Referat auf der Konferenz im Hessischen Landtag, Wiesbaden, 29. Januar 2011, Veranstaltet von der Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag.
Ich möchte mich, da ich die Aufgabe habe, die aufgrund der Verhinderung von Prof. Dr. Birgit Ammann entstandene Lücke zu füllen, möglichst um eine kurze Erläuterung bemühen. Sicher werden wir heute im Laufe der Konferenz und dessen spannenden Verlauf viele interessante und wichtige Details in Erfahrung bringen können.
Beginnen möchte ich mit einer Feststellung von Frau Prof. Dr. Ammann, die sie auf der Berliner Konferenz in 2009 zu diesem Thema gemacht hatte: Sie wies daraufhin, dass es häufig so ist, dass »mit der Konstruktion einer möglichst großen Anzahl kurdischer MigrantInnen die Hoffnung verbunden würde, Anerkennung zu erfahren«. Ihr Standpunkt dazu: »man muss nicht eine große Gruppe sein, um respektvoll und unter Wahrung der Menschenrechte anständig und gut behandelt zu werden. Also: auch wenn nur 8.000 KurdInnen hier leben würden, wäre es angemessen, sie und ihre Identität anzuerkennen und sie respektvoll zu behandeln«.
In der Tat; es geht keineswegs darum, den KurdInnen etwa Almosen zu geben. Sondern es geht schlicht und einfach um die Gewährung von Rechten, die einem jeden Menschen von Geburt an zustehen: Selbstbestimmt zu leben; der eigenen Muttersprache, der Kultur und Geschichte bewusst zu werden und diese den nachfolgenden Generationen vererben zu können; sich frei und gleichberechtigt, fern jeder Repression und entmündigenden Paternalismus entfalten zu können; Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit zu genießen; sich zu organisieren und ohne Beschränkungen frei bewegen zu können. Als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu partizipieren.
Eben ein Leben in Würde zu gestalten. Für viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit, ein verfassungsrechtlich geschütztes Grundrecht. Wenn aber ein Teil unserer Gesellschaft von Grundrechten ausgeschlossen bleibt, so werden diese Rechte keine echten Rechte mehr. Ein Umstand, welches von den demokratischen Gesellschaften nicht mehr hingenommen werden darf.
Frau Prof. Dr. Ammann ist ohne weiteres zuzustimmen. Aber ich möchte hinzufügen, dass die Zahl der kurdischen MigrantInnen kein unwesentlicher Faktor ist – weil alleine die Tatsache, dass die unterschiedliche Nennung der Zahl von KurdInnen in unserem Land auf die defizitäre und – wenn wir den Art. 1 GG wirklich ernst nehmen – diskriminierende Behandlung hinweist.
Nun, unabhängig der exakten Zahl sind alle Informierten der gleichen Auffassung, dass die Zahl der KurdInnen in Deutschland Hunderttausende – in Hessen Zehntausende – beträgt- Wie ist es aber dazu gekommen, das ist die Frage des ersten Teils dieser Konferenz.
Prof. Dr. Ammann spricht davon, dass bereits vor 100 Jahren, zwar eine kleine aber interessante Gruppe von kurdischen Männern in Deutschland gelebt habe. Das interessante an ihnen sei, dass sie sich nicht über ihre »unterschiedliche Staatsangehörigkeiten, sondern über ihr Kurdischsein definiert« hätten. Wie es scheint, hatten sie damals den Pesthauch des künstlichen Konstrukts des Kapitalismus, nämlich des Nationalstaates und der »Nation« an sich noch nicht geatmet.
Eben dieser Pesthauch war es – und ist es heute noch –, der zu der Tragödie des kurdischen Volkes in ihrer anatolisch-mesopotamischen Heimat und darüber hinaus geführt hat. Daher war es kein Zufall, als eine größere Gruppe von kurdischen StudentInnen in den fünfziger Jahren in Deutschland, sich »sowohl ethnopolitisch artikuliert als auch organisiert haben« (Ammann). Es war ein Ausdruck des Bewusstwerdens der eigenen Identität, die sicherlich mit der Entwicklung in Südkurdistan zu tun hatte.
Ich muss einräumen, dass in Zusammenhang mit der heutigen Konferenz durchaus die Kritik erhoben werden könnte, warum die meisten kurdischen ReferentInnen eher aus Nordkurdistan, also aus dem Staatsgebiet der Republik Türkei sind. Ohne irgendeinen Unterschied zwischen KurdInnen unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten machen zu wollen, möchte ich als einer derjenigen, die diese Veranstaltung vorbereitet haben, auf die Tatsache hinweisen, dass inzwischen über 80 Prozent der KurdInnen in Hessen aus dem Staatsgebiet der Republik Türkei stammen und über größere Selbstorganisationen verfügen. Aber die jetzt zu beantwortende Frage ist, wie es dazu kam?
Bekanntlich begann die Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre durch staatliche Anwerbeverträge »Gastarbeiter« aus verschiedenen Drittstaaten ins Land zu holen. Damit wollte man den Arbeitskräftemangel, die damals entstanden war, kompensieren. Die Geschichte ist bekannt: sie waren »Gäste« und daher kümmerte sich niemand um deren soziale, kulturelle oder sonstige Probleme und Bedürfnisse.
Der deutsch-türkische Anwerbevertrag von 1961 hatte auch zur Folge, dass viele KurdInnen, um es mit Prof. Dr. Ammanns Worten zu sagen, »unbemerkt« zuwanderten. Sie waren Staatsangehörige der Republik Türkei und ihre kurdische Identität wurde kaum thematisiert. Nicht weil sie es abgelegt hätten, sondern weil im Herkunftsland das »Kurdischsein« Repressalien und Gefahr für Leib und Leben bedeutete. Die Losung »Wie Glücklich ist derjenige, der sagen kann, ich bin Türke« war nicht nur zutiefst rassistisch, sondern zugleich ein Synonym für die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen in einem Land, in den Militärputsche, Kollektivstrafen, Sippenhaft, Zwangsumsiedlungen und gar Massenmord als Staatsgewalt verstanden wurde.
Daher ist es mehr als verständlich, dass KurdInnen ihre Identität damals kaum erwähnten. Nun lebe ich seit mehr als 40 Jahren in Hessen und kann aus eigener Erfahrung meines Umfelds sagen, dass für die sog. erste Generation der KurdInnen damals die Verbesserung ihrer sozialen Lage, somit ihrer daheimgebliebenen Familienangehörigen die höchste Priorität hatte. Aufgrund der tragischen Erfahrungen aus der Geschichte der modernen Türkei hatten sie gute Gründe, ihr »Kurdischsein« nicht öffentlich zu artikulieren.
Ohne Zweifel kann man von einer verunsicherten und traumatisierten Generation sprechen. Wie hätte es sonst sein sollen? Die anatolisch-mesopotamische Region gleicht einem Völkerfriedhof – noch waren die Erinnerungen an den armenischen Völkermord, der Vertreibung von anatolischen Griechen, Assyrern, Aramäern und die mehrfach blutig niedergeschlagenen kurdischen Aufstände viel zu frisch. Erst ein Jahr vor dem Anwerbeabkommen mit Deutschland hatte das Militär die Macht gewaltsam an sich gerissen. So auch in 1970 und 1980.
Sowohl die Eltern, als auch deren als »Gastarbeiter« ausgewanderten Kinder verdrängten ihre Identitäten. Doch der 1973 erlassene Anwerbestopp verstetigte die Arbeitsmigration. Über Familiennachzug wuchs die Zahl der kurdischen MigrantInnen insgesamt. Die jüngeren Generationen politisierten sich. Die Politik der türkischen Entscheidungsträger und ihre Zwangsassimilierungsversuche führten zu Widerständen. Im Zuge der politischen Kämpfe der 1970er Jahre schlossen sich immer mehr MigrantInnen in Selbstorganisationen zusammen. Immer mehr kurdische MigrantInnen wurden ihrer eigenen Identität und der Möglichkeiten, diese auszuleben bewusster. Der Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei sowie die rasanten Entwicklungen im Iran, Irak und Syrien führten dazu, dass nun aus allen Ecken Kurdistans Menschen nach Europa kamen.
Wirtschaftliche Not, politische Verfolgung und die pure Lebensgefahr verstärkte die Auswanderung und in Folge dessen, die Zahl der kurdischen MigrantInnen und Flüchtlinge in Europa, Deutschland und in Hessen.
Der Befreiungskampf der kurdischen Befreiungsbewegung und die – zwar vermeintlichen, aber immerhin viel besseren – Freiheiten in der Diaspora gaben neue Impulse und Möglichkeiten für die Entfaltung der kurdischen Identität. Prof. Dr. Ammann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass »unter den Zugewanderten keine andere Gruppe gibt, die in den wenigen Jahrzehnten einen derartigen Wandel ihrer ethnischen Identität und ihres Bewusstseins, ihrer Selbstwahrnehmung durchlaufen haben, die mit der kurdischen Entwicklung vergleichbar wäre«.
In den letzten Jahren wurde diese Entwicklung von den Veränderungen in ganz Kurdistan geprägt. Während im Iran heute noch KurdInnen alltäglich hingerichtet werden und die Repressionspolitik Syriens gegen die eigene kurdische Bevölkerung sich immer mehr verschärft, ist im Nordirak, also Südkurdistan ein Autonomiegebiet entstanden. Selbst wenn aus linker Sicht die Politik Messud Barzanis und auch der Partei des irakischen Präsidenten, Celal Talabani zu recht zu kritisieren ist, haben KurdInnen dort die Möglichkeit in der Muttersprache zu studieren, staatliche Dienstleistungen zu erhalten und ihre eigene Identität auszuleben.
Doch die maßgeblichere Entwicklung für die kurdische Identität ist in Nordkurdistan zu beobachten. Trotz des schmutzigen Krieges der türkischen Armee, trotz tausendfachen Leids hat sich dort eine kurdische Bewegung etabliert, die die kurdische Bevölkerung und die Demokraten der Türkei beflügelt. Sie stellen Parlamentsabgeordnete, BürgermeisterInnen; führen demokratische Rätestrukturen ein und drängen das militärische Vormundschaftsregime zu Veränderungen. Die friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage ist zum Schlüssel wesentlicher Probleme des Landes geworden. Die kurdische Bewegung, die vor allem eine Bewegung der Armen und Frauen ist, reißt feudale Strukturen nieder und lässt überall neue Freiheitsräume entstehen. Trotz Verbote ist die Mehrsprachigkeit in den kurdischen Gebieten ein de facto Zustand geworden. Selbst die Verhaftungen von kurdischen PolitikerInnen, AktivistInnen und gar von minderjährigen Kindern scheinen diesen Trend nicht aufhalten zu können.
Auch im Westen des Euphrats wird die Notwendigkeit einer neuen, demokratischen Verfassung von immer mehr Menschen artikuliert und gefordert. Sogar in kemalistisch-nationalistischen Kreisen wird die Anwesenheit des kurdischen Volkes und anderen Minderheiten nicht mehr geleugnet. Die Bezeichnung »Bergtürken« ist von den KurdInnen selbst für immer aus dem türkischen Sprachgebrauch getilgt worden.
Nun ist – freilich aus der Sicht der Herrschenden – die »Büchse der Pandora« geöffnet worden. Doch was raus kommt, ist der nicht mehr zu brechende Freiheitswille des kurdischen Volkes und die Hoffnung auf eine andere, bessere Türkei. Noch ist zwar nicht entschieden, ob die türkischen Machthaber den Weg der Demokratisierung oder der bisherigen unsäglichen Politik gehen werden, aber für die KurdInnen steht eines fest: ein Zurück wird es nicht geben. Unabhängig davon, wie man zu seiner Politik stehen mag, an dieser Entwicklung hat der im Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan einen maßgeblichen Anteil.
Doch die heutzutage praktizierte Politik in Deutschland steht der neuen Phase in den kurdischen Gebieten und der Entwicklung der kurdischen Identität hierzulande diametral entgegen. Das Leben der kurdischen MigrantInnen wird auch in Hessen von Ge- und Verboten bestimmt. Regierungsamtlicher Willkür, Ignoranz der kurdischen Identität, Organisations- und Betätigungsverbote, Verhaftungen und die Ablehnung jeglicher Partizipation an politischen Entscheidungsmechanismen stehen auf der Tagesordnung. Während selbst in der Türkei das Staatsfernsehen 24 Stunden in Kurdisch sendet und – mit vielen Auflagen – privat Kurdischunterricht ermöglicht wird, werden kurdischsprachige Medien hier verfolgt und verhallen die Forderungen nach muttersprachlichen Unterricht an den Wänden der Regierungsgebäuden.
Womit wir wieder am Anfang wären: Einen Teil unserer Bevölkerung werden Grundrechte vorenthalten, ihre soziale, kulturelle, rechtliche und politische Eingliederung verunmöglicht, ihre Anwesenheit regierungsamtlich ignoriert und im Verwaltungshandeln tabuisiert. Anstatt dessen wird aus rein wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen heraus, die Innenpolitik in Deutschland mit dem der türkischen Machthaber gleichgeschaltet.
Daher ist es an der Zeit, gar überfällig, dass wir uns wieder daran besinnen, dass eine Gesellschaft, welche die Unfreiheit eines ihres Teiles hinnimmt, niemals selbst richtig frei sein kann und so gesehen, dass das streiten um die Rechte der kurdischen MigrantInnen im Grunde genommen nichts anderes bedeutet, als für die eigenen Rechte und Freiheiten zu streiten.
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Europa und auch Deutschland historisch wie gegenwärtig an der Tragödie des kurdischen Volkes eine Mitverantwortung tragen. Wenn mit Waffen und Gerätschaften aus deutscher und europäischer Produktion das kurdische Volk unterdrückt wird, wenn Regierungen aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen undemokratische Regime unterstützen und gleichzeitig den Flüchtlingen aus diesen Ländern undurchdringliche Mauern hochziehen; wenn politische AktivistInnen fernab jeglichen rechtstaatlichen Prinzipien mitten in Europa inhaftiert und abgeschoben werden; wenn Völkerrecht zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen mit Aggressionskriegen durchlöchert wird, dann ist Widerstand gegen eine solche Politik die erste staatsbürgerliche Pflicht.
Lassen Sie uns heute, hier in diesem hohen Hause unsere Stimme erheben für die Werte und zivilisatorischen Errungenschaften, die unser Grundgesetz zu dem machen, was sie ist. Damit auch die Würde der kurdischen MigrantInnen unantastbar wird, gemeinsam Lösungsansätze aufzeigen, Alternativen entwickeln, uns einmischen, versuchen mitzugestalten. Und wenn die heutige Konferenz nur ein Anfang in Hessen sein sollte, dann wird sie einen wichtigen Beitrag dafür geleistet haben.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.