Dienstag, 14. September 2010

Die vertane Chance der türkischen Linken

Eine Replik auf Sevim Dagdelens Gastkommentar in der Jungen Welt (v. 14.09.2010)

Wenn man etwas zu sagen hat, aber dabei die Blöße der eigenen Parteilichkeit nicht offenbaren will, wird es schwierig mit der Differenzierung. Der Gastbeitrag meiner Genossin Sevim Dagdelen zum Referendum in der Türkei ist in vieler Hinsicht undifferenziert und gibt nicht die Realitäten wieder. Der unterschwellige Vorwurf an die BDP, dass ihre Boykott-Haltung den Herrschenden genutzt habe, ist zynisch und unbegründet.

Es ist richtig, dass diese Verfassungsänderung an dem Wesen der zutiefst undemokratischen Junta-Verfassung festhält und nur eine kosmetische Verbesserung bedeutet. Aber unbedeutend ist es nicht, wenn der unantastbare Lack des militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregimes kleinere Kratzer bekommt. Dennoch wurde durch dieses Referendum das Regime nicht geschwächt, sondern bekommt weitere Handlungsmöglichkeiten um ihrer neuen subimperialistischen Rolle in der Region gerecht werden zu können. Nicht die Gefahr einer Islamisierung der Türkei ist nicht von der Hand zu weisen, sondern die Tatsache, dass mit einer islamisch angehauchten aber autoritären Pseudodemokratie eine militärische Regionalmacht entstehen wird, die längst in die globalen Interventionsstrategien des »Westens« kooptiert wurde.

Mit dem Referendum wurde der Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Teilen der Herrschenden deutlich: Auf der einen Seite die AKP, die mit der gewachsenen Kraft der anatolischen Bourgeoise die militärischen Machthaber zu einer Koalition zwingen konnte und auf der anderen Seite, die kemalistisch-nationalistischen Bewahrer des Status quo um die reformorientiere CHP und die neofaschistische MHP. Es war ein Machtkampf zwischen den Herrschenden, die für die AKP und ihre Koalition entschieden wurde, aber für beide Teile eine Niederlage bedeutet, weil sie ihre eigentlichen Ziele nicht erreicht konnten.

Teile der türkischen Linken haben bei diesem Machtkampf eine unrühmliche Rolle gespielt. Während die kurdische Bewegung mit den Forderungen um eine demokratische Verfassung, friedliche Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts und für die Beendigung der Militäroperationen sich für ein – wie am 12. September 2010 gesehen – von Millionen in den kurdischen Gebieten getragenen Boykott ausgesprochen hat, haben sich die VertreterInnen des »türkischen Sozialismus« selbst zum Spielball des herrschenden Blocks degradiert. Anstatt die uneingeschränkte Solidarität mit der kurdischen Bevölkerung auszusprechen, wurde versucht, die BDP und die kurdischen WählerInnen mit einer paternalistischen und diskriminierenden Haltung, je nach Positionierung der türkischen Linken, für ein bloßes »Ja« oder ein »Nein« zu bewegen.

Das Referendum offenbarte eine weitere Realität: die türkische Linke hat die Chance vertan, um ihrer kemalistischen Grundhaltung eine klare Absage zu erteilen und für eine demokratische Alternative ihren Beitrag zu leisten. Die radikale Demokratiebewegung im Osten des Euphrats hat im Westen keinen Ansprechpartner finden können. Die von Sevim Dagdelen als ein »breites Bündnis« bezeichnete »Linke« hat sich längst marginalisiert und gemeinsam mit den jenen Linken, die das »Ja« unterstützten, zu einer Manövriermasse der Herrschenden gemacht, die in der Gesellschaft kaum über Einfluss verfügt. Die BDP und sie unterstützenden radikaldemokratischen Linke und SozialistInnen in Westen wiederum, sind mit ihrem erfolgreichen Boykott zu Hoffnungsträgern der Demokratisierung für das ganze Land gewachsen.

Der Genossin Dagdelen würde ich empfehlen, nicht mit Steinen zu werfen. Denn die EMEP, der sie nahesteht und die anderen VertreterInnen des »türkischen Sozialismus« sitzen im gläsernen Haus. Und die einzigen Kräfte, die ihnen zur Hilfe eilen werden, wenn der türkische Staat wieder gegen die »türkischen« Linke vorgehen sollte, werden das kurdische Volk und ihnen zur Seite stehenden radikaldemokratischen Kräfte sein. Irgendwann, so hoffe ich wenigstens, wird die »türkische« Linke endlich ihren Organisationsegoismus ablegen und ihr »Weißsein« hinterfragen. Die türkeistämmigen Linken in Europa könnten dazu etwas beitragen – sofern sie über ihren eigenen Schatten springen können.

Murat Cakir ist Sprecher des Kreisvorstandes der Partei DIE LINKE. Kassel-Stadt und Kolumnist der Tageszeitungen »Günlük« (Türkei) und »Yeni Özgür Politika« (Deutschland)