Die Türkei nach den Parlamentswahlen – eine Analyse
Veröffentlicht im: Sozialismus Juni/Juli 2011
Bei den Parlamentswahlen in der Türkei hat die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) erneut die Wahlen gewonnen, aber ihr hochgestecktes Ziel einer verfassunggebenden Zweidrittelmehrheit nicht erreicht. Mit einem Stimmenanteil von 49,9% (2007: 46,5%) wird sie wieder die Regierung stellen. Die CHP (Republikanische Volkspartei) hat mit 25,9% (2007:20,8%) zwar deutlich dazu gewonnen, wird aber gleichwohl als Wahlverliererin angesehen. Die ultranationalistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) erhielt knapp 13% und hat damit gegenüber der letzten Wahl (14,3%) Stimmen verloren.
Die zweite Wahlgewinnerin war das von der prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) sowie von verschiedenen linken und sozialistischen Parteien gebildete Linksbündnis (Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit). Es trat mit unabhängigen KandidatInnen an und kann mit 36 Abgeordneten eine Parlamentsfraktion bilden, sofern der Abgeordnetenstatus der sechs in der Untersuchungshaft gehaltenen BDPler anerkannt wird. Die Wahlbeteiligung lag mit rund 87% höher als bei den letzten Wahlen.
Auf Grund der sich aus dem Wahlergebnis ergebenden Sitzverteilung (AKP:326, CHP: 135, MHP: 53 und Linksbündnis: 36 Sitze) kann AKP die alleine regieren.[1] Derzeit wird in einigen Medien darüber spekuliert, dass die AKP einige Abgeordnete anderer Parteien für sich zu gewinnen suchen werde, um die für Verfassungsänderungen im Sinne der AKP notwendige Zahl von 330 Abgeordneten zu erreichen.
Im nächsten türkischen Parlament werden wieder weniger Frauen vertreten sein. Mit 78 weiblichen Abgeordneten liegt der Frauenanteil bei nur 14%. Beim Linksbündnis sind es dagegen 30%. Bei der BDP ist eine 40-prozentige Frauenquote auf allen Ebenen in der Satzung verankert.
Den Wahlerfolg der AKP in 2007 konnte man noch mit ihrer Orientierung auf formale Demokratisierung erklären. 2011 greift diese Erklärung jedoch nicht mehr. Die Parlamentswahlen vom 12. Juni 2011 fanden unter erschwerten Bedingungen einer polarisierten Gesellschaft und einer Situation statt, die von einem ungeheuren Druck auf oppositionelle Kräfte, unabhängige Medien, auf Meinungs- und Pressefreiheit, Einflussnahme auf die Justiz sowie die Entsolidarisierung breiter gesellschaftlicher Teile durch Sozialabbau gekennzeichnet war. In keiner bisherigen Parlamentswahl wurde in der Regierungspropaganda derart auf Nationalismus, Chauvinismus und einer rückständigen Sexualmoral gesetzt wie in 2011. Eine demokratische Wahl sieht wahrlich anders aus.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass im nächsten Parlament knapp 96% der WählerInnen vertreten sein werden. Während 2007 rund 30% der Stimmen für Parteien abgegeben wurden, die an der Zehn-Prozenthürde gescheitert sind, lag dieser Anteil 2011 bei nur 4,6%. Ein wesentlicher Grund dafür scheint die erfolgreiche AKP-Strategie zu sein, für alle möglichen konservativen und nationalistischen WählerInnen eine Auffangposition anzubieten. Dadurch wurden die konservative DP (Demokratische Partei), die radikalislamische Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) und ihre sozialkritische Abspaltung HAS Parti (Partei der Stimme des Volkes) mit jeweils weniger als 1% zu Splitterparteien.
Die Gründe für den AKP-Sieg
Obwohl laut dem anerkannten Umfrageexperten Adil Gür sich das WählerInnenprofil seit 25 Jahren kaum verändert hat, konnte die AKP bei diesen Wahlen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten WählerInnen für sich gewinnen. Interessant ist dabei, dass die AKP häufiger von Frauen gewählt wurde (55%) als von Männern (45%). Dafür gibt es mehrere Gründe.
Gür ist der Auffassung, dass bei dem Wahlverhalten in 2011 vor allem die sozialen »Dienstleistungen« der AKP-Regierung eine wichtige Rolle gespielt haben. Er spricht von einer »Dienstleistungs-, Stabilitäts- und Erdogan-Wirkung« und stellt zudem fest, dass je niedriger Bildung und Einkommen sei, »desto höher die AKP-Zustimmung«.
Prof. Dr. Ayşe Buğra von der Universität Boğaziçi stützt diese These[2]. Die neoliberale Politik und der immense Sozialabbau hätten »der AKP Stimmengewinne gebracht«. Das ist kein Widerspruch in sich, denn gerade die von der AKP systematisch ausgehöhlten sozialen Sicherungssysteme waren durch die Ausgrenzung breiter Teile der Gesellschaft gekennzeichnet. Während die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten von den sozialen Rechten – mehr schlecht als recht – profitiert haben, kennt der informelle Sektor, in dem die meisten Erwerbstätigen beschäftigt sind, keinerlei soziale Sicherheiten. Wenn man bedenkt, dass von den, laut der staatlichen Statistikbehörde TUIK, rund 22 Mio. Beschäftigten gerade einmal knapp eine Mio. gewerkschaftlich organisiert und nur etwa die Hälfte sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, war eine wirksame Gegenwehr gegen den Sozialabbau nicht zu organisieren. So konnte die AKP die, die um den Erhalt ihrer sozialen Rechte kämpften und die, die diese Rechte nie besessen haben, erfolgreich auseinander dividieren. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte gegen die des informellen Sektors und Arme gegen Mittelschichten – das war die politische Strategie der letzten vier Jahre.
Dabei gab es für die armen Schichten spürbare Erleichterungen. Die Fortentwicklung der 1992 eingeführten »Grünen Karte« für Bedürftige im Gesundheitssystem ist zwar keineswegs eine sozialstaatliche Errungenschaft, aber für jene, die an der Armutsgrenze leben und keine Versicherung haben, eine lebensnotwendige Hilfe. Mit der Einbeziehung der »Grünen Karte« in die Privatisierung des Gesundheitswesens konnte die AKP große Zustimmung sowohl für die Privatisierungen als auch für den Abbau der Rechte der Beschäftigten des Gesundheitswesens gewinnen. Die Möglichkeit, mit der »Grünen Karte« in jedes Krankenhaus eigener Wahl gehen zu können – auch in die privaten Krankenhäuser – wird von den ärmeren Schichten als eine »Revolution« angesehen.
Doch statt eines sozialstaatlichen Systems wurde so ein religiös motiviertes und paternalistisches Almosensystem etabliert. Diese gefühlte Revolution und die Tatsache, dass laut TUIK rund 18% der Gesellschaft an der Armutsgrenze lebt, erklären die erhöhte Zustimmung der ärmeren Schichten für die AKP. Prof. Dr. Buğra ist der Auffassung, dass »dieses Almosensystem zugleich ein Motor der Ausgrenzung der Frau aus der Erwerbsarbeit ist und mit den gesellschaftlichen Mainstream der Türkei korrespondiert«. Während die Erwerbsbeteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt im OECD-Durchschnitt 2009 etwa 62% betrug, lag diese Quote in der Türkei bei nur 28%. Dennoch konnte die AKP gerade bei Frauen aus den Unterschichten punkten, weil die »soziale« Hilfe an Familien in erster Linie an Frauen ausgezahlt wurde. Zudem wurden an sie auch günstige Mikrokredite vergeben.
Großspurige Projekte, die Modernisierung und der Ausbau der Überlandstraßen sowie Autobahnen, Schnellzüge, relativ günstige Inlandflüge, künstlich stabil gehaltene Wechselkurse, niedrige Zinsen für Verbraucherkredite und Wohnungsfinanzierungen, enorme Steigerung des staatlichen Wohnungsbaus gepaart mit einem medial perfekt inszenierten chauvinistischen Nationalstolz und religiöser Frömmigkeit haben die ärmeren Schichten der türkischen Gesellschaft beeindruckt und die überdurchschnittlich hohen indirekten Steuern vergessen lassen. Zudem konnte die AKP sich bei der individuellen Milderung der strukturell bedingten Ungleichheiten auf die Hilfe islamistischer Organisationen und die Mildtätigkeit der religiösen Mittel- und Oberschichten verlassen. So konnte die AKP mit kleinsten Verbesserungen und scheinbaren Veränderungen eine große Wirkung in der türkischen Gesellschaft erreichen.
Die »passive Revolution« der AKP
Seit 2002 hat die AKP systematisch daran gearbeitet, ihre gesellschaftliche Hegemonie aufzubauen[3]. Sie schaffte es, dass breite Teile der Gesellschaft die ökonomische Stabilität, den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung und die scheinbare Zurückdrängung der Generalität durch den charismatischen Führer Recep Tayyip Erdoğan (»Einer von uns«) als eine reale Veränderung des Status quo, gar quasi als eine »passive Revolution« empfanden.
Gramsci’s Begriff von der »passiven Revolution« ist mit Blick auf die Türkei von dem Soziologen Cihan Tugal[4] in Umlauf gebracht worden. Tugal weist daraufhin, dass die Ideologen der AKP »nicht nur den Kapitalismus, sondern auch das neoliberale Projekt den religiösen Massen als ›alternativlos‹ eingetrichtert« und »die Unterstützung der militärischen Interventionen der USA in der islamischen Welt als ›Notwendigkeit‹ einer muslimischen Außenpolitik dargestellt« haben. Es komme daher nicht von ungefähr, dass die regierungsnahen Medien jeden Widerstand gegen die Flexibilisierung und andere neoliberale Maßnahmen stets als »Widerstände der kemalistischen Eliten« denunziert haben. Tulgar ist der Auffassung, dass die »neue islamische Elite, die durch ihre Wahlerfolge die Macht erlangt hat, für die Vergrößerung ihres Anteils an dem Kuchen die Gefühlskonzentrationen der dreißigjährigen islamischen Mobilisierung« sowie die von den religiösen Massen als »Ehre« verstandene Verteidigung der »religiösen Machthaber« gezielt für die Zustimmung der religiösen Massen zum Kapitalismus benutzt haben.
Es sieht wie ein Widerspruch aus, ist aber keiner: Die Hauptarchitekten des neoliberalen Umbaus sind die Islamisten. Die neoliberalen Konvertiten haben es leicht – sie gehen genau wie das Volk zum Beten in die Moscheen, sind zumeist mit kopftuchtragenden Frauen verheiratet, sprechen dieselbe religiöse Sprache und stammen meist aus denselben ärmeren Städten bzw. Stadtteilen. »Das ist das Geheimnis, warum dem Neoliberalismus in der Türkei nur minimal widersprochen wird, während auf der ganzen Welt die Massen auf die Straße gehen«. Darin liegt wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sogar im informellen Sektor prekäre Arbeitsverhältnisse von den Beschäftigten einfach hingenommen werden. Tugal: »Der Kapitalismus wurde mit religiösen Referenzen legitimiert«.
Mit ihrer neoliberalen Politik und den gezielten staatlichen Eingriffen in die Bedingungen der Kapitalakkumulation konnte die AKP auch die Mittel- und Oberschichten mehrheitlich für sich gewinnen. So wurde beispielsweise alleine das »Gesetz für öffentliche Ausschreibungen« insgesamt 17 Mal verändert. Dadurch erhielt die Regierung eine unmittelbare Entscheidungsgewalt über die Vergabe bei öffentlichen Ausschreibungen und konnte so regierungsnahe Unternehmen begünstigen. Zwar hat die AKP Bestechungen und Korruption einzelner Beamten bzw. Beamtengruppen unterbunden, ließ aber zu, dass sich in der türkischen Wirtschaft der Kostenkalkulationsposten »Politikanteil« – Spenden und Begünstigungen für die AKP – fest eingebürgert hat.
Die dem Ministerpräsidenten direkt unterstellte staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI mutierte zu einem Investitionsimperium, das landesweit an den Rändern der Großstädte neue Stadtteile aus dem Boden stampft und die Bauaufträge an regierungsnahe Unternehmen vergibt. Durch eine Gesetzänderung hat die AKP zudem die Möglichkeit geschaffen, auf staatseigenen Grundstücken bzw. Waldarealen illegal errichtete Gebäude nachträglich zu legalisieren. Die Legalisierung durch Grundbucheintragung ermöglicht – je nach Lage – steigert die Immobilienpreise um das bis zu Zehnfache (oder sogar mehr). Wenn man bedenkt, dass Grundstücksspekulationen einen großen Anteil an den Kapitalanlagemöglichkeiten in der Türkei haben, kann die große Wirkung dieser Maßnahme erahnt werden.
Die Renditeerwartungen, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Niedriglöhne, Privatisierungen, Förderung der privaten Kapitalakkumulation durch öffentliche Investitionen in Megaprojekte und die gewerkschaftsfeindliche Einstellung der Regierung sind die wesentlichen Gründe, warum Mittel- und Oberschichten die AKP unterstützen. Obwohl das traditionelle türkische Großkapital die Regierung durchaus öffentlich kritisiert und durch das Heranwachsen einer Konkurrenz in Form des »islamisch-grünen« Kapitals irritiert ist, ist ihm sehr wohl bewusst, dass die AKP derzeit die einzige politische Formation ist, die für den weiteren Kapitalzufluss aus den internationalen Finanzmärkten (hier insbesondere aus der arabischen Welt) sorgen kann.
Die AKP profitierte 2002 bei ihrer ersten Regierungsübernahme von der Stabilisierung der ökonomischen Situation des Landes, der Eindämmung der Inflation und der Staatsverschuldung. Nach der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise in 2001 war mit Unterstützung des IWF ein umfangreiches Reformprogramm umgesetzt worden. Die türkische Zentralbank wurde unabhängig und der Bankensektor straff reguliert. Durch diese Maßnahmen waren die türkischen Banken dann auch in der Lage, die globale Finanzkrise 2008/2009 relativ unbeschadet zu überstehen. (Vgl. auch: DIW Wochenbericht Nr. 24, 2011) Die neue AKP-Regierung konnte in Jahren bis zur Weltwirtschaftskrise die Früchte dieser Politik, die sich vor allem in einem beeindruckenden Wachstum der türkischen Wirtschaft zeigten, ernten.
Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 drohte dem Land und damit auch der AKP dann ein herber Rückschlag. Auch bedingt durch den massiven Abzug kurzfristig angelegten ausländischen Kapitals brach die Wirtschaftsleistung zwischen dem ersten Quartal 2008 und dem ersten Quartal 2009 um fast 13% ein. Auf die schwere Rezession folgte jedoch bereits ab Mitte 2009 eine rasche Erholung. Schon im zweiten Quartal 2010 hatte die Türkei das Vorkrisenniveau ihres Bruttoinlandsprodukts übertroffen. 2010 war das Land die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft Europas.
Eine der Gründe für diese schnelle und beeindruckende Erholung der türkischen Wirtschaft war der erhebliche Zufluss von ausländischem Kapital. Das Land genießt derzeit auf den internationalen Finanzmärkten aufgrund hoher Renditeerwartungen viel Vertrauen. Dabei fließt vor allem »hot money« in die Türkei. Doch darin liegt auch ein großes Risiko für das Land: Ein plötzlicher Abzug dieses auf kurzfristige Anlage zielenden ausländischen Kapitals würde die Türkei in eine schwere Krise stürzen. Selbst regierungsnahe Ökonomen warnen inzwischen vor dieser Abhängigkeit und verfolgen mit Argusaugen die Entwicklung des enormen Leistungsbilanzdefizites.
Noch aber kann die AKP auf den rasanten Aufschwung und die Tatsache, die achtgrößte Volkswirtschaft Europas geworden zu sein, bauen. Eine Wachstumsrate von 9% scheint weiterhin die Türkei weiterhin für internationale Investoren attraktiv zu machen. Doch, wie lange das noch gut gehen wird, ist offen.
Die neue Staatspartei: AKP
Nicht offen ist jedoch, dass die AKP zielgerichtet dabei ist, ein autoritäres Regime, dessen imperiale Gelüste allzu offensichtlich sind, aufzubauen. Dabei kann sie sich auf die stärker werdenden nationalistisch-chauvinistischen Einstellungen der türkischen Gesellschaft stützen. Die Umfrageinstitute weisen auf ein nationalistisches WählerInnenreservoir von über 70% hin. Dieses Reservoir hat die AKP noch nicht voll ausschöpfen können. Dennoch ist die Strategie Erdogans, mit extrem nationalistisch eingefärbter Wahlkampfrhetorik neue WählerInnengruppen an die AKP zu binden, aufgegangen. Seine Rede am Wahlabend weist unmissverständlich daraufhin, dass er sich dieser Tatsache bewusst ist und weiterhin an dieser Politik festhalten wird.
Die AKP, die im Grunde eine Koalition unterschiedlicher islamisch-islamistischer und konservativen Kräfte ist, konnte unter der Führung von Erdogan die Transformation des alten militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregimes vorantreiben. Was in der türkischen Gesellschaft – und auch im Ausland – als ein »Zurückdrängen der Generalität« angesehen wird, ist im Endeffekt ein neues Bündnis der alten und neuen Machthaber. Was die politischen, wirtschaftlichen und steuerlichen Privilegien der Generäle betrifft, hat sich nichts verändert. Sie haben weiterhin die Befehlsgewalt über die Armee, überdurchschnittlich hohe Pensionsansprüche, verfügen über den rentabelsten Wirtschaftskonzern OYAK, haben die absolute Macht über den militärisch-industriellen Komplex und bestimmen im wesentlichen die Verteidigungspolitik des Landes[5]. Dass der oberste General nicht mehr so oft in Erscheinung tritt und Kommentare zu aktuellen politischen Geschehnissen abgibt, scheint ein Ergebnis der Absprache zwischen der AKP und den Generälen zu sein.
In verschiedenen Politikbereichen wird deutlich, dass die Interessen der militärischen Machthaber und die Ausrichtung der AKP-Politik sich decken, also kompatibel sind. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass die Umsetzung der neoliberalen Politik mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 begann. Bei der AKP sind ähnliche autoritäre Tendenzen und ein paternalistisches Staatsverhältnis wie bei den Militärs fest verankert. AKP wie Militärs lehnen die Gewährung von kollektiven Rechten vehement ab. Demokratische Rechte werden als gnädige Zugeständnisse des Staates verstanden, die auch beliebig eingeschränkt werden können. Beide verteidigen die rassistische Staatsideologie (O-Ton Erdogan: »Eine Nation, eine Fahne, ein Staat«) und benutzen die sunnitische Rechtsschule des Islams als ein Instrument der Herrschaft.
Auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die Anbindung der Türkei an die NATO und deren Befürwortung in der Bevölkerung sind inzwischen fester denn je. An nahezu allen NATO-Interventionen ist die türkische Armee mit unterschiedlicher Intensivität beteiligt. Neoosmanische Großmachtphantasien der AKP und interventionistische Strategiespiele der Generalität stimmen überein – beide wollen die Türkei als »die« Wirtschafts- und Militärmacht der Region etablieren und zu einem imperialen Machtzentrum machen. Dieses Ziel wird stets gemeinsam unterstrichen und das neue Selbstvertrauen auf der internationalen Politikbühne gemeinsam zur Schau getragen.
Ohne Zweifel: Die AKP ist die neue Staatspartei der Türkei, die – um es mit den Worten der bekannten Journalistin Nuray Mert zu sagen – »es erfolgreich geschafft hat, die Traditionen des früheren autoritären Regimes mit ihrer neoliberal-konservativ/nationalistischen Politik zusammen zu bringen«. Sie hat mit ihrer neoosmanischen Vision, dessen Markenkern der Neoliberalismus ist, das Vormundschaftsregime konsolidieren können. Mit dem guten Wahlergebnis im Rücken wird sie das Regime auch bestimmen.
Niederlage im Sieg – Sieg in der Niederlage
Dennoch ist Erdogans Sieg bezogen auf seine Hauptziele zugleich eine Niederlage. Obwohl die AKP von fast jeder/m zweiten Wähler/in gewählt wurde, hat sie weniger Sitze als 2007. Das Ziel, mit 367 Abgeordneten von 550 eine verfassungsgebende Zweidrittelmehrheit zu erlangen, hat sie deutlich verfehlt. Somit ist das von Erdogan favorisierte Präsidialsystem in dieser Legislaturperiode nicht umsetzbar. Zweitens konnte die AKP weder die MHP unter die 10-Prozenthürde drücken, noch die CHP zurückdrängen.
Auf der anderen Seite konnte das Linksbündnis einen »Sieg in der Niederlage« feiern. Es ist eine Niederlage, weil das Linksbündnis die AKP aus den kurdischen Gebieten nicht hat verdrängen und im Westen das linke politische Ghetto nicht hat, wie erhofft, verlassen können. Die Stimmen, die Sirri Süreyya Önder in Istanbul aus unterschiedlichen Kreisen erhalten hat, können an dieser Tatsache nichts ändern. Der Meinungsforscher Adil Gür meint, dass die linken und sozialistischen Parteien kaum Stimmenzuwachs organisieren konnten. Trotzdem ist es ein fulminanter Sieg in der Niederlage – aus verschiedenen Gründen[6]:
Erstens gab es keine Verluste bei der Stimmabgabe, obwohl viele WählerInnen kaum Türkisch können und sowohl Parteien als auch unabhängige KandidatInnen auf einem Stimmzettel standen. Die WählerInnen des Blocks waren, besonders in den kurdischen Gebieten, sehr gut organisiert, so dass bei mehreren unabhängigen BündniskandidatInnen in einem Regierungsbezirk alle fast die gleiche Anzahl der Stimmen erhalten haben und alle aufgestellten KandidatInnen, z. B. in Diyarbakir oder Hakkari, gewählt wurden.
Zweitens konnte das Linksbündnis unerwartet mehr Sitze erhalten als die frühere BDP-Fraktion und hat dadurch eine bessere Grundlage für die Bildung einer gemeinsamen Parlamentsfraktion. Wenn später, wie im Falle des Verbotes der DTP (Vorgängerpartei der BDP), einigen Abgeordneten ihre Mandate entzogen werden sollte, sind genügend (mind. 20) Abgeordnete im Parlament, so dass der für die parlamentarische Arbeit sehr wichtige Fraktionsstatus nicht gefährdet ist.
Drittens konnte mit der Bildung des Linksbündnisses eine lange währende, unsägliche Tradition der türkischen Linken, nämlich nie ein breites und vom Wahlvolk beachtetes Bündnis gründen zu können, überwunden werden. Obwohl der Stimmenzuwachs mit 1% beziffert wird, hat die Kandidatur von bekannten türkischen Sozialisten und die Bereitschaft linker Parteien für die Gründung einer Dachpartei eine enorme politische Bedeutung, auch weit über den Wahltag hinaus.
Viertens hat die BDP erstmals Stimmen von konservativen kurdischen WählerInnen erhalten. Der Einfluss von feudalen Großgrundbesitzern und religiösen Sekten ist dadurch erheblich geschwächt worden. Die säkulare kurdische Befreiungsbewegung hat auch innerhalb der religiösen kurdischen Bevölkerungsschichten eine Legitimität erhalten.
Fünftens hat die prokurdische BDP durch das Linksbündnis in den bürgerlichen Medien Anerkennung als legitime Vertretung der kurdischen Bevölkerung gefunden. Sechstens: Mit der Wahl der unabhängigen KandidatInnen wurde die antidemokratische 10-Prozenthürde ad absurdum geführt, weil sie explizit zur Verhinderung des Einzuges von kurdischen und sozialistischen Abgeordneten geschaffen wurde. Und siebtens hat sich das Linksbündnis so etabliert, dass es aus einem Verfassungsänderungsprozess nicht mehr wegzudenken ist. Wenn alles normal liefe, wäre es im Parlament das Zünglein an der Waage.
Dass aber in der Türkei nichts normal ist und jederzeit mit Schritten zu rechnen ist, die neue Krisen schaffen können, wurde kurz nach der Wahl wieder deutlich. Die Hohe Wahlkommission YSK entzog dem inhaftierten Hatip Dicle das Abgeordnetenmandat, obwohl er von ihr selbst zur Wahl zugelassen und mit über 80 Tausend Stimmen gewählt wurde. Am 26. Juni 2011 entschied ein Gericht, dass die fünf kurdischen Abgeordneten, die z.Zt. in Untersuchungshaft sind, nicht freigelassen werden dürfen. Auch zwei Abgeordnete der CHP und ein MHP-Abgeordneter werden nicht aus der Haft entlassen.
Daraufhin hat das Linksbündnis beschlossen, das Parlament zu boykottieren bis die inhaftierten Abgeordneten sind und Hatip Dicle seinen Abgeordnetenstatus erhält. Doch die AKP ist nicht bereit, entgegen zu kommen. Am 23. Juni 2011 erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzender, Bekir Bozdag, dass »an diesen Entscheidungen nicht gerüttelt« wird. Erdogan wiederum beschuldigte die BDP und warf ihr vor, »mit Erpressung Gesetze ändern zu wollen«.
In der Hauptstadt wird derzeit darüber spekuliert, dass Teile der Regierung der Auffassung seien, »die kurdische Bewegung mit einer kontrollierten Eskalation endgültig zerschlagen« zu können. Dass dabei mehrere Tausend ihr Leben lassen könnten, sei »ein hinnehmbares Risiko«. Unabhängig davon, ob an diesen Gerüchten etwas dran ist oder nicht, die derzeitige Ablehnung eines Lösungsangebots durch die AKP, birgt erhebliche Gefahren. Tatsache ist: Die kurdische Bewegung ist in der kurdischen Bevölkerung verankert wie nie zuvor. Eine vollständige Zerschlagung der PKK ist nur mit einem erneuten anatolisch-mesopotamischem Genozid möglich. Aber es steht auch außer Frage, dass die im höchsten Maße politisierte kurdische Bevölkerung nicht einfach gewillt sein wird, das Schicksal ihrer armenischen Geschwister zu teilen. Was bei einem neuen Entfachen des Krieges passieren könnte, mag man sich nicht auszumalen.
Noch haben die türkischen Entscheidungsträger Zeit für Schritte, die einen Krieg abwenden. Aber diese Zeit ist in Tagen gezählt. Der inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan stellte der Regierung ein letztmaliges Ultimatum bis zum 15. Juli 2011. Danach werden wir Zeugen sein, ob dem »arabischen Frühling« ein »kurdischer Sommer« folgen wird.
Wie auch immer: Der Sommer wird sehr heiß werden!
* * *
[1] Während dieser Artikel verfasst wurde, hat die Hohe Wahlkommission YSK den Abgeordnetenstatus des inhaftierten unabhängigen Kandidaten Hatip Dicle entzogen. Dadurch verliert das Linksbündnis einen Sitz. Da das Mandat einer AKP-Kandidatin zugesprochen wurde, hat sich die Zahl der AKP-Sitze auf 327 erhöht.
[2] Siehe: http://bianet.org/bianet/diger/130856-akpnin-secim-basarisinin-garipligi-ve-anlasilabilirligi
[3] Siehe dazu auch: Parlamentswahlen 2011 in der Türkei: über Versuche gesellschaftlicher Allianzen ›von oben‹ und ›von unten‹. Von Anne Steckner und Corinna Trogisch. Zu finden unter: www.rosalux.de/publication/37612
[4] Siehe: http://yorumkitap.com/Pasif%20Devrim.html
[5] Siehe auch: http://murat-cakir.blogspot.com/2010/07/die-eu-die-turkei-und-die-macht-der.html
[6] Siehe auch: http://murat-cakir.blogspot.com/2011/06/parlamentswahlen-in-der-turkei.html