterrichtet, dass Mordkommandos in die BRD geschickt
wurden und Aufklärung verlangt. Aufgrund der Tatsache, dass die Gülen-Bewegung
in zahlreiche extralegale Hinrichtungen verwickelt ist, ist es nicht von der
Hand zu weisen, dass zu gegebener Zeit gegen türkische oder kurdische
Oppositionelle in Europa Anschläge verübt werden können. Das alleine zeigt die
Gefährlichkeit dieser faschistoiden Vorfeldorganisation westlicher
Geheimdienste.
***
[1] Siehe: Murat
Çakır, »Die Pseudodemokraten – Türkische Lobbyisten, Islamisten, Rechtsradikale
und ihr Wirken in der Bundesrepublik«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000
(vergriffen). Siehe auch: http://www.kozmopolit.com/haziran03/Dosya/Dosya.html
sowie die Hintergrundberichte von Nick Brauns: http://www.nikolaus-brauns.de/html/gulen.html.
[2] Siehe auch: Errol
Babacan, »Der fingierte Putsch – Gottes Segen«, in: Infobrief Türkei,
http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2016/07/der-fingierte-putsch-gottes-segen.html.
[3] Die
Gülen-Bewegung wird auch »Hizmet«-Bewegung genannt. »Hizmet« bedeutet auf
Deutsch »Dienst«. Damit wird suggeriert, dass es ein »Dienst« für die Religion,
für Gott, aber gleichzeitig ein »Dienst« zugunsten der Muslime und insbesondere
für den Aufbau einer türkisch-muslimischen Elite ist.
[4]
Siehe auch: Murat Çakır, »Normalzustand in der ›demokratischen‹ Türkei:
Willkürjustiz«, in: http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2012/01/normalzustand-in-der-demokratischen.html.
[5]
Muhsin Yazıcıoğlu, war BBP-Vorsitzender und starb am 25. März 2009 bei einem Hubschrauberabsturz.
Die Absturzursache ist immer noch ungeklärt, so dass BBP-Anhänger von einem
gezielten Mord sprechen.
[6]
Siehe: Ulla Jelpke, »Erdogan beim Lügen ertappt«, in: junge Welt vom 1. Oktober
2016.
[7]
Günter Seufert, »Überdehnt sich die Bewegung von Fetullah Gülen? Eine türkische
Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur«, SWP-Studie,
Berlin Dezember 2013.
[8]
Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Sibel_Edmonds und http://www.boilingfrogspost.com/category/sibel-edmonds/.
[9] Osman
Nuri Gündeş, »İhtilallerin ve Anarşinin Yakın Tanığı« (Der nahe Zeuge der
Revolutionen und der Anarchie), Istanbul 2010, ISBN 6058819207.