Das Aufbegehren gegen die Hegemonie der
neoliberal-islamistischen AKP-Regierung
*)Vorab Veröffentlichung aus der Zeitschrift Emanzipation
Es
war sicherlich kein Zufall, dass sich die Massenproteste außerhalb der
kurdischen Gebiete gegen die autoritäre Herrschaft der neoliberal-islamistischen
AKP-Regierung gerade in einer Metropole wie Istanbul entzündet haben. Immerhin
ist Istanbul, die »Global-City«, die laut MasterCard Index of Global
Destination Cities (2011) die fünfte Großstadt mit den meisten
Dollar-Milliardären ist, zu einem Synonym für neoliberale
Gentrifizierungsprozesse geworden.
Auch
wenn westliche Medien gerne die Transformation von Istanbul zum »Global City
des 21. Jahrhunderts« als ein Ergebnis des sogenannten »türkischen
Wirtschaftswunders« darstellen mögen, so werden auch in Istanbul die
klassischen neoliberalen Stadt(um)baupolitiken mitsamt der
»Quartiers-Veredelungen«, Entkernungen, Privatisierungen, Kommerzialisierung
des öffentlichen Raumes und sozialen Verdrängungsprozessen deutlich sichtbar,
die überall in der Welt anzutreffen sind. Große Einkaufzentren, Gated
Communities, Technoparks, Banken- und Börsenviertel, Luxusresidenzen, Yachthäfen,
Megaprojekte – kurzum alles, womit die Stadt zu Inseln der größtmöglichen
Renditen für das globalisierte Kapital aufgeteilt wird, ist in Istanbul zu
finden. Zwangsräumungen von Stadtteilen, Zwangsverstaatlichungen als
Vorbereitung für große Privatisierungswellen, Nutzungsverbote sowie das gesamte
Arsenal der staatlichen wie kommunalen Maßnahmen zeugen von der »meisterhaften«
Umsetzung einer eiskalt vollzogenen Gentrifizierungsstrategie.
Die
städtebaulichen und planerischen Entscheidungsmechanismen in den türkischen
Städten sind mit Gesetzesveränderungen, Gleichschaltung der Justiz und
insbesondere durch die Entmachtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit weitgehend
entdemokratisiert worden. Kommunalverwaltungen, die an sich als Erfüllungsgehilfen
insbesondere der Bauwirtschaft gesehen werden müssen, sind nur noch
Befehlsempfänger zentralisierter Ministerialbürokratie. Selbst der
Oberbürgermeister der Stadt Istanbul gab in einem Interview zu, dass die
Umgestaltung des Gezi-Parks am Rande des Taksim-Platzes auf Befehl des
Ministerpräsidenten vorgenommen wurde.
Das
kommt nicht von Ungefähr: Seit 2002, den letzten drei Legislaturperioden unter
der AKP-Parlamentsmehrheit, wurden kontinuierlich gesetzliche Schranken
abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter im Wege standen.
Insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010 bekam die AKP-Regierung
Instrumente an die Hand, mit denen sie die örtlichen Verwaltungsgerichte
handlungsunfähig machen konnte, die zuvor auf Anrufung von
Bürger_inneninitiativen zum größten Teil solche Privatisierungsmaßnahmen
stoppen konnten. Mit Dekreten in Gesetzeskraft verfügte die Regierung die Privatisierung
von Wald- und Weideflächen, Flüssen und Bächen sowie größerer Areale im
Staatsbesitz, womit zusätzlich die Binnenmigration der ländlichen Bevölkerung
verschärft wurde. Dies hatte auch zur Folge, dass die früheren
Binnenmigrant_innen, die seit Jahren am Rande der Großstädte in verarmten
Stadtteilen leben und sich über ihre Familienangehörigen in den Dörfern mit
Lebensmittel versorgten, diese Möglichkeit – was auch als eventueller
Rückzugsraum in Krisenzeiten gedacht wurde – nach und nach verloren.
Diese
Entwicklung stößt seit längerem in Stadt und Land auf Gegenwehr. Jedoch, die
Proteste waren fragmentiert und jedes Aufbegehren wurde seitens der
AKP-Regierung mit massiven polizeistaatlichen Mitteln bekämpft. Fast überall
regte sich Protest und Widerstand – sei es gegen Zwangsvertreibung der Sinti
und Roma aus ihrem seit Jahrhunderten angestammten Stadtteil Sulukule, sei es
gegen die ökologische Zerstörung durch zahlreiche private Wasserkraftwerke im
Schwarzmeergebiet oder Goldabbau an der Ägäis; sei es gegen Nutzungsumwandlung
von Parks und Plätzen in den Großstädten oder gegen die paternalistische
Bevormundung durch die autoritäre Islamisierung des Alltäglichen. Von dem Kampf
der kurdischen Bevölkerung um Gleichberechtigung und demokratische Rechte ganz
zu schweigen. Aber all diese Proteste und Widerstände waren von einander
isoliert und hatten keine landesweite Dynamik entfalten können. [1]
Ein
Funke, die Besetzung des Gezi-Parks und dessen anschließende gewaltsame Räumung,
reichte aus um zu zeigen, was passieren kann, wenn die voneinander isolierten
Protestbewegungen sich vereinen würden: Politikverdrossene und traditionelle
Linke, Laizisten und »antikapitalistische Muslime«, LBGT*-Aktivist_innen,
Feministinnen unterschiedlicher Couleur und (ansonsten verfeindete)
Fußballfans, Kemalisten und die kurdische Bewegung bildeten gemeinsam den
Protest gegen die Repression und Polizeigewalt. Die lange aufgestaute Wut hatte
sich entladen und insbesondere das urbane Prekariat hatte seine Angststarre
überwunden. Der »Juni-Aufstand«, welcher dann im September völlig neue Formen annahm,
war wie »ein Weckruf für die oppositionellen Parteien« (Candeias-Bechstein) und
zeigte, welche Bündnispotentiale brach liegen. Noch ist es zu früh, um
voraussagen zu können, welche neuen Wege der »Juni-Aufstand« eröffnen wird.
Doch eine nähere Betrachtung der Hintergründe könnte helfen, mögliche
Perspektiven aufzuzeigen.
Der Lack ist ab – Die Hegemoniekrise der
AKP
Es
wäre sicherlich eine verkürzte Darstellung, würde man die neoliberale Politik
nur auf die Ära der AKP begrenzen. Der neoliberale Umbau in der Türkei begann
mit den berüchtigten Regierungsbeschlüssen vom 24. Januar 1980, die dann durch
den Putsch vom 12. September 1980 mit militärischen Mitteln umgesetzt wurden.
Aushöhlung von Kollektivrechten, massiver Sozialabbau, Deregulierungen,
Flexibilisierungen, Privatisierungen, rigorose Sparmaßnahmen und IWF-Diktate
wurden zu Konstanten türkischer Wirtschaftspolitik.
Die
AKP, die nach der großen Krise von 2001 an die Macht kam und schon in der
ersten Legislaturperiode die »Früchte« der Konsolidierungsmaßnahmen der
Vorgängerregierung ernten konnte, steht in dieser Traditionslinie. Im
Unterschied zu den anderen bürgerlichen, aber auch den früheren islamistischen
Parteien schaffte es die AKP neben der Unterstützung der anatolischen
Bourgeoisie, dem traditionell konservativ-islamisch orientierten Kapital, auch
die Unterstützung der anderen Kapitalfraktionen, insbesondere des laizistisch
orientierten Großkapitals zu erhalten. Hierbei spielte die Tatsache, dass die
AKP derzeit die einzige politische Formation ist, die für einen stetigen
Zufluss von ausländischem Kapital – besonders von Petro-Dollars – sorgen kann,
eine gewichtige Rolle.
Die
AKP konnte sich die Unterstützung der türkischen Bourgeoisie insbesondere durch
ihre massiven Eingriffe in die Bauwirtschaft sicherstellen. Erdoğan holte die
staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI in die Verantwortung seines Amtes und
stattete sie mit weitgehenden Befugnissen aus. Die Investitionen von TOKI
lösten einen Bauboom aus. Seit 2002 hat die TOKI mehr als 500.000 Wohneinheiten
im Wert von über 35 Milliarden US-Dollar gebaut und verkauft. Während die
Bauaufträge an Subunternehmern aus der Privatwirtschaft vergeben wurden, konnte
TOKI die staatlichen Grundstücke und Immobilien weit unter dem Marktwert
erwerben. TOKI erhält auch staatliche Bauaufträge, die sie an private
Bauunternehmen weiterleitet: So ist sie z.B. das einzige Unternehmen, das Militärwachen
(sog. »Wachburgen«) bauen darf. Auch Großprojekte wie Fußballstadien o. ä.
werden von TOKI gebaut.
Die
Bauwirtschaft ist eines der wichtigsten Elemente des türkischen
Wirtschaftswachstums und des Akkumulationsregimes. Aufgrund der starken
Verflechtungen der Bauwirtschaft mit anderen Wirtschaftszweigen wie Transport,
verarbeitender Industrie, Zement- und Keramikproduktion, Bergbau etc. und
größten Renditemöglichkeiten, ist die Bauwirtschaft nicht nur für die
konservativ-islamische Bourgeoisie, sondern auch für alle anderen Kapitalfraktionen
sehr lukrativ. Die Tatsache, dass der Anteil der Bauwirtschaft am Bruttosozialprodukt
(BSP) der Türkei in der AKP-Ära nie unter 5 Prozent gefallen ist, [2] zeigt die
enge Beziehung zwischen dem allgemeinen Wirtschaftswachstum und dem Wachstum
der Bauwirtschaft. Alle Kapitalfraktionen, die sich in der Bauwirtschaft
engagieren, spielen inzwischen im AKP-Apparat eine große Rolle. So hat
Ministerpräsident Erdoğan auch eine Möglichkeit gefunden, durch
Investitionsentscheidungen der TOKI unmittelbar Kapitalfraktionen zu fördern
oder ggf. durch Ausschluss »abzustrafen«.
Auf
der anderen Seite gelang es der AKP, die mit ihrem Demokratisierungsversprechen
und ihrem scheinbaren Kampf gegen die kemalistische Generalität die Sympathien
unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gewann, auch die Verlierer des
neoliberalen Umbaus auf ihre Seiten zu ziehen. Der türkische Soziologe Cihan
Tuğal spricht in diesem Zusammenhang von einer »passiven Revolution«, welche
die AKP-Hegemonie sicherstellte. [3]
Zum
einen gaukelte die AKP der Bevölkerung vor, dass ihre Akteure »Leute wie sie«
seien. Ministerpräsident Erdoğan und seine Minister setzten auf religiöse
Symbolik und nutzten den sunnitischen Konservatismus der türkischen
Mehrheitsgesellschaft, um den scheinbaren Unterschied zwischen ihnen und der
verhassten laizistischen Eliten zu unterstreichen. Kopftuchtragende
Ministerfrauen, gemeinsames Fastenbrechen, das traditionelle Freitagsgebet des
Ministerpräsidenten in einem gutbesuchten Stadtmoschee oder seine Friseurtermine
in einem armen Stadtteil sowie die fortwährende Benutzung von
religiös-kulturellen Codes in öffentlichen Ansprachen führte dazu, dass breite
Teile der Bevölkerung die AKP als eine Art »Volksregierung« ansahen. Damit
konnten die neoliberal-islamistischen Parteikader die Klassenunterschiede
zwischen ihnen und den verarmten Bevölkerungsgruppen erfolgreich kaschieren.
Obwohl
die Türkei laut OECD-Angaben eines der Länder mit den höchsten
Einkommensungerechtigkeiten ist, konnte sich die AKP 2011 mit knapp 50 Prozent
zum zweiten Mal die Wiederwahl sichern. Einige Studien zeigen, dass die AKP die
meisten Stimmen von den Hausfrauen, der ländlichen Bevölkerung, vom urbanen Prekariat,
den Arbeitslosen und vor allem aus den verarmten Randbezirken der Großstädte
erhalten hatte.
Diesem
Erfolg liegt nicht nur die »passive Revolution« zugrunde. Die AKP-Regierung hat
kurz nach dem sie an die Macht kam, den 1986 gegründeten »Staatlichen Fond zur
Förderung der sozialen Hilfe und Solidarität« zu plündern begonnen. Laut den
Angaben der staatlichen Statistikbehörde TUIK wurden alleine zwischen 2003 und
2007 rund 54 Prozent dieses Fonds für Sachhilfen wie Lebensmittel- und
Kohlebeschaffung ausgegeben. 23 Prozent der Fondsmittel wurden monatlich als
Schulkostenzuschuss an arme Familien ausgezahlt. Die als »soziale Hilfe«
deklarierten Auszahlungen wurden nur an Frauen überwiesen. Zudem wurden die
Kommunalverwaltungen hinzugezogen, um die private Wohltätigkeit zu koordinieren
und mit kostenlosem Essen in den Fastenmonaten die Bevölkerung zu verköstigen.
So wurde eine dem islamischen Spenden- bzw. Wohltätigkeitsgebot entsprechende
soziale »Hilfe« organisiert, die jedoch nichts mit einer verfassungsmäßig
verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun hatte.
Ein
wesentlicher Grund, warum diese Strategie erfolgreich war, liegt an der
Tatsache, dass rund 11 Millionen von etwas mehr als 25 Millionen Erwerbstätigen
im informellen Sektor beschäftigt sind und ein Großteil der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach dem gesetzlichen Mindestlohn
(2013: Netto ca. 290,00 Euro) entlohnt werden. Künstlich niedrige gehaltene
Wechselkurse, Förderung der Kreditkartennutzung und Erleichterungen bei
Immobilienfinanzierungen führten zum Anstieg des privaten Konsums. Durch den
Anstieg des privaten Konsums erhöhte sich das Niveau des gefühlten Wohlstands. Der
Preis dafür war aber sehr hoch: die Verschuldung der privaten Haushalte hat
sich in der AKP-Ära auf rund die Hälfte der verfügbaren Einkommen verdoppelt.
Es
ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass die türkische Wirtschaft unter der
AKP-Regierung schnell gewachsen ist. Als die AKP an die Macht kam, steckte das
Land in einer tiefen ökonomischen Krise. Die Inflation galoppierte: zwischen
1995 und 2001 rund 70 Prozent pro Jahr! Die AKP setzte den neoliberalen Umbau
und die Marktorientierung stärker als ihre Vorgänger durch und schaffte das,
was die bisherigen Regierungen nicht durchsetzen konnten: Während zwischen den
Jahren 1985 und 2002 durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen gerade mal
8 Mrd. US-Dollar eingenommen werden konnte, konnte die AKP von 2003 bis 2010
fast 48 Mrd. US-Dollar Privatisierungseinnahmen realisieren. So konnte sich die
Türkei für die internationalen Finanzmärkte als ein aufstrebendes Schwellenland
präsentieren.
Aber
nach den kräftigen Wachstumsschüben der Vorjahre (2010: 9,2 Prozent und 2011:
8,8 Prozent) lag das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in 2012 mit
2,2 Prozent deutlich unter den Erwartungen.[4] Jetzt zeigt sich, wie brüchig das
»türkische Wirtschaftswunder« ist. Laut Schätzungen braucht das Land jedes Jahr
200 Mrd. US-Dollar Auslandskapital, um das chronische Leistungsbilanzdefizit
auszugleichen. Die Netto-Auslandsverschuldung liegt bei 413 Mrd. US-Dollar und der
IWF erwartet für das Jahr 2013 ein Wachstum von 3,4 Prozent.
Das
jedoch könnte sich als Wunschvorstellung ausweisen. Zum einen fließt das
ausländische Kapital langsam, aber stetig wieder zurück. Daran mag die
US-Geldpolitik auch einen Anteil haben, vor allem aber scheint sich die Türkei für
die ängstlichen Finanzmärkte zu einem Risikoland zu verwandeln. Zum anderen
vermochte es die türkische Zentralbank trotz Zinspolitik und verstärktem
Devisenverkauf nicht zu verhindern, dass die türkische Lira (TL) gegenüber Euro
und US-Dollar massiv an Wert verloren hat. Anfang des Jahres rechnete die
Regierung mit einem TL / US-Dollar-Wechselkurs von 1:1,73, aber schon Ende Juni
kletterte der US-Dollar auf 1,95 (Inzwischen kostet 1 US-Dollar 1,985 TL und 1
Euro 2,678 TL]). [5
Diese
Entwicklung hat für unterschiedliche Kreise negative Auswirkungen. So müssen
beispielsweise in den nächsten 12 Monaten rund 190 Mrd. US-Dollar zurückgezahlt
werden. Für die Schuldner bedeutet das zusätzliche Kosten in TL. Für die
Industrie, die ihre Investitionsplanungen gemäß den Vorgaben der Regierung mit
einem Wechselkursrisiko von 1:1.83 vorgenommen hat, wird jede Verteuerung des
US-Dollars die Produktionskapazitäten verringern und Arbeitsplatzverluste
verursachen. Unabhängige Ökonomen wie Mustafa Sönmez erwarten daher bis Ende
2013 die Erhöhung der Arbeitslosenquote auf 11 Prozent. [6]
Für
ein Land wie die Türkei, die jedes Jahr mehr als 60 Mrd. US-Dollar für
Energieimporte aufbringen muss, bedeutet jede Teuerung in den Wechselkursen
eine neue Inflationsgefahr. Gerade wo jetzt der teuerste Spritpreis weltweit in
der Türkei bezahlt werden muss, werden zusätzliche Kursverluste die türkische
Wirtschaft noch mehr belasten.
Auch
die Exportwirtschaft gerät ins stocken. In 2013 sollte nach Regierungsplänen
ein Exportvolumen von rund 150 Mrd. US-Dollar realisiert werden. Dieses Ziel
wird wohl nicht erreicht werden können, zumal die türkische Exportwirtschaft
von Importen abhängig ist, wofür sie wiederum Devisen benötigt. Ähnliche
Probleme erlebt inzwischen auch der türkische Bankensektor, da sich die Zahl
der Unternehmensinsolvenzen erhöht hat und auch zunehmend private Kreditnehmer
immer mehr Schwierigkeiten mit der Rückzahlung bekommen.
Türkische
Medien berichteten am 26. September 2013, dass die Ratingagentur Fitch eine »Rezessionsgefahr«
für die Türkei sieht und die internationalen Anleger vor »gestiegenen
politischen Risiken wie innere[n] Unruhen« gewarnt hat. [7] In Zusammenhang mit
der aktuellen US-Geldpolitik erwartet die Agentur weiteren Rückfluss vom
ausländischen Kapital aus der Türkei. Ohne Frage: das »türkische
Wirtschaftswunder« gleicht einer Seifenblase.
Sowohl
das brüchige türkische Wirtschaftswachstum, als auch das autoritäre und
antidemokratische Gebaren der Regierung weisen daraufhin, dass die
AKP-Hegemonie in einer ernsthaften Krise steckt. In dem Bündnis aus
unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen und den verschiedenen
Kapitalfraktionen werden Risse sichtbar. Auch wenn die AKP weiterhin über einen
gewissen Rückhalt in der türkischen Mehrheitsgesellschaft verfügt, so ist
durchaus davon auszugehen, dass ein Prozess, welcher zum Ende der AKP-Hegemonie
führen kann, unlängst begonnen hat.
Der Protest und die Perspektiven
Der
»Juni-Aufstand« hat aufgrund seiner landesweiten Verbreitung innerhalb weniger
Tage, der Spontaneität und Zusammensetzung der Bewegung sowie ihrer Fähigkeit,
politikverdrossene wie verängstigte Kreise auf die Straße zu bringen, längst
einen historischen Platz in der Geschichte der gesellschaftlichen Kämpfe in der
Türkei eingenommen. Der »Juni-Aufstand« hat einen Geist losgelassen – viele
sprechen von einem »Spirit of Gezi« –, der hunderttausende Menschen erfasst
hat.
Sicher,
dieser Geist beschreibt das Bestreben der Frauen um ihre Rechte, der Alewiten
um die Erhaltung ihrer Kultur, der kurdischen Bevölkerung um ihre Existenz;
kurz den gemeinsamen Kampf um die Stadt und öffentliche Räume, für soziale
Gerechtigkeit, Gleichstellung der Geschlechter und sexueller Orientierungen,
für ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und für Demokratisierung. Dieser Geist
ist imstande, unterschiedliche Bewegungen zu vereinen. Doch die eigentliche
Frage bleibt: wie lange wird sie Bestand haben? Wie werden die Akteure der
Protestbewegung es schaffen, dass dieser Geist zu einem »Schmelztiegel«
verwandelt wird, aus dem eine politische Alternative mit Mehrheitspotentialen
herauswachsen kann?
Die
»Global City« mit all ihren Entwicklungsproblemen scheint sich als ein Ort
darzustellen, in der neue politische Konstellationen möglich werden. Die Kämpfe
um den öffentlichen Raum, gegen die soziale Verdrängung, um bessere Arbeits-
und Entlohnungsverhältnisse sowie um eine freie, demokratische Gesellschaft
finden hier Anknüpfungsmomente.
Das
beste Beispiel dafür, wie aus der Spontaneität der Massen neue Bündnisse entwachsen
können, zeigen die zahlreichen Foren in den Stadtteilparks von Istanbul und
anderen Städten. Schon nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks am 15. Juni
2013 war es zu beobachten, wie in den Abbasağa und Yoğurtçu Parks Foren
organisiert wurden. Alleine in Istanbul fanden allabendlich in fast 40
Stadtteilen »Park-Foren« statt. Dieses Beispiel machte Schule: inzwischen gibt
es auch in Ankara 10, in Izmir 2 und weitere Foren in Antalya, Bodrum, Izmit
und Eskişehir.
Überall
ist das gleiche Phänomen zu beobachten: Hunderte – in manchen Istanbuler Foren
sogar tausende – Menschen kommen nach 21 Uhr zusammen, diskutieren, verabreden
neue Themen, machen die Parks sauber und gehen wieder nach Hause. Es wird über
alles mögliche diskutiert: von Platzumgestaltung über Stadtteilprobleme, von
Gewalt gegen Frauen und LGBT*-Aktivist_innen über ökologische Nachhaltigkeit
bis zur friedlichen Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts.
Sowohl
die Themenfindung als auch die Diskussionsformen zeigen lebendige Formen der
Basisdemokratie. Auf jedem Forum wird penibel darauf geachtet, dass Jede und
Jeder, die was zu sagen haben, das Wort erhalten, die umliegende Nachbarschaft
nicht durch Lärm belästigt wird (deshalb wird nicht applaudiert, sondern nur
die Hände werden bewegt), der Park nach dem Forum sauber gemacht wird und die
Diskussionen ergebnisorientiert geführt werden. Inzwischen haben sich die Foren
zu Orten entwickelt, wo sich die Menschen nach dem Feierabend treffen,
Selbsthilfegruppen oder Stadtteilinitiativen gründen und – das ist ein Novum –
wo keine politische Partei oder Organisation dominant sein kann.
Mit
den Foren ist auch das Politik-Monopol der Regierung geschwächt worden. In den
letzten Jahren wurden politische Diskussionen quasi nur von der AKP-Regierung
angestoßen. Sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische
Opposition war in einer Ablehnungssituation gefangen. Auch die Gewerkschaften
und soziale Bewegungen konnten sich von dem ständigen Abwehrkampf nicht
befreien. Nur die kurdische Bewegung war in der Lage, der Regierung Paroli zu
bieten und Politikalternativen aufzuzeigen, die jedoch – auch aufgrund der
Gleichschaltung der bürgerlichen Medien – im Westen kaum wahrgenommen wurde.
Der
»Juni-Aufstand« hat dem Politik-Monopol der AKP-Regierung erheblichen Schaden
zugefügt. Mit Hilfe der sozialen Medien konnten Gegenpropaganda und
Regierungslügen binnen Minuten als solche entlarvt werden. Innerhalb weniger
Tage wurde die Regierungsrhetorik, dass die Türkei »nur mit der AKP
demokratisiert werden kann« ad absurdum geführt. Die Tatsache, dass der
Ministerpräsident Erdoğan heute noch alle seine öffentlichen Auftritte und
Reden dazu nutzt, um »von der Zinslobby und ausländischen Mächten gesteuerte
Marodierer, Terroristen und Putschisten, die sich gegen den Willen der Nation
stellen«, anzuprangern, beweist, wie schwer die AKP-Regierung durch den
»Juni-Aufstand« angeschlagen worden ist. Bis Juni 2013 wurde die politische
Tagesordnung der Türkei von Erdoğan und seiner AKP bestimmt. Heute bestimmt die
politische Agenda der Protestbewegung das Handeln der AKP.
Jedoch:
die AKP verfügt weiterhin auf einen Rückhalt in der türkischen
Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn in der AKP-Regierung Machtverschiebungen zu
erwarten sind und Erdoğan, dessen autoritäres Präsidialsystem nicht mehr
durchzusetzen ist, im nächsten Jahr auf das Amt des Staatspräsidenten
abgeschoben wird, so bedeutet dies nicht das Ende der AKP-Regierung.
Für
die Zukunft der Protestbewegung und die Entstehung einer möglichen alternativen
politischen Formation werden in den nächsten Monaten drei politische Felder
bestimmend sein: die Kommunalwahlen, der Friedensprozess in der kurdischen
Frage und die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Alle drei sind untrennbar
mit einander verbunden.
In
allen drei Feldern liegen Potentiale für demokratische Bündnisse brach. Denn
die Regierungspläne in diesen Feldern bilden zugleich die Gegenkräfte aus. Um
einige dieser Pläne zu nennen: Die Regierung beabsichtigt, mit dem Bau der
dritten Bosporus-Brücke in Istanbul die als »Nordwälder« genannten Waldareale
auszuroden. Staatspräsident Abdullah Gül erklärte bei der Grundsteinlegung,
dass die dritte Brücke den Namen »Yavuz Sultan Selim« tragen werde, gerade von
dem Sultan, der massenhaft Alewiten abgeschlachtet hat. Gegen dieses Projekt
hat sich eine breite Opposition aufgestellt, dem auch – aus verständlichen
Gründen – alewitische Organisationen angehören. Gleichzeitig ist geplant, auf
der europäischen Seite Istanbuls einen Mega-Flughafen (»der größte Flughafen
der Welt«, so die Verheißung) zu bauen. Dieses Projekt wird von einem riesigen
Bebauungsprojekt in den Naturgebieten begleitet. Ein weiteres Mega-Projekt ist
das sog. »Kanal-Istanbul«, das als »der zweite Bosporus« bezeichnet wird und
das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden soll. Natur- und
Umweltschützer_innen sowie zahlreiche Wissenschaftler_innen laufen Sturm gegen
dieses Projekt, weil durch verschiedene Studien nachgewiesen wurde, dass durch
den Bau des »Kanal-Istanbul« das Marmarameer in ein totes Meer verwandelt wird.
Alleine diese drei Mega-Projekte haben genügend Konfliktpotential, um
unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren.
Die
für März 2014 geplanten Kommunalwahlen bieten für die Vernetzung unterschiedlichster
Initiativen, Widerstandsgruppen, Bewegungen sowie Oppositionsparteien eine gute
Möglichkeit. Für die AKP würde der Verlust der Stadtregierungen in Istanbul und
Ankara eine große Niederlage bedeuten und die Koalition innerhalb der AKP in eine
Krise stürzen. Es gibt zwar Bestrebungen von linken Parteien und Teilen der
Protestbewegung, so z.B. in der von linken Parteien und der prokurdischen BDP
(Partei des Friedens und der Demokratie) getragenen HDK (Demokratischer
Kongress der Völker), eine Kandidatur aufzustellen, die von breiten Teilen
getragen wird. Aber noch konnten sich die unterschiedlichen Gruppen darüber
nicht einigen und aufgrund des Festhaltens an einer eigener Kandidatur der
kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) könnte es dazu kommen, dass
der AKP-Kandidat sich gegen die zersplitterte Opposition wieder behaupten kann.
Eine ähnliche Situation wird auch aus Ankara berichtet.
Der
ins Stocken geratene Friedensprozess in der kurdischen Frage birgt auch weitere
Zersplitterungsgefahren für die Protestbewegung. Zwar positioniert sich die
prokurdische BDP eindeutig im linken Spektrum und setzt auf die Zusammenarbeit
mit links-sozialistischen Gruppen und Parteien, aber es gibt innerhalb der
kurdischen Bewegung und auch der BDP (die man auch als eine Art Koalition
ansehen sollte) kurdische Nationalisten und Liberale, die eher mit der AKP
zusammen agieren würden. Insbesondere die kurdische Bourgeoisie in der Türkei
hegt Hoffnungen, gemeinsam mit dem türkischen und internationalem Kapital am Wirtschaftswachstum
und von der Ausbeutung der Erdölfelder in den kurdischen Autonomiebehörde in
Südkurdistan (Nordirak) profitieren zu können. Zu dem ist die Lage in Syrien,
im Besonderen in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien, völlig unklar. Die
türkische Regierung unterstützt offen islamistische Terrorgruppen wie die
Al-Nusra-Front, die gegen kurdische Autonomiekräfte in Syrien verbittert
kämpfen.
Dabei
ist auch innerhalb der türkischen Mehrheitsgesellschaft die Ablehnung gegen
einen Krieg in Syrien weit verbreitet. Eine Friedensbewegung hätte hier gute
Voraussetzungen. Und wenn die Protestbewegung im Westen die Forderungen der
kurdischen Bewegung offen anerkennen und die Verbindung beider Bewegungen
gewährleisten könnte, würde das dem Friedensprozess eine große Dynamik
verleihen und somit die Regierungspläne in den kurdischen Gebieten vereiteln.
Das
dritte politische Feld ist die Verfassungsdiskussion. Innerhalb der
Gesellschaft ist die Meinung, dass die Junta-Verfassung nun endgültig von einer
demokratischen Verfassung abgelöst werden muss, weit verbreitet. Gleichzeitig
ist aber die Öffentlichkeit von der Arbeit der Verfassungskommission des
Parlaments und vom Regierungshandeln, alles in die Länge zu schieben, völlig enttäuscht.
Es sind Zurzeit sowohl der EU-Heranführungsprozess als auch die versprochenen
Demokratisierungsmaßnahmen in einer Sackgasse gelandet. Große Ankündigungen der
Regierung stellen sich entweder als Wahlkampfmanöver dar oder laufen ins Leere.
So auch das vor Monaten großmündig angekündigte »Demokratisierungspaket« der
Regierung. Am 30. September 2013 stellte Erdoğan das Paket höchstpersönlich
vor, konnte aber noch nicht mal regierungsnahe Kommentatoren überzeugen –
geschweige denn die kritische Öffentlichkeit.
Ein
großer Teil der Bevölkerung ist z. B. für die Abschaffung der 10-Prozent-Hürde
bei den Wahlen, für mehr Presse- und Meinungsfreiheit, für mehr Demokratie.
Dennoch haben die demokratischen Kräfte es versäumt, in der Gesellschaft eine
offene Verfassungsdiskussion zu organisieren und sich alleine auf die Arbeit
der Parlamentskommission verlassen. Dabei wäre gerade eine solche offene
Debatte mehr als hilfreich, um unterschiedliche Themen – von der
Dezentralisierung der Kommunalverwaltung, über Stadtentwicklungspolitik, Naturschutz
und ökologisches Wirtschaften bis individuelle und kollektive Rechte, soziale
und kulturelle Gerechtigkeit sowie Frieden und Rechtsstaatlichkeit unter der
Überschrift einer demokratischen Verfassung in Zusammenhang zu bringen.
Die
anstehenden Kommunalwahlen, das Schicksal des Friedensprozesses in der
kurdischen Frage und die Notwendigkeit einer neuen, demokratischen Verfassung
sind nicht nur für die Protestbewegung, sondern für die Zukunft des Landes von
immenser Bedeutung. Demokratische Kräfte, die unterschiedlichen Teile der
Protestbewegung, die linken und sozialistischen Organisationen sowie die
kurdische Bewegung stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Die eigenen
Organisationsegoismen beiseite zu legen und zu versuchen, durch die Verbindung
der Kämpfe in der Kommune, der Region und landesweit eine von breiten Teilen
der Gesellschaft getragene Oppositionsbewegung aufzubauen. Der »Juni-Aufstand«
hat auf beeindruckende Weise bewiesen, dass genau dies möglich ist. Gelänge ihnen
das nicht, so ist zu befürchten, dass die neoliberalen Islamisten ihre
autoritäre Herrschaft weiter ausbauen werden.
Die
jungen Protestierenden auf dem Taksim-Platz riefen immer wieder: »Das ist der
Anfang. Der Kampf geht weiter!« Noch geht der Geist von Gezi-Park weiter umher.
Noch ist also die Hoffnung nicht verloren.
***
[1] Siehe auch: Errol
Babacan, »Shoppen, Beten, Kinderkriegen – Aufstand in der Türkei«, in:
www.links-netz.de August 2013.
[2] Siehe: http://tuikapp.tuik.gov.tr/insaatapp/insaat.zul
oder http://www.turkstat.gov.tr/PreTabloArama.do?metod=search&araType=vt
[3] Siehe auch: http://www.sup.org/pages.cgi?isbn=0804761450&item=Introduction_pages&page=1
[4] Zu den Wirtschaftsdaten
siehe auch: Murat Çakır, »Wut und Widerstand – Über die Hintergründe des
Aufstands gegen Recep TayyipErdoğan«, in: Zeitschrift Sozialismus, Heft Nr.
Juli / August 2013, S. 8-12.
[5] Aktuelle Kurse am 23.
September 2013. Quelle: http://www.doviz.com.
[6] Mustafa Sönmez in der
Tageszeitung »Yurt« vom 27. August 2013.
[7] Siehe:
http://t24.com.tr/fitchten-gelen-uyarilari-nasil-okumak-lazim/7502