Mittwoch, 6. Juli 2016

Erdoğans neue Türkei

In reaktionärer Kontinuität auf dem Weg zur Diktatur
Als Merkel im April 2016 mit dem EU-Ratspräsidenten Tusk ein Flüchtlingslager in der Türkei besuchte, lobte sie die »Anstrengungen der Türkei«. Tusk war euphorischer: Die Türkei sei, »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«[1] – trotz des Wissens, dass Flüchtlinge in der Türkei keinen adäquaten Aufenthaltsstatus erhalten und keinen gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen haben. Für die Herrschenden in der EU ist diese Realität unerheblich und wird ignoriert. Diese Ignoranz hat ihre Gründe und sie finden sich in der Militarisierung der EU-Außenpolitik und dem Primat der Wahrung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen.

Daher ist es kein Zufall, dass die EU dem schmutzigem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, den massiven Menschenrechtsverletzungen, der Gleichschaltung von Medien und Justiz, der Inhaftierung von Oppositionellen sowie den extralegalen Hinrichtungen mit Schweigen reagiert. Mehr noch: mit der Forderung nach der Einrichtung von Flugverbotszonen in Syrien wird die völkerrechtswidrige und aggressive Syrienpolitik der Türkei unterstützt.[2] Berichte über das »eisige Klima« zwischen der EU und Türkei oder die »tiefe Besorgnis« Merkels über die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kooperation zwischen der EU und dem AKP-Regime gedeihlich weiter wächst. Denn, »sie ist richtig und in beidseitigem Interesse«, so Merkel.[3]
Wie wahr: Als Rüstungsimporteur und Lizenznehmerin, billiger Produktionsstandort, Energieumschlagplatz und als Brücke zu den Märkten und Ressourcen im Kaukasus, Nahen Osten und in Zentralasien hat die Türkei für das deutsche Kapital einen unschätzbaren Wert. Die geostrategische Bedeutung der Türkei und die Interessen der BRD, eine Weltmacht zu werden, sind die bestimmenden Faktoren in den deutsch-türkischen Beziehungen. Für die aggressivste imperialistische Macht der EU gilt, was der ehem. Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann schon 2007 feststellte: »die Bindung der Türkei an die EU, an die NATO, an den Westen ist für uns in Europa eine strategische Imperative, da Europa ohne die Türkei seine ehrgeizigen strategischen Ziele, ein globaler Akteur (...) zu werden, nicht erreichen kann«.[4]
»Modellland Türkei«
Lange wurde die Türkei als ein »Modell für die islamische Welt« angepriesen. Unter der Führung der AKP habe das Land bewiesen, dass der Islam mit der bürgerlichen Demokratie kompatibel gemacht werden kann und »die Türkei ein Modelland« geworden ist, der »Freiheiten und Wohlstand« verspreche (C. Wulff). Obwohl die Umwälzungen in den arabischen Ländern nach 2011 bewiesen, dass der politische Islam, auch in seiner »gemäßigten« Form, weder für »Demokratie« noch für die, von imperialistischen Staaten gewünschte regionale Stabilität geeignet war, wurde das AKP-Regime weiter mit allen Mitteln unterstützt. Denn: die AKP hatte es bewerkstelligt, zum einen die Unterstützung aller Kapitalfraktionen der Türkei zu erhalten und zum anderen für den rigorosen Neoliberalismus und für die aggressiv-interventionistische Außenpolitik breite gesellschaftliche Zustimmung zu generieren. Und sie war in der Lage, Dank der sunnitisch-konservativen gesellschaftlichen Hegemonie, die Ausgebeuteten im Zaum halten.
Während einerseits große Privatisierungserlöse (2002-2013: 68,5 Mrd. US-Dollar) die Staatskassen füllten und durch die geförderte Verschuldung der privaten Haushalte (2003: 4,5 Mrd. US-Dollar, 2013: 156 Mrd. US-Dollar) der gefühlte Wohlstand für breite gesellschaftliche Kreise erhöht wurde, wurden andererseits mit immensen staatlichen Investitionsprogrammen (»weltgrößtes« Flughafen, dritte Bosporus-Brücke, Ausbau der Landstraßen, AKWs, Ausbau des Pipeline-Netzes, staatlicher Eigentums-Wohnungsbau etc.), Subventionen, Kreditförderung, Hochzinspolitik für Staatsanleihen, Ausbau der staatlichen und halbstaatlichen Rüstungsindustrie, massiver Abbau von Sozialrechten, Privatisierungen, Flexibilisierungen und Deregulierungen neue und größere Kapitalakkumulationsmöglichkeiten für nationale wie internationale Monopole geschaffen.
Gleichzeitig stand die AKP für die Demagogie, die kurdische Frage friedlich lösen und die kemalistische Generalität zurückdrängen zu wollen. Auch das war im Interesse ihrer NATO-Partner, da die beabsichtigte »Neuordnung des Nahen Ostens« stabile Herrschaftsstrukturen innerhalb der Regionalmächte notwendig machte. Es fand ein scheinbarer Kampf gegen die kemalistische Staatsbürokratie statt, an dessen Ende die AKP die Justiz, Polizei und die Armee unter ihre Kontrolle bringen und die Gewaltenteilung de facto aufheben konnte.
Aber andererseits wurde aus der »Null-Probleme-Politik« mit den Nachbarländern ein außenpolitisches Fiasko und die »strategische Tiefe der türkischen Außenpolitik« (A. Davutoğlu) mündete in geostrategischen Untiefen. Fortan war die Türkei umzingelt von Nachbarn, mit denen sie erhebliche Probleme hatte und wurde zum Logistikzentrum djihadistischer Terrorbanden. In Eintracht mit den saudischen und katarischen Despoten wurde ein Konglomerat unterschiedlicher Terrororganisationen wie IS, El-Nusra-Front oder El-Qaida in Syrien und im Irak finanziell, militärisch, politisch und logistisch unterstützt. Während die rund 900 km lange syrisch-türkische Grenze für Schutzsuchende geschlossen wurde, blieb sie bis jetzt für Djihadisten unterschiedlicher Couleur löchrig wie ein Schweizer Käse!
Der Lack ist längst ab
Obwohl die Wirtschaftskrise von 2008-2009 noch glimpflich überstanden werden konnte, ist heute zu konstatieren, dass das AKP-Regime, trotz ihres weiterhin starken gesellschaftlichen Rückhalts, in einer Vielfachkrise steckt. In den letzten 5 Jahren fand diese Vielfachkrise ihren Ausdruck in der aggressiven außenpolitischen Praxis, massiven Abbau demokratischer und sozialer Rechte, Aushöhlung der Rechte des Parlaments, im Regieren per Dekrete, in neuen Polizei- und Sicherheitsgesetzen, der gesellschaftlichen Polarisierung und Islamisierung aller Lebensbereiche, in der massiven Unterdrückung oppositioneller Kräfte und nicht zuletzt in der Eskalation der militärischen Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung.
Insbesondere nach 2009 entstanden überall im Land Widerstandsherde, die jedoch nicht mit einander verbunden waren. So u. a. der fünf Monate andauernde Widerstand der TEKEL-Arbeiter, die mit Streiks und Platzbesetzungen sich erfolgreich gegen Gesetzesveränderungen wehrten. Studierende, die in zahlreichen Universitäten demonstrierten, Bauern und Umweltschützer*innen, die gegen den Bau von Wasserwerken und Privatisierungen protestierten, Frauen- und LGBTI-Bewegungen, die gegen sexuelle Gewalt und Frauenmorde auf die Straße gingen, Gewerkschaften, die trotz ihrer Organisationsschwäche Streiks durchführten sowie der Kampf linker, sozialistischer und kommunistischer Parteien deuteten auf die Formierung einer breiten Protestbewegung hin. So reichte ein städtebaulicher Beschluss aus, um im Mai 2013 in Zusammenhang mit den Protesten um Gezi-Park eine große Protestbewegung entstehen zu lassen. Die Tage des »Juni-Aufstandes« rüttelten an den Fundamenten des Regimes, die mit massiver Polizeigewalt zurückschlug.
Währenddessen hatte der Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung den türkischen Staat an den Verhandlungstisch gezwungen. Es begann der sog. »Friedensprozess«, in der Vertreter des Staates mit Abdullah Öcalan offiziell verhandelten. Durch den Korruptionsskandal vom Dezember 2013 unter Bedrängnis gekommene Regime hatte offensichtlich das Ziel, die kurdische Bewegung zu domestizieren und für ihre neo-osmanischen Ambitionen einzuspannen. Doch die Entwicklung in Syrien, insbesondere die erfolgreiche Verteidigung Kobanes und die Errichtung von demokratisch-autonomer Kantone in Rojava bereiteten dem »Friedensprozess« ein jähes Ende zu.
In der Zwischenzeit, im August 2014, hatten die ersten direkten Präsidentschaftswahlen stattgefunden und Erdoğan hatte sich behauptet. So begann die Debatte um das Präsidialsystem. Dieses von Erdoğan favorisierte autoritäre Präsidialsystem ist im Grunde ein Protektoratsversprechen an die sunnitisch-konservativen Kapitalfraktionen, die in der Konkurrenz mit den internationalen Monopolen die Unterstützung des Staats bedürfen. Auch wenn das Präsidialsystem eine staatlich-parteiische Intervention in die Organisation des kapitalistischen Wettbewerbs ist und die türkische Monopolbourgeoisie anfänglich sich davon distanzierte, so ist den nationalen wie internationalen Monopolen bewusst, dass das AKP-Regime, auch im Präsidialsystem die Kapitalinteressen »wie ein Löwe« verteidigen wird.
Die Notwendigkeit der Herrschaftssicherung: Diktatur
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen hatten den oppositionellen Kräften gezeigt, dass die hohe Wahlhürde von 10 Prozent durchaus zu überwinden ist. Auf Vorschlag von Öcalan hatten die kurdische Bewegung und linke Kräfte den Versuch gestartet, sich gemeinsam im »Demokratischen Kongress der Völker« (HDK) zu organisieren. Aus der HDK ging dann im Juni 2014 die »Demokratische Partei der Völker« hervor. Dieser Zusammenschluss konnte dann bei den Wahlen am 7. Juni 2015 die Wahlhürde überwinden und zog mit 13,2 Prozent der Stimmen in das Parlament ein.
Dieses Ergebnis hatte zur Folge, dass die AKP ihre Mehrheit verlor und nun auf ein Koalitionspartner angewiesen war. Erdoğan und die AKP begannen unmittelbar nach den Wahlen das Ergebnis zu sabotieren. Gleichzeitig wurde die Gewalt gegen die Opposition verschärft. Während in Kurdistan die militärische Gewalt eskalierte, Ausgangssperren verhängt und Massaker an Zivilisten verübt wurden, wurden im Westen die Friedens- und Oppositionsbewegung das Ziel von Gewalt. Mit dem Attentat von Ankara am 10. Oktober 2015, bei dem über 100 Menschen den Tod fanden, wurde nun auch der Westen zum Kriegsgebiet verwandelt.
In einer Atmosphäre der Gewalt, Repression und Angst fanden am 1. November 2015 die Wiederholungswahlen statt – die AKP konnte wieder die Alleinregierung stellen. Trotz dieses Erfolges wurde an der Gewaltschraube weiter gedreht und ein totaler Krieg gegen die gesamte Opposition eröffnet. Die Repressionsmaschinerie des Regimes traf nun mit voller Wucht jede kritische Stimme. Selbst ehemalige und noch AKP-Mitglieder, die die absolute Unterwerfung vor Erdoğan noch scheuten, wurden geschasst oder wie im Fall des ehem. Ministerpräsidenten Davutoğlu, zum Rücktritt gezwungen. Bürgerliche Medien sind nahezu gleichgeschaltet. Mit Enteignungen und Zwangstreuhand werden Medienunternehmen entweder gefügig gemacht oder durch Ausschlachtung vernichtet. Den verbliebenen kritischen Medien droht das gleiche Schicksal.
Das Regime ist der Auffassung, dass das Präsidialsystem längst Realität ist und nur die verfassungsrechtliche Verankerung bedürfe. Es wird nun gefordert, die Legislative, die Executive und die Judikative dem Präsidentenpalast unterzuordnen. Der »Palast«, so wird das eigentliche Machtzentrum der »neuen Türkei« genannt, hat auch die bürgerliche Opposition entzweien und schwächen können: Während die neofaschistische MHP mit einem gerichtlich durchgesetzten außerordentlichen Parteitag beschäftigt ist und möglicherweise eine erneute Spaltung hinnehmen muss, wurde die kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei im Parlament, in Zusammenhang mit der Aufhebung der Immunitäten derart in die Enge getrieben, so dass sie in der politischen Meinungsbildung im Land kaum noch eine Rolle spielt und sich vorwerfen lassen muss, eine AKP-Unterstützerin geworden zu sein. Der HDP wiederum droht ein Parteiverbot.
Ohne Frage: das Überleben der AKP erfordert die Installation eines diktatorischen Sicherheitsregimes. Ein solches Sicherheitsregime, der allen Kapitalbewegungen offen ist, die Arbeiterklasse und somit weitere Widerstandspotentiale zurückdrängen kann, mit paramilitärischen Polizeikräften und modernisierter Armee nicht davor zurückscheut sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch ggf. gegen die Nachbarländer vorzugehen, ihren militärisch-industriellen Komplex ausgebaut hat; bereit ist, als strategischer Partner und schlagkräftige Vorhut imperialistischer Mächte zu fungieren, die Interessen nationaler und internationaler Monopole zu wahren und als autoritäre Regierungsmacht die erforderliche »Stabilität« zu schaffen, verdient (!) die volle Unterstützung der türkischen Monopolbourgeoisie und der imperialistischen Mächte. Zweifelsohne wäre das AKP-Regime ohne diese starke Unterstützung nicht in der Lage, diesen Weg einzuschlagen und sich in Richtung einer faschistischen Diktatur zu begeben.
Liberale Erwartungen, dass womöglich der Westen diesem Treiben ein Ende bereiten würde, sind und bleiben Wunschträume. Die USA – egal ob unter Trump oder Clinton – und die von der BRD geführte EU werden weiterhin dem »Palast« die notwendige Unterstützung gewähren. Denn es geht um nichts wesentlicheres als um den freien Zugang zu den Märkten und Energieressourcen der Region, um die absolute Kontrolle der Transportwege, um die Erweiterung der Einflusssphären und um die Interessen der Monopole. Die Türkei spielt hierbei eine Schlüsselrolle.
Dennoch; gerade dann, wenn Despoten vor Kraft kaum laufen können, haben sie i. d. R. ihren Zenit überschritten. Denn sie produzieren zugleich ihre Leichengräber. In den kurdischen Gebieten, wie in Cizre oder Nusaybin, konnte die türkische Armee trotz massiver Gewalt den Widerstand nicht brechen. Die hohe Zahl von »Gefallenen« ist nicht mehr zu verheimlichen und die Frühlingsoffensive der PKK droht größere bewaffnete Auseinandersetzungen und Krisen. Aber auch in anderen Landesteilen formiert sich der Widerstand: Streiks und Betriebsbesetzungen im Bergbau und in der Metallindustrie, Proteste von Akademiker*innen und Studierenden zeugen davon. Sicher: noch ist der Widerstand im Westen schwach. Noch wird die Sicht der armen Bevölkerungsteile auf die eigentlichen Ursachen ihres Elends durch den reaktionär-sunnitischen Konfessionalismus betrübt. Und noch ist es nicht gelungen, mit der Fokussierung auf die soziale Frage den Weg für die Verbindung der Kämpfe zu ebnen. Aber dennoch bildet sowohl um die HDK und HDP, als auch in verschiedenen Abwehrkämpfen und im Umfeld linker Kräfte das Bewusstsein für den gemeinsamen Kampf gegen das Regime.
In einer Erklärung der illegalen Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) heißt es: »Für die Befreiung der Türkei von der Dunkelheit der Reaktion und den Höllenfeuern des Krieges, für die Freiheit der kurdischen und türkischen Völker ist der, schrittweise in den Fabriken, Hochschulen, Städten und Dörfern aufzubauende gemeinsame Kampf aller Friedens-, Demokratie- und Sozialismuskräfte notwendig und möglich.« [6] Dem ist nichts hinzuzufügen.
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[1] http://www.nachrichtenxpress.com/04/2016/polnischer-ex-premier-tusk-die-tuerkei-das-beste-beispiel-fuer-die-ganze-welt-wie-wir-mit-fluechtlingen-umgehen-sollten/
[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-angela-merkel-unterstuetzt-forderung-nach-flugverbotszone-a-1077520.html
[3] http://www.bild.de/politik/ausland/recep-tayyip-erdogan/kippt-erdogan-heute-den-tuerken-deal-45919776.bild.html
[4] Siehe: Konrad-Adenauer-Stiftung, Dokumente der Tagung »Deutsch-Türkischer Sicherheitsdialog zur neuen NATO-Strategie«, Ankara März 2009, S. 26 ff.
[5] Siehe: http://tkp-online.org.