Mit der Ernennung von Necdet Özel zum türkischen Generalstabschef stehen die Zeichen auf Sturm. Ein Gespräch mit Murat Çakır. Junge Welt vom 5. August 2011
F: Deutschsprachige Kommentatoren haben sich vom Rücktritt der türkischen Armeeführung eine Demokratisierung der Armee erhofft, sie sprachen sogar von einer „Kapitulation“ der Armee vor der zivilen Macht. Überrascht Sie die Ernennung Necdet Özel, den Sie als Kriegsverbrecher bezeichnen, zum neuen Generalstabschef?
Überrascht war ich nicht. Es gab seit langem einen Machtkampf zwischen der Regierung und den Militärs, in dem die AKP-Regierung von den USA unterstützt wurde. Aber dabei geht es nicht um eine strukturelle oder verfassungsmäßige Änderung des Systems. Daraus hat sich ergeben, daß die AKP als neue Staatspartei nun die volle Macht hat.
F: Galt die Armee nicht bisher als Garant für die Westbindung der Türkei?
Es ist eine Konstante der türkischen Politik, sich an den Westen zu binden. Daran hält sich auch die AKP-Regierung. Die Macht der Generäle wurde zwar beschnitten, aber die Demokratisierung ist auf der Strecke geblieben. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung ist zudem nationalistisch und konservativ eingestellt. Die Wahlergebnisse für die AKP, die es geschafft hat, den neoliberalen Kapitalismus islamisch zu legitimieren, bestätigen das. Bei den Parlamentswahlen hat sie knapp 50 Prozent erreicht.
F: Viele türkische Offiziere sitzen wegen mutmaßlicher Zugehörigkeit zu der nationalistischen Verschwörergruppe „Ergenekon“ in Haft. Was sind die Hintergründe?
Der Ergenekon-Prozeß ist im Endeffekt eine Art Darmreinigung des Systems. An seinen Strategien ändert sich dadurch nichts. In der Außen- und Verteidigungspolitik sowie im Umgang mit der kurdischen Bewegung gibt es einen engen Schulterschluß zwischen Armee und AKP. Im Kampf um die Aufteilung der Macht zwischen ihnen ist der Ergenekon-Prozeß ein Hebel.
F: Erscheint der Rücktritt der Armeeführung im Nachhinein als Schachzug, wenn man bedenkt, daß ein Großteil der Zurückgetretenen kurz vor der Pensionierung stand und Necdet Özel als Hardliner der alten Garde gilt?
Auf jeden Fall. Ein Teil der Kommandeure der Teilstreitkräfte wäre sowieso Ende August in den Ruhestand getreten. Oberbefehlshaber Işık Koşaner hätte noch zwei Jahre vor sich gehabt. Mit Necdet Özel hat die Regierung jemanden an der Hand, der verläßlich für ihre Außenpolitik und eine härtere Gangart gegenüber der kurdischen Bewegung einsteht. Kurdische und türkische Linke gehen davon aus, daß es in den nächsten Wochen ein Großangriff auf kurdische Stellungen geben wird. Regierung und Armee sollen sich geeinigt haben, mit einer „kontrollierten Eskalation“ die kurdische Bewegung endgültig zu zerschlagen und 5 000 bis 10 000 Tote in Kauf zu nehmen.
F: Welche Anhaltspunkte gibt es dafür?
In Kommentaren der türkischen Presse wird in letzter Zeit verstärkt darauf hingewiesen, daß die tamilische Widerstandsbewegung in Sri Lanka auch zerschlagen wurde, indem man entsprechend hohe Opferzahlen in Kauf nahm – und daß es durchaus möglich sei, mit militärischer Härte erfolgreich gegen eine „terroristische Organisation“ vorzugehen. Man liest es von Chefredakteuren, man hört es von Abgeordneten – und die Menschenrechtsorganisationen nehmen das sehr ernst. In den türkischen Massenmedien wird auch über Necdet Özel nur positiv berichtet. Daß er 1999 als Brigadegeneral für den Einsatz international geächteter Chemiewaffen gegen kurdische Guerillakämpfer in der Provinz Sirnak verantwortlich war, ist kein Thema. Das ist allerdings dokumentiert und sollte weiterverbreitet werden. Der kurdische Fernsehsender Roj TV hat entsprechendes Videomaterial ausgestrahlt. 20 PKK-Guerillas starben damals in einer Höhle, die mit Gasgranaten beschossen wurde. Auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten der damaligen PDS, Ulla Jelpke, hat die Bundesregierung ausweichend geantwortet, die Türkei sei Vertragsstaat des Abkommens über das Verbot Chemischer Waffen von 1997 und unterliege dementsprechend Überwachungsmechanismen.
F: Sie haben in einer gemeinsamen Erklärung mit Jelpke und anderen Politikern der Linkspartei die Ernennung von Özel zum Generalstabschef verurteilt. Welche Konsequenzen erwarten Sie von der Bundesregierung bei der Gestaltung ihrer Türkeipolitik?
Ich denke, die Bundesregierung hält an ihrer Konstante, das NATO-Mitgliedsland Türkei zu stärken, auch weiterhin fest. Komme, was wolle. Realistisch erwarte ich weder von der Bundesregierung noch von den USA eine Positionierung dagegen.