Mittwoch, 11. Mai 2016

Die »getürkte« Kandidatur

Über den Flüchtlingspakt mit dem EU-Beitrittskandidaten Türkei
Ende April besuchten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Ratspräsident Donald Tusk ein Flüchtlingslager nahe der türkisch-syrischen Grenze. Was Merkel und Tusk bei diesem Besuch sagten, mag vielleicht den diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet sein, aber ob sie den Wahrheiten entsprechen, ist sehr zweifelhaft. Während Merkel »die Anstrengungen der Türkei in der Flüchtlingskrise« in hohen Tönen lobte und sich für »den allergrößten Beitrag bei der Bewältigung der Krise« bedankte, würdigte Tusk »die Leistungen der türkischen Regierung«. Die Türkei sei »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«. Und keiner habe daher »das Recht, belehrend auf die  Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe erhielten sie einen Tag später vom Bundespräsidenten Joachim Gauck: es müsse »auch die Tatsache betrachtet werden, dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben«.

Die Türkei »das beste Beispiel für die Welt«? Schon rufen gehässige Mäuler: »Was für ein Hohn, das schmutzige Deal mit der Türkei so zu loben«. Doch lassen wir die Unschuldsvermutung auch für unsere hohen Politiker gelten. Es mag ja sein, dass Frau Merkel und die Herren Tusk und Gauck völlig uninformiert sind. Und mit einem haben sie auch recht: die Türkei ist eines der größten Aufnahmeländer. Nun, zahlenmäßig ist das zweifelsohne richtig, was aber nichts über die tatsächliche Situation aussagt. Daher wäre es sinnvoll, Zahlen und Fakten kurz anzuschauen:
Laut einem Bericht der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR vom September 2015 waren in der Türkei insgesamt 1.983.999 syrische Flüchtlinge eingetragen 259.277 von ihnen sind in Flüchtlingslagern untergebracht. 54 Prozent sind Kinder, darunter 663.138 im Schulalter. Knapp 270.000 können eine Schule aufsuchen. Kinderarbeit ist weit verbreitet. Bettelnde syrische Kinder und Frauen gehören zum alltäglichen Straßenbild. Die Zwangsprostitution syrischer Frauen oder die Verheiratung von minderjährigen syrischen Mädchen ist inzwischen so häufig, dass diese Tatsache für die gängigen türkischen Medien keinen Nachrichtenwert mehr hat. In den größeren Städten wie Istanbul, Urfa oder in Antep leben syrische Flüchtlinge zusammengepfercht mit mehreren Familien in abbruchsreifen Ruinen. Arbeit finden sie nur im informellen Sektor: für knapp 100 Euro im Monat müssen sie sechs Tage in der Woche 12 bis 14 Stunden am Tag arbeiten. In den Grenzgebieten zu Syrien stehen sie unter dem Druck der djihadistischer Gruppen. Rekrutierungsversuche djihadistischer Terrorbanden werden nicht verhindert und Morde, wie zuletzt an einem syrischen Journalisten nicht ernsthaft verfolgt.
Die Reaktion der Bevölkerung
Diese Situation, der Druck auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie die Versuche der AKP-Regierung, in bestimmten Regionen durch Ansiedlung von sunnitischen Flüchtlingen die demographische Lage zu verändern, führen zu teilweise fremdenfeindlichen Reaktionen in der einheimischen Bevölkerung. Während Alewiten sich in Maras gegen ein großes Flüchtlingscamp wehren, gehen in Dikili und anderen ägäischen Orten Menschen auf die Straße und protestieren gegen die Unterbringungspolitik der Regierung. Presseberichten zufolge werden bettelnde oder stehlende syrische Kinder auf offener Straße zusammengeschlagen, und der Unmut wächst.
Größere Teile der einheimischen Bevölkerung machen die Flüchtlingspolitik für ökonomische und soziale Verschlechterungen verantwortlich, etwa für sinkende Löhne oder Mietsteigerungen: In Urfa behaupten das einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge 86%, in Antep 84%, in Hatay 78% und in Kilis 54% der einheimischen Bevölkerung. In Gebieten mit hohem Flüchtlingsanteil wurden Teuerungsraten für Mieten und Nahrungsmittel von über 100 Prozent festgestellt. Obwohl 53% der Bevölkerung Flüchtlingshilfe für unabdingbar halten, sind 81,7% gegen die Vergabe der türkischen Staatsangehörigkeit an syrische Flüchtlinge. Das hängt zum größten Teil mit dem demographischen Wandel zusammen: So sind in Kilis, wo bis 2011 nur 1% der Einwohner arabischer Herkunft war, inzwischen 59% der Bevölkerung arabisch. Oder in Hatay, wo traditionell Alewiten die Mehrheit stellten, ist die Mehrheit der Bevölkerung nun sunnitisch. Damit sind weitere gesellschaftliche Konflikte vorprogrammiert, zumal das AKP-Regime unfähig ist, wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen.
Es gibt verschiedene Gründe für diese unsägliche Situation. Der wichtigste ist wohl die rechtliche Lage der Flüchtlinge: Schutzsuchende, die von der Türkei keinen Flüchtlingsstatus bekommen, haben in der Türkei grundsätzlich keine Rechte. Obwohl die EU und die türkische Regierung immer wieder behaupten, dass syrische Flüchtlinge unter einen sogenannten »vorläufigen Schutz« genommen werden und ein Arbeitsrecht bekommen sollen, haben sie de facto keine Möglichkeit, dieses Recht in Anspruch zu nehmen.
Ein dauerhafter Aufenthaltsstatus ist sowohl wegen dem sehr restriktiven Ausländerrecht als auch wegen dem türkischen Gesetz für internationalen Schutz nicht zu erlangen. Zwar hat die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.Juli 1951 unterzeichnet, sie ist aber der einzige Unterzeichnerstaat, der sowohl die Konvention, als auch das Protokoll von 1967 geographisch auf Europa einschränkt. Insofern ist die Türkei ein Staat, in dem Flüchtlinge keinen adäquaten Aufenthaltsstatus erhalten, nur vorübergehend geduldet werden und ihre grundlegenden Menschenrechte deshalb ständig bedroht sind. In der Türkei haben sie keinen gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen. Das ist der Hauptgrund, warum beispielsweise die Flüchtlinge im griechischen Idomeni sich so vehement gegen die Rückführung in die Türkei wehren.
Für die Flüchtlinge ist die Türkei nur ein Transitland, aber mitnichten ein »sicherer Drittstaat«. Um es mit der jüngsten Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu sagen: Es ist mindestens »der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat in der Türkei nicht umfassend und in jedem Einzelfall gewährleistet sein könnten«. Es ist ein Skandal, dass die EU und insbesondere die Bundesregierung ohne ernsthafte Überprüfung lapidar der Türkei unterstellen, sie sei ein sicherer Drittstaat, gewährleiste den Flüchtlingen Rechte und halte das Verbot der Zurückweisung ein. Doch diese Ignoranz hat ihre Gründe - sie finden sich in der Militarisierung der EU-Außenpolitik und dem Primat der Wahrung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen.
Flüchtlinge als Faustpfand strategischer Interessen
Sowohl das AKP-Regime, als auch die EU instrumentalisieren Flüchtlinge als Faustpfand für ihre jeweiligen strategischen Interessen. Während Schutzsuchende auf der Strecke bleiben, feiern die EU und die Türkei ihren schmutzigen Deal als ein Erfolg: Die EU hat (scheinbar) ein Problem weniger und die AKP sichert sich die EU-Unterstützung für die Installation eines autoritären Regimes. Das Schweigen europäischer Politik gegenüber der undemokratischen Regierungspraxis, den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, massiven Menschenrechtsverletzungen, Behinderung der Presse- und Meinungsfreiheit, der Inhaftierung von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und gewählten Mandatsträger*innen, den extralegalen Hinrichtungen von Zivilist*innen u. v. a. m. ist bezeichnend genug. Mehr noch: Mit ihrer Forderung nach der Einrichtung von Flugverbotszonen in Syrien unterstützt Merkel offen die völkerrechtswidrige und aggressive Syrienpolitik der Türkei.

Das AKP-Regime gehört zu den Fluchtverursachern in der Region und ist somit ein Teil des Problems, nicht der Lösung. Wer alle Sinne beisammen hat, muss, aller Unwissenheit zum Trotz angesichts der Presseberichte die Türkei als einen Unrechtsstaat bezeichnen. Der Skandalpakt und die »getürkte« EU-Kandidatur haben nichts mit Flüchtlingsschutz zu tun. Es ist nichts anderes als ein staatlich organisierter Menschenhandel. Aber was soll’s, es ist wie vor 100 Jahren: die Bundeskanzlerin hält es wie der Reichskanzler von Bethmann Hollweg: »Es gilt die Türkei an unserer Seite zu halten...« - egal ob Flüchtlinge daran zugrunde gehen oder nicht. Wahrlich: das nennt man Kontinuität!