Samstag, 3. August 2013

Ruhe vor dem Sturm?


Es war wohl eine trügerische Hoffnung, dass die Ferienzeit und der Fastenmonat die Proteste abebben lassen würden. Die AKP-Regierung konnte zwar mit massiver Polizeigewalt die Plätze räumen, doch der Protest hat sich nur verlagert: auf allabendliche Foren, öffentliche Fastenbrechen mit Tausenden Teilnehmenden und auf Sommerjugendcamps, die in Ferienorten wie Pilze sprießen.

Trotz Diffamierungskampagnen und Verhaftungswellen hält der Druck der Straße unvermindert an. Bei jedem öffentlichen Auftritt beschwert sich Erdoğan über die »terrorisierenden Plünderer«. »Umsturzversuche« seien dies, gesteuert vom Ausland und der »Zinslobby«. Mit antisemitischen Parolen ruft er seine Anhänger zur Denunziation auf und motiviert mit Prämienzahlungen seine Polizei zum härteren durchgreifen.
Er hat Angst und diese ist begründet.
Der »Juni-Aufstand« hat die hässliche Fratze der Erdoğan-Regierung aufgedeckt. Westliche Partner wurden von dieser Fratze aufgeschreckt. Über 10 Jahre lang hatten sie die AKP unterstützt. Der »gemäßigte Islam«, gepaart mit wirtschaftlichen Aufschwung und Demokratisierungsversprechen schien überhaupt »die« Möglichkeit zu sein, die islamische Welt zu »domestizieren«. Doch wie in Tunesien und Ägypten offenbarte sich, dass die »Kompatibilität« der Islamisten mit der bürgerlichen Demokratie nur bedingt möglich ist – mehr noch: deren Regierungsweise gefährdet nun die Stabilität in der Region.
Dominanz, Allmachtsphantasien und paternalistisches Handeln liegen im Natur der neoliberalen Islamisten. Andersdenkende werden nicht geduldet. Alles hat sich der eigenen Vorstellung unterzuordnen, Grundrechte und Freiheiten werden nur gewährt, wenn es die Regierung erlaubt. Das Volk hat Dankbarkeit zu zeigen, denn die neoliberal-islamistische Regierung ist allwissend. Nur sie wissen, was richtig und falsch ist, wie viele Kinder Frauen zu gebären haben und was das Volk zu glauben hat. Sich dem widerzusetzen, gar universell gültige Rechte einzufordern ist Landesverrat und gleicht der Ketzerei. Gewaltenteilung behindert das Wirtschaftswachstum und der Rechtsstaat begünstigt Umsturzversuche. In Kurzform gebracht ist dies das Politikverständnis der AKP-Regierung, welches mit dem »Juni-Aufstand« offen zu Tage getreten ist.
Die Menschen wehren sich dagegen. Sie vernetzen und organisieren sich. Nach den Sommerferien werden weitere Massendemonstrationen erwartet. Auch der Friedensprozess in der Kurdenfrage gerät ins Stocken. Die kurdische Bewegung hat die Regierung aufgefordert, bis zum 1. September 2013 ernsthafte Schritte zu unternehmen. Nach Ablauf dieser Frist könnte die Situation eskalieren. In der Außenpolitik, die von der »strategischen Tiefe« der neo-osmanischen Vision gekennzeichnet ist, liegen alle Ziele in Trümmern. Die Wirtschaft schwächelt und das ausländische Kapital, das zum Ausgleich des Leistungsbilanzdefizits unbedingt erforderlich ist, zieht sich langsam zurück.
Der Sommer in der Türkei gleicht einer Ruhe vor dem Sturm. Denn die Protestbewegung sammelt sich und sagt, »das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter«. In diesem Sturm wird das große »AKP-Schiff« sicher nicht untergehen, aber ob der irrational handelnde Kapitän danach weiter auf seinem Posten bleiben kann, das scheint zu mindestens fraglich zu sein.