Freitag, 21. Juni 2013

Wut und Widerstand


Über die Hintergründe des Aufstandes gegen Erdoğan
»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«
Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, 1852
Symbolischer hätte die Eskalation der Polizeigewalt in der Türkei nicht sein können: Just am 43. Jahrestag des großen ArbeiterInnenaufstands vom 15. und 16. Juni 1970 ließ Erdoğan am 16. Juni 2013 die geballte Staatsgewalt gegen die Protestierenden im Istanbuler Gezi-Park vorgehen.
Es sollte ein Exempel statuiert werden. »Die Ordnung ist wieder hergestellt«, erklärte der Gouverneur von Istanbul, während seine Polizisten und die inzwischen zur Hilfe geeilte paramilitärische Gendarmerie in verschiedenen Stadtteilen von Istanbul mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten vorgingen. Aber nicht nur in Istanbul, sondern in nahezu allen Städten war das gleiche Bild zu sehen.
Dabei hatte Erdoğan persönlich einige der Protestierenden empfangen und ihnen zugesichert, vor weiteren Schritten den angekündigten Gerichtsbeschluss abzuwarten. Doch die Polizei griff genau an dem Zeitpunkt an, in der das Gezi-Park-Komitee über das Aufräumen und die Aufgabe der Besetzung diskutierte. Die Folge waren bürgerkriegsähnliche Szenen, Hunderte Verletzte und 455 Verhaftungen – alleine in Istanbul. Marodierende und mit Stöcken sowie Messern bewaffnete AKP-Anhänger griffen Menschen an, die nach Hause zurückkehren wollten, und terrorisierten ganze Stadtteile.
Was als Protest gegen ein renditeträchtiges Bauvorhaben begann, hatte sich zu einer großen Protestbewegung entwickelt, deren Spontaneität in der jüngsten Geschichte der Republik einmalig ist. Trotz der exzessiven Polizeigewalt seit dem 29. Mai 2013, trotz des Totschweigens derselben durch die gleichgeschalteten Medien und die Regierungspropaganda – die binnen Minuten durch Live-Berichterstattung der sozialen Medien als Lügen entlarvt wurde – konnte die Regierung der Ereignisse nicht Herr werden. Es waren Tage des Widerstandes, und die Menschen schrieben ihre Geschichte selbst. Doch die Bilanz am Morgen des 17. Juni war erschütternd: Vier Tote, 56 Schwerverletzte, davon sechs lebensgefährlich, ca. 7.900 Verletzte und Hunderte Verhaftete, darunter viele JournalistInnen.
Aus der Empörung über die Polizeigewalt und über die konfrontative Regierungsreaktion wuchs die Wut – und der friedliche Protest entwickelte sich zum Widerstand gegen das System Erdoğan, der sich über das ganze Land verteilte. Wie konnte es dazu kommen? Wer sind diese Menschen, die z.T. das erste Mal auf die Straße gehen? Was wollen sie und was ist noch zu erwarten?
Der Kampf findet auf geschichtsträchtigem Boden statt
Der Gezi-Park am Taksim-Platz war zwar nur der Anlass der Proteste, ist aber, wie der Taksim-Platz überhaupt, mit der Geschichte der Türkei fest verbunden. Als die Regierungspläne über den Kahlschlag des Parks durch einen Neubau bekannt wurden, bildeten kritische StadtplanerInnen vor ca. zwei Jahren eine Initiative. Die Regierung hatte vor, dort eine 1940 niedergerissene Kaserne maßstabsgetreu wieder zu errichten und ein Einkaufszentrum sowie mehrere Luxusresidenzen zu bauen.
Dieser Plan wurde als „neo-osmanischer Revanchismus“ abgelehnt. 1806 hatte der Sultan dort die »Halil-Pascha-Kaserne« bauen lassen, die während des Aufstandes am 31. März 1909 teilweise zerstört wurde. Die Kaserne war auf dem vordersten Teil eines armenischen Friedhofs gebaut. Seit der Pestepidemie von 1560 hatten Istanbuler Armenier dort ihre Toten bestattet. Die rund 850.000 qm große Fläche beherbergte zudem ein armenisches Krankenhaus und eine armenische Kirche. Nach 1865 wurden Teile des Friedhofs von der Stadtverwaltung gekauft und während des armenischen Völkermords von 1915 gänzlich konfisziert. 1940 wurde die Kaserne niedergerissen und nach den Plänen des französischen Stadtplaners Henri Prost entstand der erste Stadtpark der Türkei. Die alten Grabplatten wurden bei dem Bau der Marmortreppe als Baumaterial genutzt. Heute stehen auf dem Friedhof ein Militärmuseum, das staatliche Funkhaus, der Gezi-Park und mehrere Luxushotels.
Aber auch der Taksim-Platz hat eine große Bedeutung – insbesondere für die Gewerkschaftsbewegung. Dort fanden bis 1978 die massenhaften 1. Mai-Kundgebungen statt. Und dort starben ArbeiterInnen: Am ersten Mai 1977 wurde die Demonstration mit rund 500.000 TeilnehmerInnen von Geheimdiensten beschossen. Es brach Panik aus und die Massen versuchten in die engen Gassen zu fliehen. Dabei starben 34 Menschen. Diese 1. Mai-Kundgebung war übrigens eine der offiziellen Begründungen der Machtübernahme durch das Militär am 12. September 1980.
Die neoliberal-islamistische Ära der AKP
Der Taksim-Platz war den Islamisten immer ein Dorn im Auge. Lange bevor Erdoğan als Ministerpräsident an die Macht kam, als er noch Bürgermeister von Istanbul war, hatte er seine Absicht von der Umgestaltung des Platzes kundgetan. Eine große Zentralmoschee anstelle des Atatürk-Kulturzentrums war über Jahre sein erklärtes Ideal.
Doch dieses Ideal konnte er nie verwirklichen. Seine Agenda war nun eine andere: die Erringung der absoluten Macht im Lande. Die erste AKP-Regierung kam nach der verheerenden Wirtschaftskrise von 2001 an die Macht. Sie war mit den Vorschusslorbeeren ihres Demokratisierungsversprechens ausgestattet und erntete die Früchte der Konsolidierungsmaßnahmen der Vorgängerregierung.
Im Unterschied zu den bisherigen konservativen Regierungen schaffte es die AKP, u.a. mit ihrem scheinbaren Kampf gegen die kemalistische Generalität, breite Bevölkerungsschichten an sich zu binden. Gleichzeitig sicherte sie sich dank ihrer rigorosen neoliberalen Umbaupolitik und ihrer Fähigkeit, für einen steten Zufluss ausländischen Kapitals sorgen zu können, die Unterstützung unterschiedlicher Kapitalfraktionen. Der Heranführungsprozess an die EU, das Versprechen, den kurdisch-türkischen Konflikt endgültig lösen zu wollen, und die gefühlte Teilnahme am Wirtschaftswachstum, welches vor allem durch die immense Verschuldung der privaten Haushalte finanziert wurde, führten zu einer Wahlunterstützung, die der AKP zwei Wiederwahlen in 2007 und 2011 sicherstellte.
Ohne Frage; diese Unterstützung war nicht ohne innere Widersprüche und konnte nie alle Bevölkerungsschichten umfassen. Während die Zahl derer, die die Auswirkungen der neoliberalen Regierungspolitik, aber auch der neoliberal-islamistischen Kommunalpolitik ertragen mussten, wuchs, wurde die repressive Seite der AKP-Hegemonie immer stärker sichtbar – insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010, mit dem die AKP-Regierung ihre absolute Kontrolle über den Justizapparat sicherstellen konnte
In den kurdischen Gebieten war sie ohnehin Alltag. Der schmutzige Krieg, Massenverhaftungen, die beispiellose Unterdrückung hatten der kurdischen Bevölkerung sehr früh das wahre Gesicht der AKP offenbart. Aber der Wohlstandschauvinismus und die nationalistische Staatsideologie schienen die Menschen im Westen demgegenüber blind gemacht zu haben.
JedeR zweite WählerIn hatte die AKP gewählt. Beim letzten Referendum hatte die AKP sogar 58 Prozent Zustimmung erhalten. Jetzt zeigte sich das arrogante und autoritäre Gesicht. Der Justizapparat und die Medien sind nahezu gleichgeschaltet. Proteste gegen die Regierung wurden mit brutaler Gewalt bekämpft. Zahlreiche Protestierende verloren ihr Leben. Willkürjustiz und ein »Feindstrafrecht« par excellence führten dazu, dass Zehntausende, darunter gewählte PolitikerInnen, GewerkschafterInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen, mit konstruierten Beschuldigungen ins Gefängnis gesteckt wurden.
Überall im Land machte sich Unmut breit über Privatisierungen, den Bau von Wasser- und Atomkraftwerken, über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel, Repression im Bildungswesen und insbesondere über den regierungsamtlich erklärten Krieg gegen die säkulare Lebensweise in den urbanen Zentren. Das Massaker von Roboski an der türkischen Ostgrenze Ende 2011, wo 34 Bauern von türkischen Kampfjets getötet wurden, war in der Öffentlichkeit ein Fanal – obwohl es von den regierungsnahen Medien lange Zeit totgeschwiegen wurde.
Dazu kam die regionalimperialistische Außenpolitik, deren Auswirkungen verheerend waren. Die Unterstützung islamistischer Terrorgruppen durch die Regierung wurde heftig kritisiert. Die toten Zivilisten in Akçakale, der Bombenanschlag in Antep und zuletzt der Anschlag in Reyhanli an der Grenze zu Syrien mit zahlreichen Toten und Zerstörungen erfüllten die Menschen mit Zorn. Die Polizeigewalt am 1. Mai diesen Jahres und das Verbot des symbolträchtigen Taksim-Platzes für Gewerkschaftsaktionen waren die jüngsten Wegbereiter für den Aufstand. Der kurdische Widerstand hatte den Menschen gezeigt, dass die Herrschenden nicht unbezwingbar sind. So waren die Bäume im Gezi-Park nur noch ein letzter Anstoß für die jetzigen Ereignisse.
Der Protest und die soziale Frage
In den westlichen Medien wurden bisher in Bezug auf die Türkei immer die »wirtschaftlichen Erfolge« der AKP-Regierung hervorgehoben. Der »gemäßigte« Islam sei zudem der »Kitt«, mit dem die Gesellschaft zusammengehalten werde. In der Tat, die IWF-Statistiken bescheinigen der Türkei während der AKP-Ära mit 5,07 Prozent ein überdurchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum (Weltdurchschnitt ist 3,85 Prozent). Bei näherer Betrachtung und Gegenüberstellung zum Wachstum aller Schwellenländer (Durchschnitt: 6,62 Prozent) relativiert sich dieser »Erfolg« jedoch. Laut IWF steht die Türkei in Bezug auf das durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf Platz 59 bei 188 Ländern.
Gleichzeitig ist das »türkische Wirtschaftswunder« sehr brüchig, weil es vor allem durch Auslandskredite gestützt wird. Laut Schätzungen braucht die Türkei jedes Jahr 200 Milliarden Dollar Auslandskapital, um ihr Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Die Netto-Auslandsverschuldung liegt bei rund 413 Milliarden Dollar. Ein Einbruch der Wirtschaft könnte eine fatale Kettenreaktion verursachen. Denn auch die immense Verschuldung der privaten Haushalte birgt erhebliches Konfliktpotential. Der scheinbare Wohlstand ist auf Pump gebaut, und die an den Börsen ablesbare Reaktion des »scheuen« ausländischen Kapitals macht deutlich, wie schnell es sich zurückziehen und dadurch das Land ins Chaos stürzen kann.
Zusammen mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung und der sichtbar gewordenen Gefahr einer Verarmungsspirale auch für die städtischen Mittelschichten hatte die repressive Regierungspolitik und im Besonderen Erdoğans Arroganz die aufgestaute Wut ansteigen lassen, welche sich im Gezi-Park entlud und das ganze Land in Aufruhr versetzte.
Bei einer oberflächlichen Betrachtung des Protestes stellt man fest, dass liberale und laizistische Mittelschichten aus der West-Türkei das Gros der Protestierenden ausmachen. Zwei Untersuchungen, eine der Istanbuler Bilgi-Universität und eine des renommierten KONDA-Instituts, weisen daraufhin, dass rund 60 Prozent unter 30 Jahren alt sind, 54 Prozent zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße gehen und rund 80 Prozent keiner Organisation bzw. Partei angehören. 97 Prozent geben an, dass die Polizeigewalt sie auf die Straße brachte. Die TeilnehmerInnen haben einen überdurchschnittlichen Bildungsstand, rund die Hälfte sind Frauen.
In linken Kreisen wird häufig darauf hingewiesen, dass die Protestierenden meist »weiße Türken« seien, die bis vor zehn Jahren die Elite des Landes stellten und jetzt einen Kulturkampf gegen die AKP führen. Das trifft für viele sicherlich zu, aber eine solche Betrachtung verdeckt die Sicht auf die Klassenzugehörigkeit. Denn 58 Prozent von ihnen sind abhängig Beschäftigte, zehn Prozent arbeitslos und 24 Prozent sind Studierende bzw. SchülerInnen. Ein Großteil von ihnen sind also entweder abhängig Beschäftigte oder werden später solche sein.
Seit dem Militärputsch von 1980 sind die Gewerkschaften erheblich geschwächt und zersplittert. Einschränkende Gesetzgebung macht es den Gewerkschaften besonders schwer, in den Betrieben tätig zu werden und Mitglieder zu gewinnen. Die Verpflichtung von notariellen Beurkundung von Mitgliedschaften zur Vertretung bei Tarifgesprächen kommt noch erschwerend dazu. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass rund 11 Millionen Menschen im informellen Sektor beschäftigt werden und somit von sozialen Rechten ausgeschlossen sind. Trotz dieser Schwierigkeiten zeigen sich linke Gewerkschaften mit der Protestbewegung solidarisch und unterstützten sie mit einem eintägigen Generalstreik.
Die kreativen Protestformen, die Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung, die inzwischen gewachsenen Kooperationsstrukturen der Umweltbewegung, LBGT-Initiativen, Feministinnen, armenischen Organisationen und der kritischen Wissenschaft mit unterschiedlichen linken Parteien sowie Teilen der kurdischen Bewegung weisen auf ein großes Potential hin, mit dem eine starke gesellschaftliche Oppositionskraft aufgebaut werden könnte.
Auf der anderen Seite darf jedoch nicht vergessen werden, dass Erdoğan sich weiterhin auf die Unterstützung einer großen Masse von frommen Muslimen stützen kann. Doch dies sind nicht mehr die »50 Prozent«, die ihn gewählt haben, sondern es ist nur noch der Kern der ihn tragenden Bewegung. Die Tatsache, dass inzwischen auch ehemalige AKP-WählerInnen die Proteste unterstützen; dass die AKP ihre Kundgebungen nur mit Mühe und viel Aufwand sowie mit Unterstützung der kommunalen Verwaltungen durchführen kann, und die Modernisierungsfalle, in die der »politische Islam« getappt ist, weisen auf einen Riss im herrschenden Block hin. Die starke Kapitalakkumulation und das wachsende Immobilienbesitz der islamistischen Unternehmen führt dazu, dass die bürgerlichen Lebensweisen die traditionellen Familienstrukturen unter Druck setzen. Der Islam und die islamische Lebensweise werden immer mehr Mittel zum Zweck. Zwar wird die AKP weiterhin gestützt, aber die Klassenwidersprüche innerhalb der Bewegung des politischen Islams werden schärfer.
Die Kritik des »strategischen Partners« USA und auch der EU verschärfen den Druck in Richtung einer wie auch immer gearteten inneren Machtverschiebung. Die arrogante Art Erdoğans bedroht nun die Stabilität seiner Regierung und somit die Interessen des Westens. Auch wenn unterschiedliche Kapitalfraktionen Erdoğan mangels Alternativen weiterhin unterstützen, ist auch von dort Kritik zu hören. Wie lange Erdoğan sich noch halten kann, ist ungewiss. Fest steht aber, dass er durch die Ereignisse der letzten Wochen die Möglichkeit, sein autoritäres Präsidialsystemdurchzusetzen, gänzlich verloren hat. Er hatte vor, die Befugnisse des Staatspräsidenten zu erweitern und für diesen Posten 2014 zu kandidieren.
Die neoliberal-islamistische Hegemonie der AKP hat Schrammen bekommen. Dadurch ist eine Chance entstanden, ein breites gesellschaftliches Bündnis aufzubauen. Die Protestbewegung hat eine Veränderungsdynamik entfacht, die jedoch nur durch den Bruch mit der kemalistisch-nationalistischen Staatsideologie und durch ein festes Bündnis mit der kurdischen Bewegung zu einem echten Demokratisierungs- und Friedensprozess führen kann. Denn ohne die friedliche Lösung der kurdischen Frage wird kein anderes Problem gelöst werden können. Die kurdische Frage hat bisher alles überschattet und der schmutzige Krieg wurde zu einem Herrschaftsinstrument, mit dem die Herrschenden in der Türkei jegliche Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit mit dem Hinweis auf »nationale Sicherheit« abgewehrt haben. Wenn dies nicht gelingt, und wenn nicht mit der Fokussierung auf die soziale Frage, »entlang der Klassenlinien eine Bresche in den Block der ›schwarzen Türken‹ geschlagen werden kann« (Nick Brauns, junge Welt vom 20. Juni 2013), kann die Protestbewegung sehr schnell verpuffen.
Die Tage des Widerstandes gehen weiter. Wie sie enden werden, steht jedoch noch nicht fest.