Dienstag, 1. Dezember 2015

Grenzen des linken Populismus in der Türkei


Von Errol Babacan und Murat Çakır

Nach den Neuwahlen am 1. November 2015 ist die Enttäuschung in der linken und kurdischen Opposition der Türkei groß. Die AKP erzielte ein Ergebnis nahe an 50 Prozent, womit sie erneut über eine absolute Mehrheit verfügt. Die größte Oppositionspartei CHP erreichte das Ergebnis vom Juni, während die beiden anderen Oppositionsparteien MHP und HDP Verluste verzeichneten. Sie verloren jeweils einen Teil ihrer Wählerschaft an die AKP, schafften jedoch den Sprung über die Zehnprozenthürde.

Da fast alle Meinungsforschungsinstitute eine Wiederholung des Ergebnisses aus den Juni-Wahlen vorhergesagt hatten, wurde unmittelbar nach Bekanntwerden erster Hochrechnungen über Manipulationen spekuliert. Unabhängige Untersuchungen konnten jedoch nur minimale Unregelmäßigkeiten feststellen. Die Präsenz des Militärs und der Polizei am Wahltag, vor allem im kurdischen Südosten, war zwar massiv, außerordentlich war sie jedoch nicht. Zweifellos richtig ist aber, dass die Wahlen nicht unter freien und fairen Bedingungen stattfanden. Grundrechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit sind in der Türkei stark eingeschränkt. Die Repression gegenüber Opposition und Medien behindert deren Arbeit enorm.

Nicht zuletzt erlebte die Republik die massivste Eskalation von Gewalt, die es je im Vorfeld von Wahlen gegeben hat. Der neuerlich entfachte Bürgerkrieg mit der kurdischen Befreiungsbewegung forderte mehrere Hundert Tote in wenigen Wochen. Eine Reihe von Bombenanschlägen, die mit dem »Islamischen Staat« in Verbindung gebracht werden, aber allesamt nicht aufgeklärt sind, hat dagegen eine lähmende Wirkung auf die Opposition entfaltet. Insbesondere der Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara mit über hundert Toten war für die linke, säkulare und kurdische Opposition ein Schock. Die Oppositionsparteien CHP und HDP reduzierten ihren Wahlkampf nach dem Anschlag erheblich.

Dennoch behielt insbesondere die HDP ihren Glauben, dass der Erfolg aus den Juni-Wahlen noch ausgebaut werden könne. Der Wahlslogan »Die Wahlhürde haben wir niedergerissen, jetzt ist der Palast dran« (gemeint ist der palastartige Amtssitz, in dem der Staatspräsident Erdoğan in Ankara residiert) spiegelte diese Erwartung. Dieses überaus ambitionierte Ziel wurde weit verfehlt, entsprechend groß ist die Enttäuschung. Nun stellt sich vordringlich die Frage, warum niemand mit einem so deutlichen Wahlsieg der AKP gerechnet hat. Im Folgenden werden einige Versäumnisse und Probleme skizziert, die zu dieser Fehleinschätzung führten und Überlegungen zur Zukunft linker Opposition in der Türkei angestellt.

Nieder mit dem Palast

Ein zentrales Versäumnis der linken und kurdischen Opposition besteht darin, dass sie kein nachvollziehbares Programm für breite Bevölkerungsschichten formuliert hat. Stattdessen hat sie sich auf einen populistischen Lagerwahlkampf eingelassen. Allein der Slogan »Nieder mit dem Palast« liefert aber noch keine Antwort, wie dies geschehen soll und was an seine Stelle treten könnte. Der »Palast« ist kein Papiertiger, der mit Leichtigkeit weggepustet werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine inzwischen konsolidierte Regierungsstruktur, die ein riesiges Land mit milliardenschweren multinationalen Konzernen, zehntausenden Einzelunternehmen und einem ausgefeilten bürokratischen Apparat steuert.

Der Palast, vielmehr die AKP garantiert eine investorenfreundliche Politik und vor allen Dingen die Zustimmung der Arbeiterschaft für diese Politik. Extreme Arbeitsbedingungen, Vertreibung aus Wohnvierteln und massive Umweltzerstörung durch riesige Infrastrukturprojekte und uferlosem Wohnungsbau treten für viele weiterhin hinter das Versprechen eines sozialen Aufstiegs zurück. So ist der materielle Fortschritt der vergangenen Dekade nicht von der Hand zu weisen. In der breiten Wahrnehmung ist dieser Fortschritt und damit die Aussicht auf einen Aufstieg an die AKP gekoppelt. Selbst die Offenlegung individueller Bereicherung durch Korruption oder solche Desaster wie das Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten, die die Kehrseite des Fortschritts aufzeigen, stören diese Wahrnehmung kaum. Etliche Mechanismen wie die Schaffung konfessioneller Privilegien, die Verteilung der städtischen Rendite und die Austeilung materieller Hilfsleistungen über regierungsnahe Sozialfonds stellen den Konsens auch der untersten Schichten der Arbeiterklasse für ein brutales kapitalistisches Ausbeutungssystem her.

Die Zunahme der Repression einerseits und der Erfolg in den Juni-Wahlen andererseits haben der Opposition den Blick auf diese Zusammenhänge verstellt. Sie verstellten auch den Blick darauf, dass die durch den Palast symbolisierte Regierungsstruktur nicht vom Himmel gefallen ist, sondern den vorläufigen Endpunkt einer langen politischen Tradition bildet. Erdoğan stellt sich selbst zwar in die Kontinuität osmanischer Sultane, realistischer ist jedoch, ihn und seine Partei in der Kontinuität rechts-konservativer Parteien der Türkei zu sehen, die in erster Linie das Bürgertum in seinen verschiedenen Facetten organisieren und repräsentieren. Proto-faschistische und äußerst reaktionäre Strömungen, die mit Gewalt gegen ihre politischen Gegner vorgehen, sind seit jeher ein fester Bestandteil dieses Blocks.

Die rechten Parteien verfügen seit den 1950er Jahren über einen stabilen Wählerzuspruch von etwa 60 Prozent. Sicherlich ist dieser Zuspruch nicht in Beton gegossen und muss immer wieder von neuem ideologisch reproduziert werden. Der AKP gelingt dies, flankiert von der MHP, mit Erfolg. So sind die neoliberalen Maßnahmen durch den kontinuierlichen Ausbau eines ideologischen Netzwerks begleitet. Moscheegemeinden, religiöse Schulen, Stiftungen und andere Medien vermitteln der Bevölkerung eine bestimmte Weltauffassung, in der kapitalistisches Wachstum und islamisch-konservatives Machtstreben im Bild einer aufsteigenden und prosperierenden Nation - der »Großen Türkei« - vereint sind. Jede/r Einzelne ist aufgefordert, seinen/ihren Beitrag zu leisten und gleichzeitig am Wachstum zu partizipieren.

Von der Krise zur Rekonsolidierung

Die Lage vor den Juni-Wahlen war gekennzeichnet durch ein Kriseln der neoliberal-islamischen Herrschaft. Konflikte innerhalb der herrschenden Klassen, Streitereien innerhalb der AKP um die Verteilung von Pfründen und Posten, die sich an der Person und der Machtstellung Erdoğans entzündeten, sowie im Alltag spürbare Auswirkungen der schwelenden ökonomischen Krise dominierten die Tagesordnung. Das Vertrauen in die Stärke der AKP nahm ab. Doch muss sogleich hinzugefügt werden, dass selbst in dieser krisenhaften Konstellation die AKP immer noch mehr als 40 Prozent der Stimmen erhielt. Zusammen mit den Stimmen der MHP erhielt der rechte Block auch bei den Juni-Wahlen weiterhin knapp 60 Prozent der Stimmen.

Nach den Wahlen gelang es der AKP, die politische Konfliktlage wieder zu ihren Gunsten zu verschieben. Die Partei setzte auf die Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung durch Eskalation des Bürgerkriegs und Verbreitung von Angst. Das einfache Kalkül der Wahlstrategen, als Lösung für die zunehmende Unsicherheit inmitten des neu entfachten Bürgerkriegs für eine stabile Einparteienregierung zu plädieren, ging auf.

Die Opposition hat dagegen sowohl die AKP als auch ihre Wirkmacht unterschätzt. Sie war trotz aller Warnzeichen nicht darauf gefasst, dass die AKP zur Sicherung ihrer Herrschaft bereit ist, alle Register zu ziehen. Dabei charakterisieren politisch motivierte Massenverhaftungen, Methoden der Aufstandsbekämpfung, die Mobilisierung faschistischer Banden, Bombenanschläge und die Unterstützung des salafistischen Dschihadismus in Syrien seit zwei Wahlperioden den politischen Alltag. Die Klage insbesondere aus den Reihen der CHP aber auch der HDP, dass der Wahlkampf nicht fair gewesen sei, wirkt vor diesem Hintergrund weltfremd.

Daneben hat die Opposition, statt wie zuvor angesprochen eine langfristige Strategie zu entwickeln, die die Reproduktionsgrundlagen des rechten Blocks durchbricht, durch einen oberflächlichen Anti-Erdoğanismus der AKP in die Karten gespielt. Offenbar gefesselt vom eigenen Hype herrschte die Überzeugung vor, dass die Kampagne, die bei den Juni-Wahlen erfolgreich war, lediglich weitergeführt und zugespitzt werden muss. Allerdings wurden von der bewährten Kampagne nicht etwa die sozial-demokratischen Inhalte, wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu Bildung, oder die liberalen Inhalte, wie die Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten und der Geschlechter, hervorgehoben. Tatsächlich war das Werben mit solchen Inhalten angesichts des Kriegszustands sehr schwierig. Ein einseitiges Umschwenken eines großen Teils der linken und kurdischen Opposition auf eine Anti-Erdoğan Kampagne, deren sozialer und klassenpolitischer Inhalt gleich Null ist, entpuppte sich dennoch als Fehler. Dieser vermeintlich direkte Weg an die Massen zu appellieren, diente gerade angesichts der sich zuspitzenden Gewalt als Steilvorlage für die AKP, die Rekonsolidierung des rechten Blocks hinter der Führungsfigur Erdoğan zu organisieren. Die AKP hatte insofern leichtes Spiel, als dass die Produktion starker Führungsfiguren, die das Volk durch stürmische Zeiten geleiten, zum Kernbestandteil rechter Politik gehört.

Die langfristige Ausblendung struktureller Zusammenhänge – die Frage, wen oder was die AKP in ihrer Gesamtheit repräsentiert - ermöglichte es der AKP also, einen Wahlkampf zu führen, der sich auf die Mobilisierung von Bedürfnissen nach Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität konzentrierte, wofür sie ihr gesamtes ideologisches Netzwerk in Stellung bringen konnte. Auf diese Weise konnte sie entscheidende Stimmen von der im »Kampf gegen den PKK-Terror« als passiv wahrgenommenen MHP loseisen und gleichzeitig einen eher kleineren Teil der zuvor für die HDP stimmenden kurdischen Wählerschaft davon überzeugen, dass es Frieden nur mit einer starken AKP geben kann.

Fragen an die Opposition

Indes lieferten die HDP und die kurdische Bewegung zwischenzeitlich ein zerfahrenes und unentschlossenes Bild ab. So entsendete die HDP beispielsweise zwei Minister in die Übergangsregierung, um sie wenig später mit der Begründung, dies sei eine Kriegsregierung, wieder zurückzuziehen. Was die beiden voraussehbar wirkungs- und machtlos gebliebenen HDP-Minister in der Kriegsregierung der AKP zu suchen hatten, obgleich letztere lange zuvor einen brutalen Krieg vom Zaun gebrochen hatte und reihenweise Aktivisten und Funktionsträger der HDP festnehmen ließ, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Für erhebliche Diskussionen in der Linken sorgte (und sorgt weiterhin) auch das Verhältnis zwischen der PKK und der HDP. So maßregelte die PKK-Führung mehrfach die HDP, sie sei politisch zu anspruchslos und dürfe eine Koalition mit der AKP nicht von vornherein ausschließen. Die PKK irritierte damit insbesondere die linke und säkulare Bevölkerung, die sich der HDP zugewandt hatte, da sie von ihr eine klare Ablehnung des islamistischen und autoritären Kurses der AKP erwartete.

Welche Ziele die PKK in den kurdischen Kleinstädten verfolgte, in denen eine mit ihr assoziierte militante Jugendorganisation die Staatsgewalt für aufgehoben erklärte und den bewaffneten Kampf aufnahm, ging dagegen in der allgemeinen Eskalation von Gewalt unter. Im Westen des Landes wurden diese Aktionen nicht als eine notwendig gewordene Selbstverteidigung gegenüber einem vollkommen enthemmten Sicherheitsapparat wahrgenommen, sondern als Versuch der Abspaltung Kurdistans von der Türkei. Widersprüchliche Erklärungen aus der kurdischen Bewegung trugen zu dieser Wahrnehmung bei.

Allerdings wäre es viel zu kurz gegriffen und ausgesprochen unfair, die Probleme bei der kurdischen Bewegung abzuladen. Schließlich hat die Bewegung es trotz massiver Gewalt in der Türkei und eines gleichzeitig geführten Krieges gegen den »Islamischen Staat« in Syrien und im Irak geschafft, einen großen Teil der kurdischen Bevölkerung hinter sich zu bringen. In den vor den Wahlen vom Militär belagerten kurdischen Städten war die Zustimmung für die HDP sogar besonders groß.

Vielmehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Linke in der Türkei leisten kann, die emanzipatorische Dynamik, die sowohl an der sozialen Basis der CHP als auch der kurdischen Bewegung vorhanden ist, gegen die in beiden Strömungen ebenfalls mehr oder minder stark vorhandene neoliberale, nationalistische und konservative Dynamik zu fördern. Wie kann es gelingen, eine linke Praxis zu etablieren, die eine dauerhafte Herausforderung des wahlweise religiös- oder ethnisch-nationalistischen neoliberalen Autoritarismus bilden und somit auch die Reproduktion des rechten Blocks untergraben kann?

Aufbau von Unten

Aus dem bisher Gesagten kann das Zwischenfazit gezogen werden, dass die November-Wahlen die Grenzen des linken Populismus, der bei den Juni-Wahlen bis zu einem gewissen Grad aufging, aufgezeigt haben. Allein auf Wahlen und populistische Rhetorik zu setzen, bringt vielleicht kurzfristig Erfolge, ohne eine Bewegung mit einer sozialen Machtbasis im Hintergrund gelingt eine nachhaltige Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse jedoch nicht.

Der vermeintliche Erfolg der HDP täuschte darüber hinweg, dass die üblichen Formen professionalisierter Politik sich schon seit längerem in einer Sackgasse befinden, während rechtsstaatliche Mittel in der Türkei de facto ausgehebelt sind. Dabei gewährte der größte Aufstand in der jüngeren Geschichte der Türkei – der Juni-Aufstand - Einsichten, wie eine alternative Praxis aussehen könnte.

Die Erfahrungen von »Gezi« haben damals Vielen neue Optionen und Räume politischen Wirkens eröffnet. Von den Anlaufstellen für die Organisierung einer kollektiven Stadtteilkultur, die sehr praktische Vernetzungen schufen, von den Parkforen, die sich basis-demokratisch organisierten und aus denen neue Initiativen gegen den neoliberal-islamistischen Autoritarismus hervorgingen, ist jedoch nur wenig geblieben. Versuche, die damals vorhandene Dynamik weiter zu entwickeln, die Stadtteilinitiativen zu Stadtteilräten zusammenzuführen, die sich mit den gegen die kapitalistische Landnahme Widerstand leistenden Dörfern solidarisieren, um eine wirkmächtige politische Praxis zu schaffen, haben sich weitgehend verlaufen.

Zwei Jahre nach dem Aufstand muss also konstatiert werden, dass es nicht gelungen ist, die Praxis des Aufstands in Richtung einer sozialen Bewegung, die eine Selbstermächtigung der Subalternen ermöglicht, weiterzuführen. Stattdessen ist eingetreten, was sich schon damals abzeichnete und der Linken nun gewissermaßen auf die Füße gefallen ist. Der Unmut wurde auf die Gegnerschaft zur AKP oder noch simpler auf Erdoğan minimiert. Mitunter wirkt der Aufstand weit entrückt als etwas, das in einem anderen Zeitalter unter Mitwirkung längst vergessener Akteure stattgefunden hat.

Es ist leicht gesagt, aber die Linke müsste nach Wegen suchen, die kommunalistische und libertäre Praxis von unten wieder zu beleben, und sie müsste gleichzeitig ein koordinierendes Zentrum schaffen, das nicht unmittelbar den Dynamiken des Bürgerkriegs unterworfen ist. Eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Arbeit – partizipativ und basis-orientiert – stünde ebenfalls an. Dies bedeutet Maulwurfarbeit. Sie wird ohnehin notwendig, denn in der Türkei kann davon ausgegangen werden, dass der politische Islam auch im Falle einer Wahlniederlage seine Machtpositionen nicht mehr räumen, stattdessen mit allen Methoden ausbauen wird. Formal finden in der Türkei zwar noch Wahlen statt, faktisch ist die parlamentarische Demokratie jedoch aufgehoben. Das Parlament wirkt nur noch als Fassade, die Opposition im Parlament ist machtlos.

Konkret steht zu erwarten, dass die AKP das Projekt Präsidialsystem zum Abschluss bringen und juristisch absichern wird. Zu diesem Zweck buhlt sie bereits jetzt um die Gunst von Abgeordneten der Opposition. Inwiefern dieses Buhlen Anklang findet, die AKP sogar den Weg zurück zu den Geheimverhandlungen mit der kurdischen Bewegung findet, wird sich zeigen. Dass nichts Gutes daraus entstehen kann, lässt sich aber schon jetzt sagen.

Äußerst schwer wiegt heute allerdings der Umstand, dass sich die gesellschaftliche Polarisierung weiter zugespitzt und die Gewaltbereitschaft im rechten Lager erheblich zugenommen hat. Die Reaktion eines Teils der AKP-Anhängerschaft auf den Bombenanschlag in Ankara verdeutlicht das Ausmaß und den Charakter dieser Polarisierung. Bei einem Fußball-Länderspiel in der mittelanatolischen Stadt Konya, die eine Hochburg des politischen Islam ist, wurden während einer Schweigeminute für die Opfer des Anschlags islamistische Parolen gerufen, die als Aufruf zum »Dschihad« gelten. In Nachbarschaft zu den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak hat der sunnitische Dschihadismus in der Türkei organisatorisch und ideologisch Fuß gefasst. Ein Massaker an Friedensbewegten erfährt offenen Jubel.

Der Bombenanschlag in Ankara wirkt auch auf eine andere Weise nach. Er hat eine wesentliche Erfahrung des Juni-Aufstands, bei dem die brutalen Polizeieinsätze durch erlebte Solidarität auf den Barrikaden gekontert wurden, nachhaltig zerstört. Das Massaker von Ankara steht für absolute Schutzlosigkeit. Die Opposition auf der Straße weiß nun, dass sie jederzeit von einer Bombe oder einer Polizeikugel getroffen werden kann. Vor diesem Hintergrund hat ein Teil der Linken damit begonnen, die Notwendigkeit der Selbstverteidigung zu thematisieren. In der Tat stellt sich die Frage, inwiefern eine friedliche und zivile Opposition in der Türkei überhaupt noch möglich ist.