Montag, 27. September 2010

Radikalisieren!

Über die »potentielle Friedensfähigkeit des Kapitalismus« und Imperialismusbegriffe – Eine Polemik zur Programmdebatte der LINKEN

Es geht ein Gespenst um in Europa – Nein, nicht das des Kommunismus, sondern das Gespenst eines biologisierenden und kulturalisierenden Sozialrassismus, der wie ein Pesthauch die bürgerlichen Gesellschaften Europas vergiftet. In ganz Europa ist zu verfolgen, wie rassistische und rechtspopulistische Parteien und Bewegungen in Parlamente einziehen und damit auch die etablierten Parteien zum »Tabubrechen« bewegen. Die sarrazinischen Eliten in den Medien, Hochschulen, Verbänden und Parteien sind derzeit dabei, die Grundwerte der europäischen Moderne – vorerst für einen Teil der Bevölkerung in Europa – hinfort zu tilgen.

Bedrängt durch den seit dreißig Jahre währenden neoliberalen Umbau, die Erosion sozialstaatlicher Errungenschaften, Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen und der vermeintlichen Bedrohung ihrer europäischen Hochkultur (!), erblinden die Mehrheitsgesellschaften in Europa mehr und mehr und verlieren durch die Angststarre gänzlich die Fähigkeit, die wahren Ursachen der sozialen Probleme und gesellschaftlichen Widersprüche zu erkennen.

Die Skandalisierung der Migration und der daraus resultierenden Herausforderungen wird mit infamen Behauptungen, welche mit pseudowissenschaftlichen »Fakten« untermauert sind, genüsslich für salonfähig erklärt. Dabei ist nicht diese Skandalisierung das eigentliche Problem, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die Behauptungen plausibel gemacht werden. Der Ruf nach Versachlichung dieser Debatte ist zynisch, weil nichts an ihr sachlich ist und verdeckt zugleich das Offensichtliche: dass wir europaweit in einer Einwanderungsgesellschaft leben und eine Haltung, mit der gesellschaftliche Verhältnisse nach Kosten-Nutzen-Erwägungen beurteilt und Arme sowie MigrantInnen zur Ausschlusspopulation erklärt werden,– auch in einer bürgerlichen Gesellschaft – schlicht und einfach inakzeptabel ist. Im Kontext der globalen Wirtschaftskrise wird damit deutlich, wem die Folgen der Krise auf die Schultern geladen werden sollen.

Es ist keine Binsenweisheit zu behaupten, dass die Migration seit Jahrzehnten für eine »Sündenbock-Politik« herhalten musste, mit deren Hilfe die Mehrheitsgesellschaften stets von den wahren Ursachen der wirtschaftlichen wie sozialen Problemen ablenken konnten. In der Vergangenheit wurde der Migration seitens der verantwortlichen Politik mit einer bewussten Realitätsverweigerung, Tabuisierung und Ignoranz begegnet. Mit institutionalisierten Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen und der Stigmatisierung der MigrantInnen und Flüchtlinge zu »sozialen Problemgruppen«, die sich aufgrund ihrer »kulturspezifischen Integrationsbarrieren« zum »sozialen Sprengstoff« entwickelt hätten, wurde der legitimatorische Überbau von rassistischen Argumentationen produziert.

Heute wiederum nehmen sich selbsternannte Leistungsträger in sarrazinischer Art das quasi »naturgegebene« Recht, um über die Daseinsberechtigung anderer gesellschaftlicher Gruppen zu urteilen und charakterisieren die muslimischen MigrantInnen und Flüchtlinge mit der demagogischen Hervorhebung von »biologischen und kulturspezifischen Defiziten« zum »Bedrohungspotential« für die Zukunft Europas. Dieser Frontalangriff des Sozialrassismus macht bei den Muslimen nicht halt: auch einheimische Arme, Arbeitslose und auf Hilfe Angewiesene werden zu »Sozialschmarotzern« erklärt. Damit wird eine Argumentationshilfe aufgebaut, mit der Beschränkungen von sozialen wie demokratischen Rechten legitimiert und diese, zuerst angewandt auf einen Teil, dann auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet werden sollen.

Bei diesem Frontalangriff der neoliberalen Eliten ist nicht nur deren Demagogie empörend, gleichzeitig die darin enthaltene Konsequenz, Hierarchien in den bürgerlichen Gesellschaften als unverrückbar und damit den Kampf um ein besseres Leben für sinnlos zu erklären.

Gerade die gesellschaftliche und politische Linke müsste es besser wissen: nicht die Migration, sondern die politischen Entscheidungen sind es, die für die Verarmung und soziale Deklassierung bestimmter Teile der Bevölkerung verantwortlich sind. Nicht die Armen und Muslime machen das Problem aus, sondern der Kapitalismus, der ständig Armut und Rassismus produziert und eine bürgerliche Gesellschaft, die sich über Ausgrenzung definiert.

Friedensfähige Potentiale des Kapitalismus?

Selbst den radikal reformistischen Linken dürfte es nicht entgangen sein, dass die gesellschaftlichen Widersprüche, der Rassismus und Wohlstandschauvinismus auf den herrschenden Kräfte- und Eigentumsverhältnissen beruhen und die Armut, das Auseinanderdriften der Gesellschaft, die Stigmatisierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen von einer Politik, die ebenfalls auf diesen Verhältnissen basiert, tagtäglich reproduziert wird. Nur wer aus seiner privilegierten Situation heraus und aus einer nationalstaatlich eingegrenzten Perspektive in die Welt schaut, wird den Zusammenhang zwischen den wohlstandschauvinistischen und sozialrassistischen Tendenzen, die sich in der gesellschaftlichen Mitte immer mehr verankern und dem neoliberalen Umbau, restriktiver Innen- und Sozialpolitik, Abbau demokratischer Rechte und der sich verstetigenden Militarisierung aller Lebensbereiche, negieren können. Von Linken, unabhängig welcher Couleur aber, kann mindestens erwartet werden, die Dialektik dieses Zusammenhangs zu erkennen.

Wenn sich nun Linke in der Programmdebatte zur Wort melden und aus ihrer »reformerischen Sichtweise« heraus behaupten, dass sie eine »potentielle Friedensfähigkeit des Kapitalismus« (13 Thesen des fds) erkannt haben, dann müssen sie sich auch die Frage gefallen lassen, worin diese Friedensfähigkeit des Kapitalismus denn nun bestehe, während er unendlich viele Male unter Beweis gestellt hat, dass er selbst in seinen Zentren die gesellschaftliche Spaltung nicht aufhalten, also den gesellschaftlichen Frieden erhalten kann – geschweige denn in der Welt. Welche friedensfähigen Potentiale des Kapitalismus können angesichts der alltäglichen Reproduktion von Gewalt, Hass, Ausbeutung, Armut und Kriegen ausgemacht werden? Diese Frage bedarf einer Antwort, die mehr als Phrasen über »konkrete Auseinandersetzung um fair gesteuerte Globalisierung, politisch kooperative Ordnungsmuster« oder »transformatorische Prozessbeschreibungen bei der Schaffung einer neuen Sicherheitsarchitektur« beinhalten sollte.

Sicher, wer ein eurozentristisches Weltbild hat und mit einer (EU-)nationalstaatlichen Brille seine Visionen entwickelt, wird es einfach haben, in einer der reichsten Gegenden der Welt friedensfähige Potentiale des Kapitalismus zu erkennen. Doch wer sich zu den unverzichtbaren demokratisch-sozialistischen Grundideen, nämlich »den individuellen Freiheitsrechten als Prinzip einer solidarischen und freiheitlichen Gesellschaft, dem notwendigen sozial-ökologischen Umbau sowie der Gesellschaftsveränderung durch einen längeren, schrittweisen emanzipatorischen Prozess« (Programmentwurf) bekennt, der sollte neben dem »Mut zur Reform« den Mut zu mehr Demokratie und radikaler Kritik der kapitalistischen Verhältnisse zeigen.

Während in den 13 Thesen des »forums demokratischer sozialismus« zu Recht darauf hingewiesen wird, dass »Geschlechterverhältnisse, Herrschafts- und Diskriminierungsverhältnisse miteinander verwoben« sind und »darauf aufbauend emanzipatorische Strategien« zu entwickeln sind, sucht man vergebens auf einen Hinweis zu den migrationspolitischen Herausforderungen. Sind denn nicht gerade in diesem Politikbereich transformatorische Reformprojekte notwendig und das im hier und jetzt?

Der einstimmig beschlossene Programmentwurf geht hier viel weiter: Die Ausführungen unter dem Punkt »2. Wie wollen wir entscheiden? Demokratisierung der Gesellschaft« sind grundsätzlich, auch aus migrationspolitischer Hinsicht zu unterstützen. Aber gerade die aktuelle Debatte um Migration macht deutlich, dass die programmatischen Aussagen zu »Einwanderungsland Deutschland« und »Antidiskriminierungspolitik« mehr bedürfen.

Notwendig ist m. E. die Formulierung einer anationalen Politik, die aus der Perspektive der Schwächsten der Gesellschaft entwickelt wird und die Demokratie nicht als eine ausgereifte Entwicklung, sondern als ein ständig zu erneuernder Demokratisierungsprozess verstehend, für einen neuen Gesellschaftsvertrag streitet. Wer Deutschland als Einwanderungsland anerkennt, muss die Schlussfolgerung ziehen, dass auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik ein neuer Gesellschaftsvertrag, also eine neue demokratische Verfassung notwendig ist, damit alle Menschen, die in Deutschland leben, unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Religion, Nationalität oder Ethnie, alle Grundrechte, die ein jeder Mensch von Geburt an hat, gleichberechtigt genießen und nutzen können. Politische und soziale, individuelle und kollektive Rechte, die für DIE LINKE zusammen gehören, sind dann eben keine echten Rechte mehr, wenn diese nur einem Teil der Bevölkerung zugestanden werden und ein anderer Teil davon ausgeschlossen bleibt. Es ist an der Zeit, vielmehr längst überfällig, dass sich gesellschaftliche wie politische Linke für die Entnationalisierung des BürgerInnen-Begriffes einsetzen.

MigrantInnen bedürfen keiner Fürsorglichkeit, die paternalistisch und entmündigend wirkt oder Geboten, mit denen ihr Verhalten in der Gesellschaft vorgegeben wird und an die sie sich zu halten haben, noch bevor sie gleichberechtigt dazugehören dürfen. Auch keiner »Integration«, die im Endeffekt, wie sie auch im Einzelnen ausgestaltet sein mag, die Assimilierung bedeutet. Aber sie bedürfen einer echten emanzipatorischen Strategie, die das Konstrukt »die Nation« hinterfragt, zu überwinden beabsichtigt und als Ziel das Recht auf ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben für alle formuliert. Der Programmentwurf ist für die Entwicklung einer solchen emanzipatorischen Strategie gut geeignet. Die Grundvoraussetzung dafür ist jedoch, dem Eurozentrismus und dem »Weißen« Paradigma eine klare Absage zu erteilen.

»…und der Arme sagte bleich: wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«

Wie sehr auch Linke von eurozentristischen Sichtweisen und dem Paradigma des »Weißen« beeinflusst sind, macht die Kritik der fds am Imperialismusbegriff des Programmentwurfs deutlich. In den »13 Thesen« heißt es u. a. dass »mit dem programmatisch wenig tauglichen (…) Imperialismusbegriff, (…) im Ergebnis eine politisch fragliche, vereinfachte Darstellung der Vielschichtigkeit internationaler Beziehungen vorgenommen« werde.

Nun, es mag durchaus anziehend sein, in einem reichen Teil der Erde, die über einen überdurchschnittlichen Wohlstand, vermeintliche Freiheiten und über die Vorzüge der globalisierten Märkte verfügt, die Leichtigkeit des Sinnierens über den Begriff des Imperialismus zu genießen. Wer jedoch diesem Genuss verfällt, blendet die Tatsache aus, dass der Reichtum des Westens auf dem Armut der übrigen Welt basiert und die europäische Moderne nicht unbedingt das höchste Glück der Menschheit ist.

Aus der Perspektive beispielsweise eines afghanischen Bauern, einer irakischen Witwe, eines afrikanischen Waisen oder der rund 1 Milliarde Menschen, die aufgrund von völkerrechtswidrigen Kriegen, Besatzungen und der Verteidigung von freien Handelswegen für westliche Konzerne, sprich, der Aufrechterhaltung einer imperialistischer Politik an Hunger und Armut leiden, ist es mehr als Hohn, wenn der »Imperialismusbegriff« zur »fraglichen, vereinfachten Darstellung der Vielschichtigkeit internationaler Beziehungen« degradiert wird.

Erschreckend ist zudem, dass die Kritik des Imperialismusbegriffs und an den friedenspolitischen Aussagen des Programmentwurfs mit der Terminologie derer, die die Außenpolitik Deutschlands und der EU immer weiter militarisieren wollen, untermauert wird. Was ist links in einem von der fds gewünschten Programmentwurf, der die »Merkmale (…) realistischer transformatorischer Prozessbeschreibungen bei der Schaffung einer neuen Sicherheitsarchitektur« (»13 Thesen«) trägt? Was für eine »Sicherheitsarchitektur«? Zu wessen Lasten? Und wessen Sicherheit soll vor welcher Bedrohung architektonisch geschützt werden?

Wissen die AutorInnen der »13 Thesen« nicht, dass es keine Geringeren als die Herren Barosso und Cooper waren, die für ihren »gutmütigen Imperialismus der EU«, der »untereinander unter Beachtung des Rechts und der kooperativen Sicherheit agiert, aber mit aller Härte das Gesetz des Dschungels anzuwenden hat, wenn sie im Dschungel operiert« genau den Begriff der »Schaffung einer neuen Sicherheitsarchitektur« benutzen, um die Militarisierung der EU voranzubringen? Was ist fraglicher und vereinfachend: »zu sagen, was es ist« oder das Hinterfragen des »Imperialismusbegriffes«?

Auch die Annahme der »13 Thesen«, dass »mit der [NATO] in über 20 Mitgliedsstaaten Bevölkerungsmehrheiten ihr Sicherheitsbedürfnis verbinden« ist höchst entlarvend. Ohnehin ist die Überflüssigkeit der NATO als Militärbündnis seit dem Ende des Kalten Krieges zu Genüge bewiesen. Oder sind die AutorInnen der »13 Thesen« der Auffassung, dass beispielsweise die Bevölkerungsmehrheit in dem NATO-Mitgliedsstaat Türkei in vollen Zügen die »Sicherheit der NATO« genießt? Das ist wohl zur kurdischen Bevölkerung, die seit 30 Jahren unter einem schmutzigen Krieg, welches auch ein NATO-Krieg ist, leidet, bisher noch nicht durchgedrungen.

Die GenossInnen der fds mögen internationale militärische Einsätze nicht immer per se ablehnen – solange sie sich nicht vor Bomben zu verstecken brauchen, ist es ja einfach. Fraglich ist jedoch, wie diejenigen Bevölkerungen denken, in deren Länder diese militärischen Einsätze stattfinden. Ein bisschen mehr an Empathiefähigkeit wäre doch zu erwarten, oder?

Die GenossInnen der fds finden es falsch, dass »im innerparteilichen Diskurs die Suche nach Antworten auf diese Widersprüche und Herausforderungen als Vernachlässigung friedenspolitischer Grundpositionen oder gar Selbstaufgabe mit dem Ziel der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene denunziert« werden. Falsch ist es aber, richtige Antworten auf falsche Fragen zu suchen. Regierungsbeteiligung hin oder her: »Kriege und Militärinterventionen sind weder politisch geeignet und erfolgversprechend, noch moralisch vertretbar und völkerrechtlich zulässig, um Menschenrechte durchzusetzen«. (Gregor Schirmer) Die friedenspolitischen Aussagen des Programmentwurfs sind für das Selbstverständnis unserer Partei von grundsätzlicher Bedeutung und machen dadurch DIE LINKE zu dem, was sie ist und bleiben sollte: eine konsequente Friedenspartei, die – wie zuletzt in NRW bewiesen – mit dieser Position auch Wahlen erfolgreich bestreiten kann. Die Infragestellung dieser grundsätzlichen Position ist nichts anderes als die Infragestellung einer linken Friedenspolitik an sich.

Es steht außer Frage: die friedenspolitischen Aussagen des Programmentwurfs sind eine von der Mehrheit der Parteimitglieder getragene grundsätzliche Gemeinsamkeit, welche auch für die WählerInnen den bedeutsamen Charakter der Partei ausmachen. Diese grundsätzliche Gemeinsamkeit durch einen »eigenen Parteitagsbeschluss« außerhalb der Programmdebatte aufgeben zu wollen, ist kein geeigneter Weg, die innerparteiliche Demokratie aufrecht zu erhalten. Dieser Weg würde unweigerlich dazu führen, dass die friedenspolitischen Prinzipien unserer Partei zur Disposition gestellt und am Ende relativiert werden.

Die Relativierung würde überdies den gesamten Programmentwurf ad absurdum führen. Wie auch Herbert Wulf und Johannes M. Becker zu recht hervorheben, besteht zwischen »externer Aggression und interner Repression« ein enger Zusammenhang. »Die schleichende Militarisierung unserer Gesellschaft und die spürbare Einschränkung wesentlicher Grundrechte in Zusammenhang mit dem ›Kampf gegen den internationalen Terrorismus‹ (…) geben Lehrbeispiele dafür«. (Wulf/Becker)

Womit wir wieder am Anfang wären. Freiheiten und Gleichheit, Frieden und Demokratie sind unzertrennbar miteinander verbunden – so lehrt es uns unsere eigene Geschichte. Weicht man das eine auf, wird das andere obsolet.

Mut zu mehr Radikalität

Von Linken angestrebte Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse muss, und da hat das fds recht, radikal, also im Wortsinne an die Wurzel gehend sein. Der scheinbare Widerspruch zwischen Reform und Revolution ist längst keiner mehr. Zwar wird DIE LINKE aufgrund ihrer Zusammensetzung keine »revolutionäre Realpolitik«, wie sie von Rosa Luxemburg beschrieben wird, umsetzen können. Sie ist nun mal keine »Klassenpartei«. Aber zu einer radikalen Realpolitik ist sie mit dem vorliegenden Entwurf des Parteiprogramms durchaus in der Lage.

Diese Radikalität ist keineswegs eine als »Extremismus oder Sektierertum« verstandene Radikalität, wie sie von den neoliberalen Eliten diffamierend dargestellt wird. Diese Radikalität ist eine Radikalität, die von einem Bewusstsein geprägt ist, dass die Elemente des »Morgen« sich im »Heute« befinden, die auf Lösungen im Hier und Heute ausgerichtet und realistisch ist, die kurzfristig anwendbare Lösungen zu entwickeln und im realen Leben der Menschen verankert reale Politik zu entfalten vermag – und die, somit eine Brücke zwischen dem »Heute« und »Morgen« schlagend, nachweisen kann, dass das Morgen schon im Heute erlebbar gemacht werden kann.

Ein solches Verständnis macht eine Politik notwendig, die gleichzeitig radikal und real sein muss. Notwendig ist der Wille, Radikalität und Realismus unzertrennbar miteinander zu verbinden. Gebraucht wird eine Politik, die für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen im Hier und Jetzt entwickelt wird und sich mit dem Ziel, die Republik zu demokratisieren und dafür breite gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden, und den parlamentarischen mit dem außerparlamentarischen Kampf auf allen Ebenen verbindend, radikalisiert.

Doch die Voraussetzung dafür ist die radikale Kritik der Verhältnisse. Ohne jeden Politikbereich an die Wurzel gehend zu analysieren, wird jede linke Realpolitik zu einer unumkehrbaren Anpassung an »Sachzwänge« verkümmern und die Glaubwürdigkeit der LINKEN beschädigen. Die Geschichte der Sozialdemokratie und der Grünen sollten uns mahnendes Beispiel sein.

Aber eine radikale Realpolitik, die sich von der radikalen Kritik der Verhältnisse ableitet, wird ohne eine unbarmherzige radikale Selbstkritik jeden Sinn verlieren. Die radikale Selbstkritik ist in erster Linie an das gemeinsame politische Instrument, nämlich die Partei und an deren Entstehungsprozess selbst, ihren Standpunkt, ihre Praxis und selbstverständlich auch an die sie bildenden Kräfte zu richten. Kein politisches Instrument, keine Organisation ist in Beton gegossen. Gerade eine linke Partei wird, ohne sich, ihre Struktur und ihre Politik gegenüber den sich verändernden Verhältnissen unserer Zeit zu überprüfen, zu erneuern, ohne offen zu sein für Kritik von außen, ohne sich zu korrigieren und sich gegebenenfalls gänzlich neu zu strukturieren, ihrem Anspruch, federführend für eine gesellschaftliche Veränderung tätig zu werden, gerecht werden können. Ein Verständnis, welches die Partei als Mittel für die Politik und dieses Mittel als eine Widerspiegelung der Transparenz von oben nach unten, der Partizipation, Pluralität und Vielfältigkeit sowie der Offenheit gegenüber Kritik und Anregungen gesellschaftlicher Kräfte sieht, könnte der Garant für eine solche Politik sein. Gerade eine linke Parteiformation sollte im Leben derjenigen, dessen Interessen sie doch vertreten will, fest verankert sein und ihre Politik offen und unter direkter Einflussnahme der Bevölkerung entwickeln – sonst wird sie keine Zukunftsperspektive haben.

Die Grundvoraussetzung dafür ist das Bekenntnis zur radikalen Demokratie. Erst wenn DIE LINKE innerhalb der eigenen Strukturen eine breite, grenzenlose und barrierefreie Demokratie verwirklichen und gleichzeitig die radikale Demokratie für das Land und darüber hinaus auf ihre Fahnen schreiben kann, wird sie zur Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse ihren Beitrag leisten und Voraussetzungen für grundsätzliche Veränderung und emanzipatorische Transformation schaffen können.

Kurzum; die Stärke des Programmentwurfs liegt darin, dass er diese Radikalität ermöglichen kann. An uns liegt es, den Mut dafür zu zeigen.

Murat Cakir ist Sprecher des Kreisvorstandes Kassel-Stadt.