Freitag, 23. Mai 2014

Die unerträgliche Heuchelei

Über den Besuch eines türkischen Despoten und der Doppelzüngigkeit deutscher Politik
Wer’s glaubt, wird selig! Als ob in der BRD die »europäischen Werte« nicht längst ausgehöhlt wären und diese in der Türkei je gegolten hätten, bescheinigt Wolfgang Bosbach (CDU)[1] dem türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, dass »die Türkei sich unter ihm mit Riesenschritten von europäischen Werten« entferne. Aus allen Bundestagsfraktionen sind ähnliche Worte zu hören: Erdoğan scheint in Köln nicht willkommen zu sein.

Die Bundesregierung ist da anderer Auffassung und heißt Erdoğan, »als Ministerpräsident eines Landes, das uns ein wirklich enger und wichtiger Partner ist«[2] herzlich Willkommen. Dennoch scheuen nicht, weder Regierungssprecher Seibert (»wir erwarten ein sensibles, ein verantwortungsvolles Auftreten«), noch der Außenminister Steinmeier[3] (»unsere Demokratie hält es aus, wenn sich Herr Erdoğan an seine Landsleute wendet«) kleinere Seitenhiebe zu verteilen – immerhin sind am 25. Mai Europawahlen und schließlich will das Wahlvolk »Tacheles« hören.
Dieser Wahlkampf und innenpolitische Motivationen sind wohl der Grund für den Erdoğan-Bashing der Politiker vom neoliberalen Einheitsfront, die den verpesteten Atem der AfD gefährlich nahe an ihrem Rücken spüren. Wahrscheinlich haben gehässige Mäuler doch recht, wenn sie behaupten, dass der eigentliche Erfolg des Rechtspopulismus, was ein Kind des neoliberalen Umbaus ist, nicht an Wahlergebnissen, sondern darin zu messen sei, wie sehr diese Aussagen von der etablierten Politik übernommen werden. In Verbindung mit dem Erdoğan-Besuch in Köln sind alle bürgerlichen Parteien im Wettrennen diese Behauptung zu beweisen.
Dabei wissen sie alle, dass die deutsch-türkischen Beziehungen viel zu wertvoll, gar zu strategisch sind, um sie wegen eines dahergelaufenen türkischen Despoten zu opfern. Natürlich ist es allen Empörten bekannt, dass das NATO-Mitglied Türkei das offizielle Partnerland der diesjährigen Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA 2014, einer der weltweit wichtigsten Rüstungsmessen ist. Wahrscheinlich ist es ihnen auch bekannt, dass die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen bis an die Zeit des Osmanischen Reiches zurückreichen und seit Paul Rohrbach (1911)[4] die »Unterstützung einer starken Türkei« für das deutsche Kapital und dessen politischen Vertreter eine »strategische Imperative« ist -»egal ob daran Armenier« – oder eben andere Völker – »zugrunde gehen oder nicht« (Reichskanzler Bethmann-Hollweg).
Ein kurzer Blick in die regierungsnahe Presse könnte auch für den letzten Begriffsstutzigen sehr informativ sein. So schreibt Gerd Höhler im Handelsblatt folgendes[5]: »(...) Inzwischen beläuft sich das bilaterale Handelsvolumen auf rund 33 Milliarden Euro, womit Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei ist. Auch bei den ausländischen Investitionen liegt Deutschland mit rund zwölf Milliarden Dollar seit 1980 an der Spitze. Mitte der 1990’er Jahre gab es etwa 500 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei. Heute sind es bereits annähernd 6.000. (...) Für viele ist das Land nicht nur wegen seines großen Binnenmarktes und seiner jungen, konsumfreudigen Bevölkerung interessant, sondern auch als strategisch günstig gelegener Produktionsstandort für Exporte nach Nahost, Asien und Afrika.«
Seit dem ersten Wahlsieg der AKP in 2002 wird Erdoğan von den Bundesregierungen nach allen Kräften unterstützt und für die »mutigen Reformschritte« gelobt. Immerhin ist die Türkei eines der Länder, die mit westlicher Hilfe die Privatisierungen, Deregulierungen und Flexibilisierungen am besten umgesetzt und den autoritär-neoliberalen Umbau am weitesten fortgeführt haben. Es war kein geringerer als der ehem. Bundespräsident Wulff, der die Türkei »als Vorbild für die arabische Welt« anpries[6] und es war die Merkel-Regierung, die trotz der massiven Polizeigewalt während des Juni-Aufstandes in 2013 auf der Eröffnung neuer Kapitel im EU-Heranführungsprozess bestand.
Dass nun der neoliberale Konvertit Erdoğan die deutschen Gemüter erhitzt, ist kein Geheimnis. Sein autoritärer Führungsstil mag ein Grund dafür sein. Auch in Berlin musste man inzwischen eingestehen, dass die islamistisch-nationalistisch-neoliberale AKP mit der bürgerlichen Demokratie nicht kompatibel ist. Es sind aber in erster Linie die regionalimperialistischen Ambitionen der AKP, die in Berlin als ein Risiko für die »Energiesicherheit« und geostrategischen Interessen angesehen werden. Ein polarisierender und zu starker Erdoğan ist für die politische Klasse in Deutschland nicht genehm. Die heuchlerische Kritik an ihm dient dazu, ihn zu züchtigen. Denn für die Interessen des deutschen Kapitals gilt weiterhin: die Türkei ist an der Kandare zu halten – ob mit oder ohne Erdoğan!
Daher bleiben Forderungen mancher Linken in Deutschland an die Bundesregierung (»Deutsche Unterstützung für Erdoğan beenden« etc.) nicht mehr als leere Worthülsen. Die beste Unterstützung für die demokratischen Kräfte und die arbeitende Klasse in der Türkei wäre, wenn gesellschaftliche und politische Linke in Deutschland ihre eigenen Hausaufgaben erledigen und sich nicht an der unerträglichen Heuchelei beteiligen würde.



[1] Siehe: http://www.deutschlandfunk.de/erdogan-auftritt-in-koeln-konflikte-werden-nach-deutschland.694.de.html?dram:article_id=285853
[2] Siehe: http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkischer-ministerpraesident-in-deutschland-bundesregierung-wuenscht-sich-sensiblen-erdogan-12946193.html
[3] Siehe: http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-05/erdogan-wahlkampf-koeln-proteste-kritik
[4] Paul Rohrbach (1911) in Nikolaus Brauns: Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Magisterarbeit. Institut für Neuere Geschichte der Universität München. Wintersemester 1996/1997
[5] http://www.handelsblatt.com/politik/international/deutsch-tuerkischen-wirtschaftsbeziehungen-enge-bande/9806016.html
[6] http://www.merkur-online.de/aktuelles/politik/wulff-lobt-deutsch-tuerkische-beziehungen-1411518.html