Über die junge Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime«
Im Zeitalter der globalisierten Finanzmärkte, der
Kriege um Sicherung der Energielieferungen und um die Beherrschung der fossilen
Ressourcen wäre es sicherlich keine Binsenweisheit zu behaupten, dass »der
Islam« zum globalen Feindbild der kapitalistischen Welt erhoben wurde. Keine
Frage; die Fernsehbilder von islamistischen Terrorbanden, die Nichtmuslime oder
Menschen, die sie als »nichtmuslimisch« titulieren abschlachten, schrecken auf
und machen die Versuche, »ein Feindbild zu konstruieren« (Werner Ruf [1])
einfach.
Und doch ist es ein widersprüchliches Bild: während
selbsternannte »Islamkämpfer« in Syrien als »bewaffnete Opposition« von den
sog. »Freunden Syriens« im Westen offen unterstützt werden, werden
islamistische Gruppen in Mali, die den Islam in derselben Weise wie ihre
Gesinnungsgenossen in Syrien (oder in Pakistan... oder in Afghanistan...)
interpretieren, als »Terroristen« bekämpft. Selbst konservative Politiker wie
der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet weisen auf diesen
Widerspruch hin. [2]
Um nicht missverstanden zu werden: weder die Al-Qaida,
noch die Al-Nusra-Front oder die Taliban – keine der islamistischen
Terrorgruppen können als »Befreiungsbewegungen« angesehen werden. Auch die
zahlreichen Vertreter unterschiedlicher sunnitischer wie schiitischer
Rechtsschulen, sowie die Despoten der arabischen Welt sind keine »unschuldigen
Lämmer«, die einfach nur nach freien Religionsausübung trachten. Im Gegenteil;
das herrschende Religionsverständnis in den jeweiligen islamischen Ländern ist
das Religionsverständnis der Herrschenden und somit ein Herrschaftsinstrument.
Dennoch wäre es ein fataler Fehler, wenn man gläubige Muslime
in der islamischen Welt im Rahmen des herrschenden Religionsverständnisses oder
als Anhänger von islamistischen Terrorgruppen betrachten würde. Auch wenn
Aberglaube und teilweise rückständiges Gesellschaftsverständnis in vielen Teilen
der muslimischen Welt weit verbreitet sind, so ist – wie verschiedene
empirische Untersuchungen belegen – festzustellen, das die überwiegende
Mehrheit der Muslime nur daran interessiert sind, friedlich ihre Religion
auszuüben und ihrem Glauben nach fromm zu leben. Eine Verallgemeinerung wäre
zudem Wasser auf die Mühlen derjenigen, die mit ihrer Islamhetze
rechtspopulistische Tendenzen in den bürgerlichen Gesellschaften Europas
schüren und davon politisches Kapital schlagen wollen.
In Zusammenhang mit den linken Debatten um
Islamophobie und Rechtspopulismus gibt es jedoch auch Positionen, die vor
linker Religionskritik zurückschrecken, weil sie befürchten, dass damit
möglicherweise die »falschen Kräfte« gestützt werden könnten. Dabei lässt eine
Religionskritik aus der Perspektive des historischen Materialismus immer Raum
für differenzierte Betrachtungsweisen. Trotz der Islamfeindlichkeit, trotz der
in den bürgerlichen Gesellschaften weit verbreiteten Phobien sowie in deren
Mitte verankerten Rassismen und insbesondere wegen der Doppelmoral der
bürgerlichen Parteien ist eine linke Religionskritik sowie eine an die Wurzeln
gehende differenzierte Betrachtung mehr als notwendig. Und genau das darf und
sollte vor dem »politischen Islam« keinen Halt machen. Eine falsch verstandene
Solidarisierung ist unpolitisch und führt in die Irre.
»Widerspruch im Namen Allahs«
Dabei sind in der islamischen Welt längst Rufe
unüberhörbar, die das jeweils herrschende Religionsverständnis scharf
kritisieren, deren Koraninterpretationen hinterfragen und neue, durchaus als
fortschrittlich zu bezeichnende theologisch-philosophische Diskussionen
anstoßen. Es ist zu verfolgen, dass in diesen Diskussionen, die immer wieder
von der sozialen Frage dominiert sind, nach Antworten in den Ursprüngen des
Islams und jenseits der »offiziellen« Überlieferungen, d.h. den sog. »Hadiths«
gesucht werden. Diese Diskussionen finden in mehreren islamischen Ländern
statt, wobei sie teilweise – auch aufgrund der aktuellen Umwälzungen in der
arabischen Welt – entweder innerhalb von geschlossenen Gruppen (wie bei den
Intellektuellen, die sich um die ägyptische Zeitschrift »Islamische Linke«
versammelt haben) oder zahlenmäßig kleineren Kreisen stattfinden.
Trotzdem machen diese Diskussionen die Herrschenden in
den islamischen Ländern zunehmend nervöser, weil diese Gruppen immer lauter
unangenehme Fragen stellen und somit das Interesse der Öffentlichkeit wecken.
Eine dieser gegen den Strom schwimmenden Gruppen ist ohne Zweifel die junge
Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime« in der Türkei. Ihr »Manifest« [3]
erhebt »Widerspruch im Namen des
vergebenden und barmherzigen Allahs«.
Die »Antikapitalistischen Muslime« sind der
Auffassung, dass jeder Prophet zugleich als eine »Widerstandsposition gegen das herrschende System seiner Zeit« zu
verstehen sei und begründen damit ihre Betonung auf »Antikapitalismus«.
Gleichzeitig erklären sie »alle
antikapitalistische Haltungen, ohne Rücksicht auf ihr Glauben oder
Glaubenslosigkeit, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, Sprache oder Ideologie zu
natürlichen Bündnispartnern« mit denen sie die »gleichen Plattforme und Kämpfe teilen« wollen. [4] Ihren Platz
sehen sie daher auf der Seite der »Unterdrückten
und Ausgebeuteten«.
Nach ihrer Auffassung muss der Staat frei sein von
jeglicher Ideologie, frei von rassischen, nationalen, religiösen oder
konfessionellen Bindungen. Das »gemeinsame
Gute«, nämlich »das Recht, die
Gerechtigkeit, Freiheit und Geschwisterlichkeit« reiche vollkommen aus.
Auch im internationalen Recht beziehen sie sich auf die Werte der UN-Charta.
Sie erklären, dass sie für eine gerechte, auf gegenseitigen Respekt und
Solidarität begründete Weltordnung stehen und jegliche Interventionskriege
sowie Kriege um Ressourcen völlig ablehnen. Betonen aber gleichzeitig, dass das
»niemals als Hinnahme oder Unterstützung
von despotischen Regimen in der islamischen Welt verstanden werden« dürfe.
All das sind Aussagen, die sich auf einer
Koraninterpretation begründen, welche jedoch im Westen kaum bekannt ist. Diese Aussagen
finden sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in Ägypten, im Iran oder in
Tunesien. Das Herausstechende an den »Antikapitalistischen Muslimen« ist, dass
sie die Religion und die Welt aus einer klaren Klassenperspektive betrachten
und das »Paradiesversprechen des Islams« in der realen Welt suchen: »Das Paradies ist eine grenzen- und
klassenlose, freie Welt, die im hier und jetzt verwirklichbar ist«.
Beeindruckend ist ihre Bereitschaft zu Aufarbeitung
der eigenen anatolisch-mesopotamischen Geschichte. In ihrem »Manifest« liest
sich das wie folgend: »Die
antikapitalistischen Muslime nehmen es nicht hin, (...) dass Menschen wegen
ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe, ihren Gedanken, ihrem Glauben oder
Glaubenslosigkeit Unrecht erfahren und erklären sich auf deren Seite. (...) In
diesem Sinne unterstützen die antikapitalistischen Muslime die Forderungen des
kurdischen Volkes nach Rechten und Freiheiten. Sie verurteilen die begangene
Grausamkeit an dem armenischen Volk und sehen jedes Genozid und jede
Assimilation als Grausamkeit und als ein Verbrechen gegen die Menschheit an«.
Öffentliches Aufsehen erregten die
»Antikapitalistischen Muslime« erstmals mit ihren »öffentlichen Fastenbrechen
auf dem Schoße der Welt« in 2011. In AKP-Ära wurde das Fastenbrechen in
Luxushotels eine Modeerscheinung. Die »Antikapitalistischen Muslime« luden die
arme Bevölkerung zu ihren Fastenbrechen vor diesen Luxushotels ein und
protestierten so gegen die inszenierte »Fastenbrechen der Herrschenden«. Am 1.
Mai 2013 riefen sie die Muslime auf, in den Moscheen für die Rechte der
Arbeiter_innen zu beten und nach dem Gebet an den 1. Maifeiern teilzunehmen. In
Istanbul nahmen 1.100 antikapitalistische Muslime an der Kundgebung teil.
Durch ihre Teilnahme an den Protesten für den Erhalt
des Gezi-Parks in Istanbul wurden sie im Juni 2013 nun im ganzen Land bekannt
und machten insbesondere den Ministerpräsidenten Erdoğan wütend. Erstmals in
der Geschichte der Türkei beteiligte sich eine muslimische Organisation
gemeinsam mit Linken, Umweltschützer_innen, Feministinnen und Aktivist_innen
der Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen- und Trans*-Bewegungen an einem
regierungskritischen Protest.
Ohne Frage, die »Antikapitalistischen Muslime« sind
noch auf der Suche. Noch befinden sie sich in einem Diskussionsprozess, aber
ihre antikapitalistische Haltung scheint sich gefestigt zuhaben. So sind auf
ihrer Internetseite u. a. folgende Aussagen hervorgehoben: »Gebe dem Arbeiter von dem, was du selber isst, was du selbst anziehst
und lebe dort, wo der Arbeiter lebt« [5]; »Nicht die Arbeiter, sondern die Bosse werden [in der Hölle] schmoren«; »Die Akkumulation ist [zerstörerisch] wie Feuer«; »Ihr könnt zwei
Herren, dem Gott und dem Geld, nicht gleichzeitig dienen«; »Für die Rechte der armenischen und
alewitischen Bürger« oder »Ich erhebe
mein Haupt, also bin ich!«.
Die soziale Stimme des Islams: Ihsan Eliaçık
Die »Antikapitalistischen Muslime« lassen sich von dem
Theologen und Schriftsteller Recep İhsan Eliaçık inspirieren. Eliaçık, der
wegen seiner Mitgliedschaft in der Jugendorganisation der »Milli-Görüş-Bewegung«
[6] während des Militärputsch im September 1980 verhaftet und für Jahr im
Gefängnis gehalten wurde, hält sich demonstrativ zurück. Er sagt, dass er die
jungen Menschen in der Bewegung nicht dominieren wolle und deshalb keine
Funktionen übernommen habe. Eliaçık: »Die
jungen Menschen müssen ihren Weg selbst finden, mir reicht es, wenn sie sich
von meinen Büchern inspirieren lassen«. Ministerpräsident Erdoğan scheint
das nicht zu gefallen, er hat Eliaçık zum »Regierungsfeind« erklärt und eine
Anklage gegen ihn auf den Weg gebracht. Falls Eliaçık verurteilt werden sollte,
was aufgrund der Gleichschaltung der Justizverwaltung wahrscheinlich ist, wird
er Erdoğan 50.000,00 Türkische Lira ( ca. 18.300,00 Euro) zahlen müssen. Gegen
Eliaçık sind derzeit 30 Verfahren anhängig.
Eliaçıks Thesen begründen sich auf einer
Koraninterpretation, die jegliche Überlieferungen außeracht lässt und sich von
den gängigen Interpretationen der sunnitischen Rechtsschulen grundsätzlich
unterscheidet. Der Koran sei ein »starrer Text«, der von 14 Jahrhunderten
verfasst wurde und von den Muslimen immer nach ihren jeweiligen Kultur- und
Verständniscodes interpretiert werde. Islamistische Gruppe wie Al-Qaida oder
die Al-Nusra-Front würden den Koran »nach
ihren stark totalitären, autoritären, archaischen und gewalttätigen Vorstellungen
interpretieren«, ein freiheitlicher Mensch jedoch würde Koran als ein
freiheitlicher Text verstehen, so Eliaçık. [7]
Eliaçık, der bisher 20 Bücher – darunter eine
kommentierte Koranübersetzung und sein Hauptwerk »Der soziale Islam« -
veröffentlicht hat, ist der Auffassung, dass der Koran über eine explizite
Klassenperspektive verfüge, in ihrer Verfasstheit dem Sozialismus, gar dem
Kommunismus sehr nah stehe. Laut Eliaçık wird in zahlreichen Koranversen auf
die Eigentumsfrage und soziale Gerechtigkeit Bezug genommen.
So sei beispielsweise die Aussage, »das Eigentum
gehört Allah« als ein Vergesellschaftungsverpflichtung des Eigentums zu
verstehen. Eliaçık: »Zu sagen, dass das
Eigentum einer nichtsichtbaren Kraft gehört, bedeutet im Grunde genommen, dass
die ›Sichtbaren‹ kein Eigentum besitzen sollten bzw. alles der Allgemeinheit
gehören sollte«. Außer alles, was der Mensch nötig hat, brauche nicht
akkumuliert zu werden.
Eliaçık meint, dass alles Weltliche aus den
Koranversen herausgelesen werden kann, so z.B. die Rolle des Staates. Da der
Staat für die Konzentration von Autorität, Macht und Geld stehe, müssten diese »drei Götzen der Menschheit« in der
Gesellschaft gerecht verteilt werden. Eliaçık: »Alle Aufgaben außer der Koordination muss der Staat der Gesellschaft
überlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne Staat leben können. Aber da
dies nicht möglich ist, müssen wir nach der Devise, ›die beste Regierung ist
diejenige, die am wenigsten regiert‹ handeln und sollten dem Staat nur das
überlassen, was ohne ihn nicht aufrecht zu erhalten wäre. Ansonsten wird der
Staat zu einem Mittel der Autorität und Hegemonie«.
Was sich hier wie eine bürgerlich-liberale Forderung
anhört ist eher libertär und radikal-demokratisch. Denn Eliaçık plädiert
gleichzeitig für eine, die soziale Gerechtigkeit gewährleistende freiheitliche
und demokratische Gesellschaftsform, in dessen Zentrum der Mensch und die Natur
stehen müssten. In seinem Interview begründet Eliaçık dies wie folgend: »Die soziale Gerechtigkeit wird im Koran besonders
hervorgehoben, so z.B. in den Versen 117 und 118 der ›Taha-Sure‹. Dort steht
geschrieben: ›Hier ist für euch das Paradies. Hier werdet ihr nicht hungern,
nicht nackt bleiben, nicht dürsten, unter der Sonne nicht verbrennen‹. Nach dem
Koran ist das Paradies die Welt auf der wir leben. Paradies bedeutet
›natürliche, von Menschenhand nicht berührte Welt‹. Und die Hölle ist eine
Welt, die von Menschenhand ruiniert wurde. Schauen wir uns doch das an, was die
Menschenhand angefasst hat: wo Blut vergossen wurde, Kriege begonnen werden, der
Mensch ausgebeutet und die Natur verschandelt wird, dort ist die Hölle. Ich
interpretiere die Paradies-Hölle-Beschreibung im Koran auf diese Weise. ›Hier
ist für euch das Paradies‹ wird gesagt. Hier muss niemand verhungern. Die Menschen
dürfen nicht hungern, niemand sollte Hunger leiden. Das muss garantiert werden.
Wer kann das garantieren? Die Gesellschaft, über die Staatsorganisation! Es
muss eine Ordnung herrschen, in der kein Mensch hungert. Dann wird gesagt,
›hier werdet ihr nicht nackt bleiben‹. Das bedeutet sowohl Kleidung für Sommer
und Winter, als auch ein Obdach. Dann heißt es, ›ihr werdet nicht dürsten‹. Das
verstehe ich als die Befriedigung der materiellen und immateriellen
Grundbedürfnisse. Niemand sollte nach seinen Bedürfnissen dürsten. Hier sind
Bildung und Gesundheit die wichtigsten Bedürfnisse. Jede Person soll ohne
Behinderungen Bildung genießen und sollte nicht darüber nachdenken müssen, wo
ihre oder seine Gesundheit wieder hergestellt wird. Viertens heißt es, ›ihr werdet
nicht unter der Sonne verbrennen‹. Das bedeutet Sicherheit. Das sind
symbolische Begriffe des Korans und beschreiben die soziale Gerechtigkeit. Wo
die soziale Gerechtigkeit gewährleistet ist, sei es eine Kommune, ein Dorf,
Stadt oder Land – dort ist fast das Paradies laut Koran. Fast, denn übrig
bleibt das menschliche Verhalten. Die Menschen sollten wegen ihren Bedürfnissen
nicht miteinander kämpfen oder konkurrieren. Jede Person sollte ein Obdach
haben und jeden Morgen in der eigener Wohnung aufwachen. Die Grundbedürfnisse
der Menschen, wie Nahrung, Wasser, Bildung, Gesundheit oder Strom müssen
gewährleistet werden.
In einem
anderen Vers steht geschrieben, ›Wir haben auf der Erde alle notwendigen
Quellen geschaffen, damit die Menschen es untereinander zu gleichen Teilen
bekommen sollen‹. Oder wo anders steht geschrieben, ›Die Waren sollten zwischen
euch nicht zu einem Mittel des Staates oder der Unterdrückung werden‹. Oder in
dem 25. Vers der ›Meala-Sure‹, ›Die Armen haben Rechte auf den Waren der Reichen‹.
Auch das: ›Wenn jemand dich befragt, was du aus deinem Eigentum anderen geben
willst, dann sage, alles außer das, was ich benötige‹. Hier wird z.B. das
Steuerlimit beschrieben. Im Koran gibt es eine ganze Menge solcher Verse. All
das habe ich in meinem Buch ›Der soziale Islam‹ ausführlich beschrieben und
belegt. Hier sehe ich die Wurzeln des sozialen Gedankens«.
Starker Tobak, der von regierungsnahen Klerikern als
Frevel bezeichnet wird. Für sie ist Eliaçık ein »Nestbeschmutzer«. Den
Religionseiferern passt es überhaupt nicht in den Kram, dass ein belehrter
Gläubiger mit solchen Ansichten von einer Fernsehsendung zum anderen gereicht
wird und die offizielle Lesart des Korans offen kritisiert.
Es wäre vermessen in diesem Artikel die religiösen
Ansichten von Eliaçık und den »Antikapitalistischen Muslime« theologisch zu
bewerten. Darum geht es auch nicht. Es geht vielmehr darum, die
Überschneidungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen den »Antikapitalistischen
Muslimen« und linken, sozialistischen Grundvorstellungen hervorzuheben. Mit der
Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime« entsteht für die Oppositionskräfte
in der Türkei, allen voran für die kurdische Bewegung und Sozialist_innen, ein
neuer Bündnispartner, der die Sprache der türkischen Mehrheitsgesellschaft
spricht und das Potential hat, als eine Brücke zwischen der
religiös-konservativen Mehrheit und Linken zu fungieren.
Den »Praxistest« haben die »Antikapitalistischen
Muslime« während des Juni-Aufstandes [8] mit Bravour bestanden. Ihre
Aktivist_innen haben an den 19 Tagen der Okkupation des Gezi- Parks aktiv
mitgewirkt und die Regierungslegende von den »gottlosen Marodierenden« binnen
Tage als Lüge entlarvt. Ministerpräsident Erdoğan sprach bei jeder Gelegenheit
davon, dass »die marodierenden Terroristen unsere kopftuchtragenden Schwestern
angreifen« würden. Die Bilder von Muslimen im Freitagsgebet im Gezi-Park, wo
sie von Feministinnen, Sozialist_innen und LGBT*-Aktivist_innen vor
Polizeigewalt geschützt wurden, haben eine andere Sprache gesprochen.
Dabei blieb es nicht: Als sich der Protest auf die
zahlreichen Parkforen verlagerte, waren die »Antikapitalistischen Muslime«
dabei. Dis diskutieren und arbeiten mit anderen Initiativen zusammen. Sie sind
Teil der von zahlreichen Gruppen getragenen »Taksim-Solidarität« und werden
sowohl von feministischen Gruppen als auch von LGBT*-Initiativen eingeladen. So
hat Eliaçık zu Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*-Menschen eine klare
Position: »Ich bin der Auffassung, dass
LGBT*-Individuen mehr Unrecht erfahren als kopftuchtragende Frauen. Sie
benötigen unsere Unterstützung«.
Der Einfluss der »Antikapitalistischen Muslime« ist
inzwischen auch innerhalb linker Parteien spürbar. Als am 26. Oktober 2013 in
Ankara der erste Parteitag der HDP [9] stattfand, war auf dem Parteitagspräsidium
neben einem Armenier, einer Feministin, einem Schwulen u.a. auch eine Frau mit
Kopftuch vertreten.
Es mag sein, dass die »Antikapitalistischen Muslime«
es nicht einfach haben werden, sich gegen die neoliberalen Konvertiten, die den
Islam zum Instrument ihrer Herrschaft gemacht haben oder gegen die Macht der
unterschiedlichen offiziellen Rechtsschulen zu behaupten. Aber selbst wenn sie
zahlenmäßig klein bleiben sollten, so wird ihr Widerspruch in der islamischen
Welt immer zu hören sein. İhsan Eliaçık sagte, dass die jungen Menschen im
Gezi-Park einen wunderbaren Traum von Freiheit geträumt haben. »Das war aber keine Fiktion. (...) So ist es
immer: irgendjemand träumt etwas, andere glauben daran und die Welt wird mit
diesem Traum neugestaltet«.
Der Juni-Aufstand hat gezeigt, dass eine andere
Gesellschaft, eine andere Welt möglich ist. Wir konnten sehen, dass es möglich
ist, dass Menschen trotz unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen
politischen Positionen gegen die Allmacht der Herrschenden Widerstand leisten
können. Die »Antikapitalistischen Muslime« haben dazu einen wichtigen Beitrag
geleistet.
Auch wenn es sich vom Munde eines Sozialisten komisch
anhören mag: der islamischen Welt und den Muslimen ist zu wünschen, dass sie
den Weg zum Koran wieder zurückfinden mögen. Einem Koran, wie sie von Eliaçık
und den »Antikapitalistischen Muslimen« verstanden wird. Sollte dies gelingen,
wäre es eine wahrhafte Revolution, die das Gesicht der Erde verändern kann.
Ist das nicht ein schöner Traum?
***
[1] Werner Ruf: »Der Islam
– Schrecken des Abendlandes«, PapyRossa Verlag Köln, 2012, ISBN
978-3-89438-484-5.
[2] Armin Laschet: »Winter
statt Frühling für Syriens Christen«, in: FAZ vom 21. März 2013.
[3]
http://www.antikapitalistmuslumanlar.org
[4] Siehe: ebenda.
[5] Im Türkischen gibt es
keine Artikel, die Übersetzung ist wortwörtlich.
[6] »Milli Görüș«, also die
»Nationale Sicht« war die Programmatik der von Necmettin Erbakan geführten
islamistischen Parteien. Erbakan war mehrmals an Regierungen beteiligt und
wurde 1996 für zwei Jahre Ministerpräsident, bevor er von Militärs vom Amt
verdrängt wurde.
[7] Alle Zitate von Eliaçık
in diesem Artikel stammen aus einem Interview mit der Zeitschrift LuXemburg der
Rosa Luxemburg Stiftung. Das Interview wird in einer der nächsten Ausgaben
veröffentlicht.
[8] Siehe: Murat Çakır,
»Der Juni-Aufstand in der Türkei«, http://murat-cakir.blogspot.de/2013/10/der-juni-aufstand-in-der-turkei.html
[9] HDP: Demokratische
Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi) ist aus dem Demokratischen
Kongress der Völker (HDK) hervorgegangen und ist eine Bündnispartei, in der die
kurdische Bewegung, zahlreiche linke und sozialistische Gruppen,
unterschiedliche Initiativen von LGBT*-Gruppen, Feministinnen,
Umweltschützer_innen, Wissenschaftler_innen u.a. vertreten sind. Derzeit ist
die HDP mit 4 Abgeordneten, die bei den letzten Wahlen als unabhängige
Kandidat_innen gewählt worden sind, im türkischen Parlament vertreten –
darunter auch der prominente Filmemacher Sırrı Süreyya Önder. Am 26. Oktober
2013 wurden Sebahat Tuncel und der ehem. Studentenführer Ertuğrul Kürkçü zu
Co-Vorsitzenden gewählt. Inzwischen hat die kurdische Bewegung erklärt, dass
sie bei den nächsten Parlamentswahlen die HDP unterstützen werden. Bei den
Kommunalwahlen in 2014 wird in den kurdischen Gebieten die BDP (Partei de
Friedens und der Demokratie) und im Westen die HDP antreten.