Über die
Hintergründe der aktuellen israelisch-türkischen Krise
Die Reaktion der
türkischen Regierung auf den Palmer-Bericht
der UN vom 3. September 2011 ist ungewöhnlich, aber wie erwartet heftig
ausgefallen. Einen Tag vor der Veröffentlichung des Berichts erklärten
zeitgleich der Staatspräsident Abdullah
Gül (O-Ton: »Dieser Bericht ist für
uns nicht existent«), der Premier Recep
Tayyip Erdogan und der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu ihre Ablehnung. Der israelische Botschafter wurde
des Landes verwiesen und der türkische Botschafter in Israel zurückberufen.
Den
Zeitungsberichten zufolge war der Bericht der Untersuchungskommission unter der
Leitung des ehem. Ministerpräsidenten Neuseelands Geoffrey Palmer über die Ereignisse während der Erstürmung der
Gazaflottillen-Schiffs Mavi Marmara eigentlich
schon vor Wochen fertig. Doch mit der Veröffentlichung wartete man ab, weil
damit die Hoffnung verbunden wurde, Israel und die Türkei könnten sich am Ende
noch einigen.
Es stellte sich
heraus, dass diese Hoffnung ein Trugschluss war. Die Türkei bestand darauf,
dass Israel sich entschuldigen, Entschädigungsgeld an die Opfer zahlen und die
Blockade des Gaza-Streifens aufheben müsse. Außenminister Davutoglu erklärte
sodann am 2. September 2011 die Maßnahmen, welche bis zur Erfüllung dieser
Forderungen aufrecht erhalten würden. Diese sind:
·
Die
diplomatischen Beziehungen werden eingefroren. Der Botschafter und
Botschaftsangehörige, bis auf einen stellv. Geschäftsträger, werden binnen zwei
Tagen zurückgeholt;
·
Sämtliche
militärische Abkommen zwischen der Türkei und Israel werden eingefroren;
·
Als das Land, das
im östlichen Mittelmeer die längste Küste besitzt, wird die Türkei alle
Maßnahmen für eine freie Schifffahrt ergreifen;
·
Die Türkei
erkennt die israelische Blockade des Gaza-Streifens nicht an. Bezüglich des
seit dem 31. Mai 2010 von Israel durchgeführten Embargos wird der
Internationale Gerichtshof angerufen. In diesem Zusammenhang werden Initiativen
ergriffen, um die UN-Generalversammlung zu weiteren Schritten zu bewegen;
·
Alle türkischen
und ausländischen Opfer des israelischen Angriffs werden bei ihrer Rechtssuche vor
Gericht unterstützt.
[1]
Die internationale
Presse horchte auf, das Handeln der türkischen Regierung wurde nun aufmerksam
verfolgt. Die Sprecherin des US-Außenministeriums Victoria Nuland äußerte das »große
Besorgnis der USA« [2] über die Verschärfung in den
israelisch-türkischen Beziehungen. Am 6. September 2011 wies Financial Times auf die möglichen Folgen
der israelisch-türkischen Krise hin und kommentierte, dass »die Neuausrichtung der türkischen Politik alsbald Ägypten und
Jordanien beeinflussen« könne und »Israel
ihren wichtigsten Partner in der Region verloren« habe. [3] Die
Zeitung unterstrich zudem: »Was den
Einfluss in der Region angeht, ist Iran der größte Konkurrent beider Länder.
Wenn im Endergebnis der einzige Sieger in diesem Konflikt Iran heißen sollte,
werden weder die Türkei, noch Israel einen Nutzen haben«. Der ehem. Israelische
Botschafter in Ankara Alon Liel
kommentierte, dass »wenn Erdogan den
Gaza-Streifen besucht, dann wird in der Diplomatie der Region ein dramatischer
Richtungswechsel erfolgen«. [4] Der türkische Premier machte
noch am 9. September 2011 deutlich, dass »die
Türkei mit Entschiedenheit an ihren Forderungen festhalten« werde.
Israelische und
türkische Kommentatoren sprechen von einer »Eiszeit« zwischen den beiden
Staaten und positionieren sich sehr unrühmlich in diesem Scheidungskrieg. Dabei
waren Israel und die Türkei sich so nah wie »Zwillingsgeschwister« (Haluk
Gerger). Was als rhetorischer Schlagabtausch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in
Davos 2009 zwischen Erdogan und Simon
Peres begann, hat sich zu einer handfesten Krise entwickelt, der den
gesamten Nahen Osten beeinflussen könnte. Warum? Was wird jetzt folgen? Was
sind die eigentlichen Gründe und welche Dynamik könnte diese Krise noch bekommen?
Welche Rolle spielen die USA und die US-Interessen in der Region? Sind die
Neoosmanen dabei, die Führung der islamischen Welt zu übernehmen? Auf diese und
weitere Fragen sollen mit diesem Artikel Antworten gesucht werden.
Aber vorher ist
es sinnvoll, einen Rückblick auf die Entwicklung der israelisch-türkischen
Beziehungen zu werfen.
Geschwister
im Geiste – von Anfang an
Die Türkei war
eines der ersten Länder – das erste muslimische Land überhaupt –, die Israel
anerkannt haben. Die Anerkennung Israels durch die Türkei erfolgte am 28. März
1949. Im Jahr 1950 begannen mit der gegenseitigen Ernennung von Botschaftern
die diplomatischen Beziehungen. Der damalige türkische Außenminister Necmettin Sadak musste diesen Schritt
gegen kritische Stimmen im Lande verteidigen: »Die türkisch-israelischen Beziehungen entsprechen den nationalen
Interessen der Türkei und bilden gegen Gefahren, welche die territoriale
Einheit unseres Landes bedrohen, eine gute Grundlage«. [5]
Für die
Entscheidungsträger in beiden Staaten waren zudem ähnliche spezifische Lagen
allzu deutlich, so dass ein gegenseitiges Verständnis möglich war: Schon 1948
war es nicht möglich, die Türkei als nur einen Nah-Ost-Staat zu
bezeichnen. Die Türkei hatte und hat eine Scharnierfunktion zwischen der
westlichen und islamischen Welt. Um es mit Charles
de Gaulle zu sagen: »sie ist die
Herrin der beiden Meeresengen und der Pforte in den Nahen Osten«. Einer
Pforte, die die Wege nach Europa, dem Balkan, zum Schwarzes Meer, Kaukasus
sowie Nahen Osten und zurück eröffnet und irgendwie ein Teil von allen ist. Sie
ist »anders«.
Das »anders
sein« gilt auch für Israel, aber in einem anderen Format. Israel ist zwar ein
Staat im Nahen Osten, wird aber von den übrigen Ländern des Nahen Ostens nicht
als solcher anerkannt. Obwohl Israel gleichzeitig politisch wie kulturell immer
mehr nahöstlicher wird, wurde und wird es als ein »europäischer« Staat
angesehen und positioniert sich im politischen Koordinatensystem des Westens.
Diese
spezifische Lagen und die vielfältigen Identitäten gehörten und gehören zu den
eigentlichen Gründen der Annäherung beider Staaten. Dennoch waren, und werden
heute mehr denn je, die israelisch-türkischen Beziehungen von der
Palästina-Politik Israels bestimmt.
So war es kein
Zufall, dass die Türkei während des ägyptisch-israelischen Kriegs von 1956
ihren Botschafter Sevket Istinyeli
zurückzog und erklärte, dass bis zur Lösung der Palästina-Frage keine
Botschafter mehr entsandt würden.
Ein wesentlicher
Grund dafür war die innenpolitische Stimmung in der Türkei. Die israelisch-türkischen
Beziehungen waren von den militärisch-bürokratischen Eliten aufgebaut worden
und eine zivilgesellschaftliche Annäherung nie angedacht gewesen. Obwohl die
jüdische Gemeinde in der Türkei immer ein höheres Ansehen genoss als die
übrigen nichtmuslimischen Minderheiten, waren antisemitische Grundhaltungen in
der muslimischen Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet (und sind es bis heute
noch). Die stärker werdenden konservativ-muslimischen Kräfte drängten die am
14. Mai 1950 gewählte Menderes-Regierung
zur verstärkten Zusammenarbeit mit den arabischen Ländern. Der
ägyptisch-israelische Krieg war dann der Anlass, diesen Druck zu erhöhen.
Israel, das sich
immer von Feinden umzingelt sah, war bemüht, ihre Beziehungen zu
nichtarabischen Ländern aufzubauen. Aus diesem Grund sollten die Beziehungen
mit Iran und Äthiopien sowie der Türkei verbessert werden. Zudem wurden mit den
maronitischen Christen im Libanon sowie den KurdInnen und AramäerInnen im Irak
neue Verbündete gefunden.
Die
Menderes-Regierung hatte wie Israel, enge Beziehungen zu den USA aufgebaut und
die US-Administration drängte beide Staaten zur Kooperation. So unterschrieben
am 29. August 1958 in Ankara der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion und der türkische
Premier Adnan Menderes [6]
ein Kooperationsabkommen. Demzufolge sollte Israel die türkische Landwirtschaft
unterstützen und die Türkei Israels Luftwaffe erlauben, in der Türkei
Übungsflüge zu absolvieren.
Das
Auf und Ab der Beziehungen
In den folgenden
acht Jahren wurden die Beziehungen intensiviert und mehrere wirtschaftliche,
aber vor allem militärische Kooperationen begonnen. Doch die Zypern-Frage wurde
in den 1960er Jahren für die Türkei und somit für die Beziehungen zu Israel, zu
einem immer größeren Problem.
Laut dem Garantieabkommen von 1960 war die
Türkei für die Sicherheit der türkischen Zyprioten zuständig. Die blutigen
Ereignisse von 1963 auf der Insel waren von den türkischen Entscheidungsträgern
als ein Affront aufgefasst worden. Das türkische Militär bereitete sich auf
eine Invasion der Insel vor, die am 7. Juni 1964 beginnen sollte. Ein
bitterböser Brief des US-Präsidenten Johnson
an den türkischen Premier Ismet Inönü
am 5. Juni 1964 jedoch beendete die Vorbereitungen. Der »Johnson-Brief« führte
die auf der Truman Doktrin vom 12.
März 1947 beruhenden Beziehungen kurzfristig in eine tiefe Krise, die mit dem
Besuch Inönüs am 21. Juni 1964 in Washington beendet werden konnte.
Aufgrund der
Entwicklungen in Zypern suchten die türkischen Entscheidungsträger
Unterstützung in der arabischen Welt. Daher wurden 1966 die Beziehungen zu
Israel auf ein Minimum zurückgefahren. Nun begann die Türkei sowohl in der
Region als auch auf der internationalen Bühne sich zugunsten der Palästinenser
einzusetzen.
Nach dem
Sechstage-Krieg in 1967 forderte der türkische Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil Israel
demonstrativ auf, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Während des
Sechstage-Krieges lehnte die türkische Regierung die Benutzung des
US-Stützpunktes Incirlik, von dem aus US-Jets Israel zu Hilfe eilen sollten,
ab. Auch sechs Jahre später, 1973 wurde das Ersuchen der USA, von Incirlik aus
Jets fliegen zu lassen, abgelehnt. Gleichzeitig aber erlaubte die Türkei der
Sowjetunion die Nutzung ihres Luftraums für Militärtransporte in die arabischen
Länder. Und 1975 wurde die Resolution 3379, die von der UN-Generalversammlung
angenommen und mit der besagt wurde, dass »der
Zionismus eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung« sei, von
der Türkei unterstützt.
Die
erneute Annäherung
Die Tatsache,
dass die Türkei – auch wegen der eigenen osmanischen Geschichte – von den
arabischen Ländern mit ihrem Führungsanspruch nicht anerkannt wurde und die
erhoffte Unterstützung in der Zypern-Frage nicht über Absichtserklärungen
hinausging, führte zu einer Entzauberung dieser Strategie. Die untereinander
zerstrittenen und von Despoten regierten arabischen Länder konnten die
türkischen Erwartungen nicht erfüllen.
Mit
Unterstützung der USA ergriffen am 12. September 1980 die türkischen Generäle
gewaltsam die Macht. 1979 waren nach der iranischen Revolution die Mollas an
die Macht gekommen und verfolgten eine, den türkischen Interessen
widersprechende Außenpolitik. Der Türkei und auch Israel war ein potenter
Partner abhanden gekommen.
Die Militärjunta
verfestigte eine neoliberale Wirtschaftspolitik, eine repressive Innen- und
eine den NATO-Interessen entsprechende Außenpolitik. Aktuell war zu dieser Zeit
auch die »Armenische Frage«. Die Junta heuerte rechtsradikale Killer an, um in
Europa tätige Funktionäre der armenischen Untergrundorganisation ASALA zu exekutieren. Die türkische
Generalität setzte das »Gladio-Konzept« der NATO umfassend um. Als Israel 1982
in den Libanon einmarschierte und Informationen aus den ASALA-Camps in Libanon
der türkischen Junta weitergab, begann das gegenseitige Vertrauen wieder zu
wachsen. 1982 wurde dann der als Israelfreundlich bekannte Diplomat Ekrem Güvendiren als Geschäftsträger
nach Israel entsandt. [7]
Die 1980er und
1990er Jahre können durchaus als das »goldene Zeitalter« der
israelisch-türkischen Beziehungen, deren Motor die westlichen Strategien waren,
bezeichnet werden. Besonders die jüdischen Organisationen in den USA förderten
die Kooperation zwischen Israel und der Türkei. 1989 wurde deren Einfluss in
der US-amerikanischen Politik deutlich: die American Israel Public Affairs Committee AIPAC und Jewish Institute for National Security
Affairs waren wesentlich daran beteiligt, als 1989 im US-Senat eine
Resolution zur Anerkennung des Völkermords an ArmenierInnen abgelehnt wurde. [8]
Schon 1999, als es immer mehr deutlich wurde, dass die Türkei eines der wichtigsten
Energieumschlagsplätze der Welt sein würde, erklärte Israel bei der
Unterschriftszeremonie über das Abkommen des Pipelines Baku-Tiflis-Ceyhan, welches unter der Schirmherrschaft des
damaligen US-Präsidenten Bill Clinton
von Aserbaidschan, Georgien und der Türkei unterschrieben wurde, seine
Unterstützung für dieses Projekt.
Die türkischen
Entscheidungsträger sahen das Nutzen der engen Zusammenarbeit mit Israel. Nach
zahlreichen gegenseitigen Besuchen von verschiedenen Ministern, wurden ab 1991
die Beziehungen wieder auf der Botschafterebene fortgeführt. Zeitgleich wurde
aber auch für die Vertretung in Palästina ein türkischer Botschafter bestellt.
Denn gerade für
die arabischen Länder war die militärische Zusammenarbeit ein Anlass zur Sorge.
1994 hatten die Luftwaffen beider Länder ein Abkommen über die Zusammenarbeit der
Pilotenausbildung unterschrieben und zwei Jahre später, 1996, ein umfangreiches
Abkommen über militärische Zusammenarbeit. Eigens dafür war der
Oberbefehlshaber der türkischen Armee, Ismail
Hakki Karadayi nach Israel gereist. Auch der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel reiste nach Israel und
unterzeichnete mehrere Wirtschaftsabkommen.
Israel übernahm
die Modernisierung der türkischen F-4 Jets. Die Übungsflüge israelischer
Piloten im türkischen Luftraum, speziell über Konya, wurden intensiviert. Eine
gemeinsame strategische Arbeitsgruppe wurde eingerichtet und die
geheimdienstliche Kooperation verstärkt. Gemeinsame Militärübungen wurden
abgehalten.
Die militärische
Zusammenarbeit war für beide Seiten sehr fruchtbar. Israel erhielt weitere
Aufträge, so u. a. für die Modernisierung der F-5 Jets sowie für die Lieferung
von Phyton-4-Raketen, Popey-Luft-Boden-Raketen, Marschflugkörper,
Arrow-Antiraketen-Raketen und Nachtsichtgeräte für türkische Kampfhubschrauber.
Die türkische Generalität konnte dadurch den Rückgang der
US-Rüstungslieferungen kompensieren und die Armee schlagkräftig modernisieren.
Unterstützt und gefördert wurde die israelisch-türkische Partnerschaft von der
US-Administration. Diese Partnerschaft wurde 1998 durch ein gemeinsames
Militärmanöver dann als strategische Partnerschaft zwischen Israel, Türkei und
den USA deklariert.
Im Mai 1997
nahmen Israel und die Türkei die syrische Führung ins Visier. Die
Verteidigungsminister der Türkei Turan
Tayan und Israels Itzhak Mordechai
warfen gemeinsam Syrien die »Unterstützung
des Terrorismus« vor. Der erhöhte Druck führte auch dazu, dass die Führung
in Damaskus schließlich den Kurdenführer Abdullah
Öcalan zwang, das Land zu verlassen. Öcalan wurde nach einer Odyssee über
verschiedene Länder 1999 in Kenia nach einer gemeinsamen Operation der
US-amerikanischen und israelischen Geheimdienste entführt und der Türkei
ausgeliefert.
Die
Dimension der Wirtschaftsbeziehungen
In Bezug auf das
gesamte Handelsvolumen der Türkei, liegt der israelische Anteil bei rund 1
Prozent. 1996 betrug das Handelsvolumen 446 Millionen Dollar und erhöhte sich
2009 auf rund 3,3 Milliarden Dollar. [9] Den TUIK (Statistikbehörde
der Türkei) – Angaben zufolge machten alleine Rüstungsgüter über 2 Milliarden
Dollar aus. Zusätzliche Importe, die rein militärische Einkäufe wie
Verteidigungssysteme und Zulieferprodukte sind und von der Stiftung zur Stärkung der türkischen Streitkräfte [10]
bezahlt werden, werden in den offiziellen Handelsstatistiken nicht aufgeführt.
Der Journalist der
regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak
Fevzi Öztürk wies in einem Artikel
über israelisch-türkische Wirtschaftsbeziehungen [11] darauf hin,
dass »bei diesem Konflikt in erster Linie
die israelische Rüstungsindustrie der Leidtragende sein« würde. Auf den
ersten Blick ist das nicht von der Hand zu weisen. Immerhin ist die
Rüstungsindustrie die wichtigste Stütze der israelischen Wirtschaft. Einen
Großteil der israelischen Exportgüter machen sog. Verteidigungssysteme und
militärische High-Tech-Ausrüstungen aus. Und die Türkei ist der drittgrößte
Exportmarkt Israels. Sicherlich werden daher die auf Eis gelegten militärischen
Projekte die israelische Rüstungsindustrie hart treffen, aber nicht so hart,
wie Öztürk meint. Denn Israel hat andere Möglichkeiten weiterhin ihre
Rüstungswaren an die Türkei zu verkaufen. In der Türkei sind lt. einer Studie derzeit
rund 250 Firmen tätig, deren Ursprung – auf Umwegen – in Israel liegt. Nicht
dazu gezählt werden internationale Rüstungskonzerne, an denen israelische
Firmen beteiligt sind und die der Türkei weiterhin Waffen verkaufen.
Was die
israelischen Auslandsinvestitionen betrifft, kommt die Türkei nach den USA und
Großbritannien an dritter Stelle. Die Investitionen des israelischen Kapitals
konzentrieren sich in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und
Landwirtschaft.
Den Angaben des
türkischen Außenministeriums nach, wird der rechtliche Rahmen der
Wirtschaftsbeziehungen durch das Türkisch-Israelische Freihandelsabkommen,
Abkommen Über Handels-, Wirtschafts-, Industrie-, Technik- und
Wissenschaftszusammenarbeit, Gegenseitige Investitionsförderungs- und
Schutzabkommen und das Abkommen über die Vermeidung der Doppelbesteuerung
gestellt. So weisen auch die Berichte des Staatssekretärs für auswärtige
Angelegenheiten bei dem Ministerpräsidenten, dass zahlreiche israelische Waren
Steuerbefreiungen und Befreiung von Einfuhrbeschränkungen genießen. Die vom
Außenminister Davutoglu angekündigten Maßnahmen zur Durchsetzung der türkischen
Forderungen an Israel sehen bislang ein Aussetzen dieser Wirtschaftsabkommen
bzw. die Aufhebung der Befreiungen nicht vor.
Das
»Admiralsschiff« der israelischen Investitionen in der Türkei ist ohne Zweifel
der Energiesektor. Diese Investitionen wurden nach 2002 von der AKP-Regierung
besonders gefördert. So erklärten beispielsweise israelische Firmenvertreter
auf einer Konferenz des Vereins der
ausländischen Investoren (YASED), die unter dem Titel »Der Favorit ausländischer Investitionen: Das Land der Chancen, die
Türkei« stattfand, dass »Premier
Erdogan 2002 sie persönlich für Investitionen in der Türkei überzeugt« habe
und sie ihre Investitionsentscheidungen erst danach getroffen hätten. Die
AKP-Regierung kam ausländischen Investoren sehr entgegen. Bei der
Privatisierung der staatseigenen Aktiengesellschaft
der Türkischen Ölraffinerien TÜPRAS erhielt die Carlyle MG Limited, die der israelischen Ofer Brothers Group (ein Mischkonzern, dessen Aktivitäten sich u.a.
auf Containerschifffahrt, Luftfahrt, Automobile, Logistik, Chemie, Energie,
Medien, Immobilien und andere Investments erstrecken) gehört, für 446 Millionen
Dollar ein Aktienpaket von 14,76 Prozent. Erbost erklärte daraufhin Rahmi Koc, Eigentümer des größten
Familienkonzerns der Türkei (Koc Holding hatte gemeinsam mit Shell Company of
Turkey am 12. September 2005 für 4,1 Milliarden Dollar 51 Prozent der
TÜPRAS-Aktien gekauft), dass die Regierung »gesetzeswidrig
handele«. Die türkische Presse, insbesondere die Dogan Media Holding (Herausgeberin der Tageszeitung Hürriyet), die wiederum über ihre
eigenen Energiefirmen großes Interesse an TÜPRAS hatte, berichtete, dass die
446 Millionen Dollar nur ein Drittel des eigentlichen Wertes des Aktienpakets
ausmachen.
Im Energiesektor
der Türkei können israelische Investitionen ihren Einfluss über Partnerschaften
mit türkischen Konzernen geltend machen. Darunter sind besonders die
Konzerngruppen Calik und Zorlu zu nennen, die Partner der
israelischen Energiekonzerne Dorad, Ashdod, Ramat Negev und Solad Energy
(die alle der Edeltech Gruppe
gehören) sind. So bekam beispielsweise die Calik Gruppe im Rahmen des Projekts Medstream den Auftrag für die
Bauarbeiten, um den Hafen von Haifa mit der Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline zu
verbinden. Kosten soll das ganze 4,5 Milliarden Dollar. Über diese Pipeline
soll nicht nur Rohöl und Erdgas sondern auch Strom und Wasser nach Israel
transportiert werden. Über die Verlegung einer fiberoptischen
Kommunikationsleitung wird noch verhandelt. Die Gruppe Zorlu wiederum erhielt
2004 den Auftrag, in den von Israel besetzten Gebieten 3
Erdgasumwandlungsstationen zu bauen.
Im Finanzsektor
fand die wichtigste Investition im Jahre 2005 statt: Die israelische Hapoalim Bank kaufte die türkische C Bank zu 100 Prozent auf. Heute heißt
die Bank »Bank Pozitif« und vergibt
Kredite in den Bereichen Energie, Tourismus, Bau, Infrastrukturmaßnahmen,
Wasser- und Landwirtschaft sowie für Nahrungsmittelfirmen.
Ibrahim Cecen, Eigentümer der Firma IC ICTAS und einer von den großen
Financiers der AKP (Erdogan verbringt jedes Jahr sein Urlaub im Cecens Hotel in
Antalya), der mit dem israelischen Agrokonzern Tahal Group eine Partnerfirma gegründet hat, eröffnete den
israelischen Agrochemiefirmen und der israelischen Agrogentechnik den
türkischen Markt. Cecen war auch bei der Lobbyarbeit für eine Änderung des
Gesetzes über Saatgut (Gesetz-Nr. 5553) maßgeblich beteiligt. Durch die
Gesetzesänderung wurde u. a. auch der großflächige Anbau und Vertrieb von
genetisch veränderten Pflanzen möglich.
Zwei israelische
Firmen, Hazera Genetics LTD und Zeraim Gedera LTD beherrschen den
Saatmarkt der Türkei, wobei sie den Vertrieb ausschließlich über den türkischen
Toros Tarim (unter dem Dach der Tekfen Holding) organisieren.
Inzwischen verkaufen auch kleinere Firmen wie Anadolu Tarim, Setar A.S. oder
AYS Tarim, bis auf wenige Ausnahmen, nur noch Saatgut aus Israel.
Die Land- und
Wasserwirtschaft sind Bereiche, in der die israelischen Investitionen
langfristigen Charakter haben. Dies geschieht auch in Übereinstimmung mit der
AKP-Regierung. So berichtete die Tageszeitung Star am 8. Juni 2008, dass »das
türkische Ministerium für Landwirtschaft und Dorfangelegenheiten der Geological Survey of Israel die
Genehmigung erteilt hat, in der Nähe von Izmir eine Milchfarm mit 500 Kühen zu
gründen und die Gründung von weiteren Milchfarmen in verschiedenen Regionen
überprüft werde«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die GSI auf
ihrer Website (http://www.gsi.gov.il/eng/)
mitteilt, dass sie als beratendes Organ für alle staatlichen Branchen und
wichtigsten öffentlichen wie privaten Unternehmen tätig ist sowie eine
nationale und regionale geowissenschaftliche Datenbank verwaltet.
Forschungsschwerpunkte der GSI sind »qualitative
und quantitative Hydrogeologie, Geochemie, Umweltgeologie, geologische
Kartierung« u.v.a.m.
Gemäß einem
Vertrag mit dem israelischen Zentrum für
internationale Kooperation MASHAV, welches 2003 unterschrieben wurde,
erhält die Türkei im Rahmen ihres Großen
Anatolienprojekts GAP, die zahlreiche Staudämme auf Tigris und Euphrat
vorsieht, insbesondere in den Regionen des »Programms
für Regionalentwicklung« Bildungs- und Beratungsdienstleistungen aus
Israel. Dieser Vertrag sieht auch vor, dass bei Umsetzungsschwierigkeiten des
Projekts, zur Aufhebung dieser, nur israelische Technologien eingesetzt werden
dürfen. Dabei sind von MASHAV vorgeschlagenen Firmen zu beauftragen. Linke
Parteien und Wasserbewegungen in der Türkei üben scharfe Kritik an der
militärischen Schwerpunktsetzung des GAP und der Wasserprivatisierungspolitik
der AKP, die inzwischen sogar kleinere Bäche an internationale
Nahrungsmittelkonzerne verkauft hat.
Zusammenfassend
kann konstatiert werden, dass Israel und die Türkei strategische und langfristige
Wirtschaftsbeziehungen eingegangen sind, die kaum von der aktuellen Krise
beeinflusst werden können. Hierbei sollte auch unterstrichen werden, dass die
Wirtschaftsbeziehungen bei der aktuellen Krise so gut wie keine Rolle spielen.
Vom
strategischen Partner zum Konkurrenten
Die nach der Finanzkrise
in 2001 ergriffene Maßnahmen sowie deren Früchte, der begonnene
Heranführungsprozess in die EU und der wirtschaftliche Aufschwung stärkte die
Position der AKP. Mit dem Rückenwind des hohen Wirtschaftswachstums, der G
20-Mitgliedschaft und der wichtiger gewordenen strategischen Rolle des Landes,
insbesondere für die Energielieferungen in die EU, konnte die AKP sich
schrittweise als neue Staatspartei etablieren.
Nun war die
Türkei dabei, eine regionale Macht zu werden. Ihre größte Konkurrentin war (und
ist) Iran, wobei es immer mehr deutlich wurde, dass die Grenzen dieser
Konkurrenz von den Beziehungen zu Israel bestimmt werden. Die imperiale
Ausrichtung der türkischen – oder besser gesagt – der AKP-Außenpolitik machte
zum einen die Neuformierung und Zurückdrängung der Armeeführung, zum anderen
eine Abkehr von den bisherigen Sicherheits- und Verteidigungspolitiken
notwendig. Die Doktrin des militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregimes,
wonach die Türkei »allseits von
feindlichen Staaten umzingelt« sei, wurde ad acta gelegt und an dessen
Stelle die »Null-Probleme-Politik mit den
Nachbarländern« gesetzt. Nach dem zweiten Wahlsieg der AKP erhielt diese Politik
weitere Konturen und der Machtkampf im Staate wurde verschärft.
Erstmals in der
Geschichte der Republik Türkei wurden zu den »Urfeinden« Armenien und
Griechenland gute Beziehungen aufgebaut. In allen Konflikten der Region – sei
es im Kaukasus oder im Nahen Osten – bemühte sich die Türkei als Vermittlerin.
Auch Israel erhoffte sich Hilfe durch die Türkei. So sollte die türkische
Regierung 2007/2008 zwischen Israel und Syrien vermitteln und Möglichkeiten für
direkte Friedensverhandlungen ausloten. Erdogan erklärte diese Aufgabe zur
Chefsache. 2008 hatte Erdogan dem israelischen Ministerpräsidenten Olmert, der
auf einem Staatsbesuch in Ankara war, vollmundig angeboten, die letzten
Hindernisse für Verhandlungen mit Syrien durch einen persönlichen Anruf bei Bascher al-Assad zu beseitigen. Olmert
lehnte aber ab und am nächsten Tag griff die israelische Armee Gaza an.
Die Haltung der
israelischen Regierung hat Erdogan, der ausgesprochen als Selbstherrlich beschrieben
wird, sicherlich persönlich sehr gekränkt, aber Ankara verstand den Gaza-Krieg
als eine Antwort Israels auf die türkischen Vormachtansprüche. Insofern war die
Erzürnung Erdogans in Davos 2009 nicht nur ein »beleidigt sein« des Premiers,
sondern ein Ergebnis der Infragestellung türkischer Ansprüche durch Israel.
Erdogans
Reaktion wurde in den westlichen Medien als »unnötiger
Wutausbruch« und »öffentliche
Brüskierung des israelischen Präsidenten« [12] kritisiert. Viele
Kommentatoren konnten Erdogans Reaktion nicht nachvollziehen. Immerhin hatte
Erdogan selbst am 10. Oktober 2002 in Washington vor jüdischen Organisationen
versprochen, dass »er persönlich dafür
sorgen« werde, »die
israelisch-türkischen Beziehungen zu vertiefen«. In den folgenden Jahren
machte er diese Versprechung auch wahr und erhielt für seine »Verdienste« am
29. Januar 2004 den Preis »Profiles of
Courage« der American Jewish
Committee.
Aber auch den
westlichen Medien dürfte es nicht entgangen sein, wie die Palästina-Politik der
israelischen Regierungen für immer mehr Unmut in Ankara sorgte. Zeichen dafür
gab es genug. Nach jeder israelischen Operation wurde der Ton aus Ankara
schärfer. Gleichzeitig aber blühte die wirtschaftliche und militärische
Zusammenarbeit. Während das türkische Außenministerium Israel im März 2004
wegen der Ermordung von Scheich Ahmed
Yassin in Gaza und im Mai 2004 wegen der Erschießung von 15 Zivilisten im
Flüchtlingscamp Rafah scharf attackierte, bereitete die türkische Armee mehrere
Rüstungsaufträge an Israel. Gleichzeitig liefen die Verhandlungen über ein
Trinkwassergeschäft weiter, mit der 15 bis 20 Prozent der jährlichen
Wasserknappheit Israels behoben werden sollte. Es hatte den Anschein, dass die
scharfen Attacken des türkischen Außenministeriums und die verschärfte
Antiisrael-Rhetorik keinen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungen hatten.
Und als am 13. November 2007 der israelische Staatspräsident Simon Peres im
türkischen Parlament sprach, was ein Novum war, redeten manche türkische
Kommentatoren eine neue »goldene Ära«
in den israelisch-türkischen Beziehungen herbei.
Widersprüche
vernebeln die Sicht
Dieses auf und
ab in den Beziehungen, die vielfältigen Widersprüche und die verschärfte
Antiisraelrhetorik trotz enger Wirtschaftsverflechtungen machen es
Außenstehende schwer, das Bild in seiner Gesamtheit zu sehen. So war es sogar
für manche Kolumnisten in der Türkei nicht ganz klar, welche Strategie Erdogan
verfolgte. Kemalistisch orientierte Medien beispielsweise bewerteten das Eklat
Erdogans am 30. Januar 2009 in Davos als eine reine innenpolitische Propagandaaktion,
die für die Imagepflege der Regierung innerhalb der konservativ-muslimischen
Wählerschaft sorgen sollte und fragten, warum die AKP-Regierung immer noch an
einer Zusammenarbeit mit Israel festhalte.
In der Tat; noch
in den nächtlichen Stunden angekommen, wurde Erdogan vor dem Flughafen von
tausenden Anhängern als »Davos-Eroberer«
[13] begeistert empfangen. Den Zeitungsberichten zufolge wurde
Erdogan auch in den arabischen Medien wie ein Held gefeiert.
Was die militärische
Zusammenarbeit betraf, hatten Erdogan-Kritiker auch recht. Kurz nach der
»Davos-Krise« kaufte die türkische Armee 10 Heron-Drohnen, die sie bei ihren
militärischen Operationen an der türkisch-irakischen Grenze und in den
Kandil-Bergen gegen die kurdische Befreiungsorganisation PKK einsetzte. Die
Auswertung der Heron-Fotos erfolgte in Israel und die geheimdienstliche
Unterstützung gegen die PKK wurde Israel mit 167 Millionen Dollar vergütet. Ein
Auftrag für Radarausstattung türkischer Kampfjets sowie das Projekt Datalink 16, mit dessen Hilfe die
Radarbilder der F4- und F16-Jets ausgewertet werden, wurden an israelische
Firmen vergeben. Am 4. Juni 2009 wurde dann in einer nächtlichen Sitzung des
Parlaments ein Gesetz zur Vergabe der Minenräumungsarbeiten an der
türkisch-syrischen Grenze durchgeboxt. Einige Tage später wurde bekannt, dass
die Räumungsarbeiten in einem Areal von 510 km Länge von einer israelischen
Firma durchgeführt werden sollten und diese Firma zudem das Recht erworben hatte,
44 Jahre lang dieses Areal für biologischen Anbau zu nutzen. Erst Ende Juli
2009 kassierte das türkische Verfassungsgericht [14] einige Teile dieses
Auftrages wegen Verfassungswidrigkeit ein.
Selbst angesichts
der öffentlichen Erniedrigung des türkischen Botschafters in Israel, Ahmet Oguz Celikkol durch den
stellvertretenden israelischen Außenminister Danny Avalon am 11. Januar 2010 [15] und später der
Erstürmung des Gazaflottillenschiffs »Mavi Marmara«, bei der 9 Menschen ums
Leben kamen, wurde der logische Schritt der verschärften Antiisrael-Rhetorik,
nämlich der Abbruch der Beziehungen, nicht vollzogen. Die AKP-Regierung
kündigte vorerst die »Überprüfung«
der bestehenden Abkommen an und sagte die anstehenden gemeinsamen
Militärmanöver ab. Noch war die Zeit nicht reif – eine Erklärung des
Generalstabes der türkischen Streitkräfte erklärt warum [16]: »Die modernisierten F4- und F5-Jets sowie
unsere M60 Panzer benötigen weiterhin Gerätelieferungen aus Israel. Daher ist
die militärische Zusammenarbeit unbedingt aufrecht zu erhalten«.
Noch war die
alte Garde des Regimes, die kemalistische Generalität, aus strategischen
Gründen gegen den Abbruch der Beziehungen. Doch mit dem Rücktritt der obersten
Generäle im August 2011 waren auch die letzten Hindernisse weggefallen. Den
imperialen Gelüsten der Neoosmanen von US-Gnaden konnte jetzt freien Lauf
gegeben werden. Mit der Veröffentlichung des Palmer-Berichts am 1. September
2011 in der New York Times wurde dann
der Start für die Eskalation gegeben.
Ein
Versuch, etwas Licht ins Nebel zu bringen
Eine Betrachtung
der unterschiedlichen Ebenen der Beziehungen zwischen den beiden Staaten und
die Betrachtung der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen könnten
hilfreich sein, das verworrene Bild zu entwirren. Denn die alleinige
Fokussierung auf den aktuellen Konflikt zwischen den beiden Regierungen sollte
den Blick auf die historische Schicksalsgemeinschaft beider Staaten nicht
trüben. Zwei wesentliche Gründe für diese Schicksalsgemeinschaft sind
hervorzuheben:
Die Grundinteressen Israels und der Türkei sind
Deckungsgleich.
Trotz der Konkurrenzsituation um die Vormachtstellung in der Region haben
Israel und die Türkei, was ihre territoriale Einheit und nationalstaatliche
Existenz betrifft, gleiche Interessen. Während die Kurdenfrage die
Achillesferse der Türkei ausmacht, ist Israel dabei sich wegen der Palästina-Frage
(trotz westlicher Unterstützung) völlig zu isolieren. Die Türkei ist mit der
bisherigen Kurdenpolitik gescheitert und läuft der Gefahr, ihren Kampf gegen
die KurdInnen wirtschaftlich, militärisch und politisch zu verlieren. Die
kurdische Bevölkerung in der Türkei ist nicht mehr bereit, sich mit dem Status
quo abzufinden. Israel dagegen gerät in der Palästina-Frage international immer
mehr in eine Sackgasse. Die Aufrechterhaltung dieser Situationen ist für beide
Staaten nicht mehr länger möglich. Durch das Beharren an ihrer bisherigen
Politik gegen KurdInnen bzw. PalästinenserInnen gefährden beide Staaten ihre
derzeitigen Grenzen.
Beide Staaten sind vom Westen abhängig. Ohne die
ausländische Kapitalzufuhr wären die Ökonomien beider Staaten am Ende. Die enge
Verbundenheit mit der NATO, den USA und Kerneuropa sind für Israel und die
Türkei Staatsraison; die Unterstützung und die Einbindung in die globalen
Strategien des Westens eine Konstante ihrer Außenpolitik. Ein Ausscheren aus
dem politischen Koordinatensystem des Westens kommt für beide Staaten nicht in
Frage.
Deshalb wird die
AKP-Regierung nicht müde zu betonen, dass sie »gegen diese israelische Regierung, aber nicht gegen den israelischen
Staat agieren«. [17] Insofern kann konstatiert werden, dass der
Scheidungskrieg zwischen den Regierungen stattfindet, nicht jedoch zwischen den
Staaten an sich. Israel und die Türkei sitzen im selben Boot auf gefährlichen
Gewässern – keiner von ihnen kann es sich leisten, einseitig das Boot zu
verlassen.
Das ist die eine
Seite der Medaille.
Israel und die
Türkei sind der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung
der USA angewiesen. Die US-Unterstützung jedoch hat inzwischen seine Grenzen
erreicht. Zum einen sind die USA selbst in einer wirtschaftlich verzwickten
Lage und werden von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise bedrängt. Zum
anderen sind auch die USA in Afghanistan wie im Nahen Osten militärisch,
politisch und strategisch in einer Sackgasse. Sie verlieren weltweit an
Ansehen, weshalb die Obama-Administration sichtlich um »Lastenverteilung« und
um »Stabilisierung« der Konfliktregionen bemüht ist.
Demgegenüber
wachsen die israelischen und türkischen Erwartungen. Und hier beginnt die
Konkurrenzebene. Beide Länder buhlen um die Gunst der USA.
Israelische
Regierung setzt auf ihre Lobbyorganisationen, weltweiten Kapitalverbindungen
sowie auf die kulturelle, historische und ideologische Bindung mit dem Westen.
Trotz der Tatsache, dass Israel von den USA und Europa als fester Bestandteil
des Westens gesehen wird, wird die gegenwärtige israelische Regierung zu einer
immer schwerer werdenden Last für sie. Die aktuellen Entwicklungen in
Nordafrika und im arabischen Raum belegen, dass die
Netanyahu-Liebermann-Regierung langsam aber sicher zu einem Risikofaktor für
die Stabilität und für die westlichen Interessen in der Region wird.
Informierten
Kreisen ist seit langem bekannt, dass die Obama-Administration mit den
Hardlinern in Jerusalem unzufrieden ist. Erst kürzlich konnte man auf der
Internetseite der Tagesschau lesen,
dass »am 6. September« bekannt wurde,
wie »der ehem. US-Verteidigungsminister
Robert Gates bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates Netanyahu als
›undankbar‹ bezeichnet hatte«. Offenbar ist die US-Regierung der
Auffassung, dass die Politik der Netanyahu-Liebermann-Koalition die Zukunft
Israels, somit auch strategische Interessen der USA in der Region gefährdet.
Die Tatsache, dass Gates-Aussagen von der Sitzung des Nationalen
Sicherheitsrates an die Öffentlichkeit gelangten und Seitens der US-Regierung
nicht dementiert wurden (»Indiskredition
als regierungsamtliche Bestätigung«, Bewertung der Tagesschau), kann als ein klares Signal an Israel bewertet werden.
Auch
verschiedene westliche Medien sehen inzwischen die israelische Regierung immer
mehr als ein Problemfall. Exemplarisch hierfür sind die verschiedenen Artikel
in The Guardian. [18] Die
britischen Kommentatoren weisen daraufhin, dass die israelische Regierung mit
ihrer Türkei-Politik »einen großen
Fehler« mache, »dessen Preis von Tag
zu Tag höher« werde. Netanyahu müsse »einsehen,
dass eine mögliche ägyptisch-türkische Antiisraelkoalition, einen jahrelang
andauernden strategischen Nachteil schaffen würde«, der sicherlich mit dem
taktischen Sieg im Palmer-Bericht, dessen Halbwertszeit kaum mehr als ein paar
Tage ausmachen, nicht ausgeglichen werden kann. So wird auch eine Korrektur der
US-Politik gegenüber Israel gefordert, der »die
bisherige bedingungslose Unterstützung neubewertet« und »die Aufweichung der US-Position zu einer
möglichen Palästinaanerkennung in der UN-Vollversammlung« beinhalten
sollte. Schließlich dürfe die USA »die
strategische Bedeutung der Türkei und ihre herausragende Leistung in der
Region« nicht unterschätzen.
Es ist möglich,
dass die Obama-Administration eine ähnliche Schlussfolgerung zieht, dennoch
sind ihnen die Hände gebunden. In Sachen Israel führen innenpolitische
Entwicklungen zu einer Handlungsunfähigkeit. Auch deshalb werden Appelle der
US-Regierung von Netanyahu nicht ernst genommen. Genau hier kommt die
AKP-Regierung ins Spiel: Sie setzt auf die schwache Position der israelischen
Regierung und will beweisen, dass die Türkei der bessere Stabilisierungsfaktor
somit der potentere strategische Partner in der Region ist. Dabei ist sie sich
der Unterstützung der US-Regierung sicher, zumal Erdogan bewiesen hat, dass er
der einzige Regierungschef ist, der öffentlichkeitswirksam Israel die Stirn
bieten kann und trotz der Sympathien in der arabischen Ländern für die
Verteidigung der US-Interessen bereit steht.
Inzwischen ist
längst entschieden, der Türkei den Vorzug zu geben. So soll beispielsweise der
NATO-Raketenschirm in der Türkei stationiert werden. [20] Immerhin
ist die militärische Gewaltmaschinerie der Türkei, der nun endlich unter das
explizite Kommando der AKP-Regierung gestellt werden konnte, die zweitstärkste
Armee der NATO. Die Türkei ist willig und fähig, an allen Auslandseinsätzen
teilzunehmen und verfügt über hervorragende Kontakte in der islamischen Welt,
die durch die Konfrontation mit Israel immer mehr intensiviert werden. So
gesehen ist die Türkei der perfekte Partner für die Durchsetzung der
US-Interessen.
Hier decken sich
die strategischen Interessen der USA und der Türkei. Für die Begehrlichkeiten
der Türkei und für die an regionaler Stabilität interessierte US-Regierung ist
die Netanyahu-Liebermann-Koalition ein Störfaktor geworden. Die USA sind nicht
in der Lage, den Druck auf Netanyahu zu erhöhen. So nimmt Erdogan diese Aufgabe
wahr.
Das ist einer der wesentlichen Gründe für den
aktuellen israelisch-türkischen Konflikt.
Auch in Israel
gibt es kritische Stimmen gegen den Regierungskurs. Den Tagesschauberichten
zufolge sollen seit Wochen israelische Politiker und Analysten der israelischen
Regierung angeraten haben, ihren Kurs zu überdenken. Insbesondere die
Geheimdienste würden wiederholt dazu aufrufen, Maßnahmen zu ergreifen, um
Spannungen abzubauen. Ob jedoch die israelische Regierung diese, ohne Zweifel
klugen Mahnungen erhört, scheint zweifelhaft zu sein. Selbst wenn
Ministerpräsident Netanyahu der Türkei oder den PalästinenserInnen gegenüber
Annäherungsversuche unternehmen würde, müsste er mit dem Bruch seiner Koalition
rechnen. Denn die rechtsradikalen Teile der Regierung machten
unmissverständlich klar, dass sie an dem Konfrontationskurs festhalten werden.
So bleibt die israelische Regierung weiterhin unberechenbar.
Berechenbar
dagegen sind die türkischen Interessen am östlichen Mittelmeer. Es kommt nicht
von ungefähr, dass Außenminister Davutoglu betonte, dass die Türkei die längste
Küste am Mittel besitzt: Es geht um die vermuteten Erdgasvorkommen im
Mittelmeer. Berichten zufolge wird geschätzt, dass in dem sog. »Levente-Becken«
im östlichen Mittelmeer ein riesiges Erdgasvorkommen mit rund 3,5 Billionen
Kubikmeter Erdgas liegt. Vor der Küste Gazas sollen Vorkommen mit einem
geschätzten Wert von 4 Milliarden Dollar liegen.
Der Kampf um diese Energiereserven, die unklar
definierten Wirtschaftszonen und das Recht eines jeden Landes, die Bodenschätze
seiner Wirtschafszone auszubeuten, machen die weiteren wesentlichen Gründe für
den aktuellen israelisch-türkischen Konflikt aus.
In dieses
Problem sind mehrere Länder involviert: Neben Israel und der Türkei stellen
Syrien, Libanon, Zypern und auch Palästina – wenn es denn als Staat anerkannt
würde – Ansprüche im östlichen Mittelmeer. Die türkische Regierung vertritt den
Standpunkt, dass die Türkei aufgrund des UN Seerechtsabkommens von 1982 das
Recht habe, »ab der 12-Meilenzone vor
ihren Küsten eine 200 Meilen breite Wirtschaftszone auszurufen«, so das
Außenministerium. Am 13. September 2011 unterstrich der EU-Minister Bagis im
Fernsehen wiederholt den möglichen Einsatz der türkischen Marine, »um Probebohrungen vor Zypern zu unterbinden
und unseren Anspruch zu manifestieren«. Auch Außenminister Davutoglu hatte
angekündigt, »Vorkehrungen für die
Bewegungsfreiheit im östlichen Mittelmeer zu treffen«.
Hinter dieser
aggressiven Ausrichtung der türkischen Außenpolitik, der von Israel und
Republik Zypern (so auch von Griechenland) als eine Drohung verstanden wurde,
steckt nicht nur die neue türkische Militärdoktrin, sondern auch die seit über
einem Jahr andauernde israelisch-zypriotische Kooperation. Israel und die
Republik Zypern hatten sich im Dezember 2010 über den Verlauf der gemeinsamen
Seegrenze geeinigt und ein Abkommen über die Nutzung der Bodenschätze im
östlichen Mittelmeer unterschrieben [21]. Während des Besuches der
zypriotischen Außenministerin Erato
Kozakau-Marcomillis am 24. Und 25. August 2011 in Israel [22]
hatten beide Länder erklärt, dass sie »alsbald
gemeinsam beginnen werden, im Rahmen des internationalen Rechts im Mittelmeer
nach Erdgas zu bohren« (Türkische Zeitungen). Das türkische
Außenministerium sieht darin die Gefahr, dass die Türkei »die Nutzungsrechte von ihrer eigenen, rund 145.000 Quadratkilometer
großen Küstenregion an Griechenland (71.000 km2) und Republik Zypern
(33.000 km2) verlieren könnte«. [Das ist übrigens eine andere
Dimension des Zypernstreits zwischen der Türkei und der EU. Falls der Streit
weiter eskalieren sollte, könnte auch die EU in den Konflikt einbezogen werden,
da die Republik Zypern EU-Mitglied ist.]
In Zusammenhang
mit dem Streit um die »Bewegungsfreiheit
im östlichen Mittelmeer« hat die Türkei nun den »Aktionsplan Barbaros« [23] ins Leben gerufen. Nach
diesem Aktionsplan soll das »Mittelmeer Sicherheitsschild« erweitert werden.
Demnach gehören die Adria, das Rote Meer und das Indische Ozean nun zum
Interessensgebiet der türkischen Marine. [24] Das sog. »Mittelmeer
Sicherheitsschild« war 2006 durch den Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates
der Türkei ins Leben gerufen worden und sollte in erster Linie für die
Sicherheit der Energieregion Ceyhan sorgen. Mit dem »Aktionsplan Barbaros« soll jetzt die Anzahl der eingesetzten
Kriegsschiffe, U-Boote und Kampfjets erhöht werden. Danach sollen diese
Einheiten verstärkt im östlichen Mittelmeer, speziell östlich und südlich von
Zypern Patrouillenfahrten unternehmen.
Schon 2010
hatten Teile der, in der »Türkischen
Meeresauftragsgruppe« zusammengeschlossenen Kriegsschiffe im Mittelmeer, in
der Adria, im Roten Meer und im Indischen Ozean Fahrten unternommen und Häfen
in Oman, Vereinigte Arabische Emirate, Pakistan, Indien, Jemen, Saudi Arabien
und Jordanien besucht. Diese Fähigkeiten seiner Streitkräfte zur Schau stellend,
stellt sich die Türkei als der stärkste Bewerber für die Verteidigung von
US-Interessen dar.
Fazit
Der aktuelle
israelisch-türkische Konflikt muss in Zusammenhang mit den Änderungen im
Mittelmeerraum und im Nahen Osten, den strategischen US-Interessen, dem
regionalen Kampf um die Ausbeutung der Erdgasvorkommen und den
Vormachtansprüchen der Türkei betrachtet werden. Nicht vergessen werden sollte,
dass trotz dieses Konflikts beide Staaten immer noch auf einander angewiesen
sind und auf der gleichen Seite stehen. Die Antiisrael-Rhetorik Erdogans kann
nicht darüber hinweg täuschen.
Aus den
Regierungskreisen und den der AKP-Regierung nahestehenden Forschungsinstituten
hört man immer wieder die Betonung, dass man zwischen der israelischen
Regierung und Israel als Staat unterscheiden müsse. So stellte z.B. das
türkische Institut für Strategische
Internationale Studien USAK im Juli 2011 fest [25]: »Alle sind sich darüber einig, dass die
Türkei und Israel aufeinander angewiesen sind. Wichtiger jedoch ist zu wissen, dass
der Nahe Osten auf ein Duo Türkei-Israel angewiesen ist, die gute Beziehungen
untereinander haben«. Der USAK-Nahostexperte Osman Bahadir Dincer unterstreicht in seiner Analyse (»Israel: Der sich nicht ändernde Staat des
sich ändernden Nahen Ostens«) die eigentliche Erwartung der Türkei wie
folgend: »Für die Lösung der
strukturellen Probleme in den türkisch-israelischen Beziehungen muss Israel die
stattgefundenen Veränderungen in der Türkei und in der arabischen Welt richtig
deuten und einen Paradigmenwechsel einleiten. Bei der Betrachtung der
türkisch-israelischen Beziehungen ist der wichtigste Punkt den man beachten
muss, dass die Beziehungen nicht mehr über die alten Parameter fortgeführt
werden können. (…) Israel muss, um gesunde Beziehungen in seiner Außenpolitik
ausbauen zu können, die Ärmel hochkrempeln und die inneren Krankheiten
bekämpfen. Israel ist gehalten, in einer Welt, in der die gegenseitigen
Abhängigkeiten vertieft werden, sich von der Sklaverei der lösungsuntauglichen
Politiken zu befreien. (…) Die Überprüfung der aktuellen Außen- und
Verteidigungspolitik wird Israel den Weg ebnen, mit den Staaten der Region in
der nächsten Zeit bessere Beziehungen aufzubauen«.
Die
Feststellungen in dieser Analyse entsprechen der Politik der türkischen wie der
US-Regierungen. Daraus kann auch herausgelesen werden, dass die
Netanyahu-Liebermann-Koalition nicht erwünscht ist. Für die USA und die Türkei
ist dies Regierung Problem, welches aber nur in Israel und von den israelischen
WählerInnen gelöst werden kann. Es mag sein, dass die sozialen Proteste der
letzten Wochen in Israel vielleicht den Beginn eines Prozesses hin zum
Regierungswechsel markieren. Ob aber damit auch ein Politikwechsel verbunden
sein wird, was jede Vernunft es den Israelis wünschen würde, ist offen.
Offen ist auch,
ob es der Türkei gelingen wird, die Meinungsführerschaft in der islamischen
Welt zu übernehmen. Die hohen Sympathiewerte Erdogans in den ägyptischen und
palästinensischen Gesellschaften sind Konjunktur bedingt und sollten daher
nicht als Maßstab genommen werden. Die osmanische Herrschaft ist keineswegs
vergessen, selbst wenn »der westliche
Kolonialismus und seine neokolonialistische Fortsetzung das osmanische Joch im
arabischen Geschichtsbewusstsein in einem milderen Licht erscheinen lässt«.
[26] Es mag auch in den westeuropäischen Ohren sympathisch klingen,
wenn Erdogan den türkischen Weg und den Laizismus türkischer Prägung den
arabischen Gesellschaften zur Nachahmung empfiehlt. Applaus ist ihm sicher,
mehr nicht.
Denn auch in den
arabischen Ländern wird Erdogans Handeln misstrauisch verfolgt. Zu
offensichtlich sind die neoosmanischen Hegemonieversuche und vergessen ist auch
nicht, dass der scharfen Rhetorik nach »Mavi Marmara« keine dieser Rhetorik
entsprechenden Schritte erfolgten. So wirft auch die Behandlung Syriens durch
die Türkei kein gutes Licht auf Erdogan.
Dass die Türkei
sich als neuer Gendarm der NATO im Nahen Osten anbiedert, wird auch in der
arabischen Presse artikuliert. So schrieb der in der arabischen Welt einflussreiche
libanesische Journalist Mostafa Zein
am 15. August 2011 in der Zeitung Dar
al-Hayat: »Die Haltung Erdogans in
Davos oder gegen den Gaza-Krieg sind nur Bemühungen, sich so darzustellen, als
ob er zur Distanz gegen die USA und den Europäern übergegangen ist, um eine
Rolle in der Region spielen zu können. Das bedeutet aber nicht, dass er sich
von den Interessen der USA und Europa entfernen wird«. Ferner schreibt
Zein: »Anders gesagt, die Türkei ist die
bewaffnete Kraft der Europäer und der USA im Nahen Osten. Sie ist, obwohl sie
wegen ihrer früheren und modernen islamischen Geschichte nicht in die EU
aufgenommen wird, eine Polizeikraft, der die Aufgabe erteilt wurde, die
Interessen des Westens zu verteidigen«. Dieses Misstrauen zu entkräften,
bedarf mehr als nur einer Rhetorik.
Es mag sein,
dass die Entscheidungsträger der Türkei daran glauben, die »neue« Türkei könne
die Führung der arabischen Welt übernehmen. Die aktuelle Reise des türkischen
Premiers in die arabischen Länder kann als Bewerbung dafür bewertet werden.
Sicherlich nützt ihm dabei sein Konflikt mit der israelischen Regierung. Aber
selbst die optimistischsten Stimmen können nicht mit Sicherheit voraussagen, ob
Erdogan die neuen Regierungen in Ägypten, Libyen und Tunesien von seinen Führungsansprüchen
wird überzeugen können.
Selbst wenn die arabischen
Regierungen einer stärkeren Zusammenarbeit neigen sollten, so kann die
Achillesferse der Türkei mit einem Schlag die internationalen und strategischen
Pläne zur Nichte machen. Mit den Wahlsiegen, Wirtschaftswachstum und
Unterordnung der türkischen Generalität gestiegene Selbstbewusstsein der
AKP-Regierung sowie die Erwartung, das eigene Kurdenproblem wie in Sri Lanka
mit massiver militärischer Gewalt lösen zu können, sowie die Hoffnungen auf
einen größeren Anteil an der Neuordnung des Nahen Ostens führen zur
Selbstüberschätzung und machen Blind vor den Realitäten in den kurdischen
Gebieten. Jeder Fehler, den sich die AKP-Regierung im Umgang mit der eigenen
kurdischen Bevölkerung erlauben wird, kann fatale Folgen haben. Denn weder ist
Kurdistan mit Sri Lanka, noch die kurdische mit der tamilischen Bewegung
vergleichbar. Eine wiederholte militärische Eskalation hat das Potential, die
gesamte Region in einen Flächenbrand zu verwandeln.
Nicht zu vergessen
ist dabei die Rolle Irans.
Was auch die
Bemühungen Erdogans in der arabischen Welt bringen mögen, eines steht m. E. fest:
die imperiale Ausrichtung der türkischen Politik dient keineswegs dem Frieden
in der Region. Vielleicht wird auch der israelisch-türkische Konflikt mit einem
Regierungswechsel in Israel enden. Aber solange Israel und die Türkei an ihrer
bisherigen Politik festhalten, solange werden sie ihren eigenen Gesellschaften
und dem gesamten Nahen Osten einen Bärendienst erweisen.
Dabei hätten Israel
und die Türkei, mit ihren multiethischen und multireligiösen Gesellschaften
durchaus Chancen für einen Friedensprozess, der darauf gerichtet ist, in der
gesamten Region eine friedliche, demokratische und soziale Nachbarschaft mit
gegenseitiger Achtung, fairen Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitiger
Unterstützung aufzubauen. Sie könnten dazu einen entschiedenen Beitrag leisten
– wenn sie denn wirklich demokratische, friedliche und säkulare Staaten wären.
Dann stünden ihnen alle Möglichkeiten offen, Wirksamkeit zu entfalten, damit
der Nahe Osten ein Hort des Friedens, der Demokratie und sozialer Gerechtigkeit
wird. Und genau das wäre im Interesse der Menschen in der Region, egal ob
christlichen, jüdischen oder muslimischen Glaubens…
Das ist
natürlich nur ein Traum.
Dennoch! Selbst
wenn es nur ein Traum, eine unrealistische Hoffnung ist, lässt es einem das
Herz höher schlagen. Und seien wir ehrlich, was wäre der Mensch ohne seine
Träume und Hoffnungen?
*********
[4] Siehe auch: http://www.euronews.net/2011/09/07/turkey-and-israel-can-tumble-into-conflict-over-syprus/
[6] Adnan Menderes und einige seiner
Minister wurden nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 auf der Gefängnisinsel
Heybeliada inhaftiert und nach einem Schauprozess erhängt.
[7] Ekrem Güvendiren ist heute
Vorsitzender des Türkisch-Israelischen Arbeitsrates, der unter dem Dach des
Rates für außenwirtschaftliche Beziehungen tätig ist. Noch am 6. April 2011
erklärte Güvendiren, dass die türkisch-israelischen Wirtschaftsbeziehungen »trotz der Krise um die Gazaflottille das
höchste Niveau seit der Gründung des Staates Israel erreicht« habe. Siehe
auch: http://www.hasturktv.com/Turk_Basini_ve_Yorumlar/1861.htm
[9] Alle Angaben aus den jährlichen
Statistikberichten der Türkischen Statistikbehörde TUIK. Siehe auch: (Pdf) www.tuik.gov.tr/IcerikGetir.do?istab_id=89
Seite 62 ff. oder http://www.tuik.gov.tr/VeriBilgi.do?tb_id=12&ust_id=4
[10) Diese Stiftung wurde am 17. Juni
1987 mit dem Gesetz Nr. 3388 gegründet und ist Eigentümerin von mehreren
türkischen Rüstungskonzernen sowie der Internationalen Verteidigungsindustriemesse
Türkei IDEF. Siehe: http://www.tskgv.org.tr/tskgv/?page_id=5
[12] Siehe auch: taz, vom 31. September 2009,
»Erdogan fällt aus der Rolle«, http://www.taz.de/!29730/
[13] In Türkisch: Davos Fatihi. »Fatih« bedeutet »Eroberer« und wird mit Sultan Mehmet,
dem Padischah, der Konstantinopel eroberte und heute noch von der
Mehrheitsgesellschaft hochgeachtet wird, in Verbindung gebracht. Mit der
Bezeichnung »Fatih« werden auch religiöse Assoziationen gezogen.
[14] Zu dieser Zeit war das
Verfassungsgericht mehrheitlich von AKP-kritischen Richtern besetzt.
[15] In Zusammenhang mit einem
antisemitischen Kinostreifen (»Tal der Wölfe«) war der türkische Botschafter in
das Außenministerium zitiert worden. Vor laufenden Kameras ließ man ihn auf
einem niedrigen Sofa Platz nehmen. Allen diplomatischen Gepflogenheiten zum
Trotz war auf dem Tisch nur die israelische Fahne, während Avalon den
Botschafter lautstark beschimpfte.
[16] Siehe: Berichterstattung der
Tageszeitung Taraf vom 17. Juni 2010.
[17] Am 13. September 2011 haben Erdogan
und sein für EU-Beziehungen zuständiger Minister Egemen Bagis dies nochmal unterstrichen. Bagis im Fernsehsender CNN-Türk: »Wir stellen unsere Forderungen an die Adresse der israelischen
Regierung, nicht den Israelis oder dem israelischen Staat«. Ähnliches sagte
auch Erdogan ein paar Stunden später auf einer Pressekonferenz in Kairo.
[18] Siehe u. a.: http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/sep/12/turkey-israel-reverberates-washington
[20] Am 14. September 2011 berichteten türkische
Tageszeitungen, dass die Radare des Raketenschirms auf einem Radarstützpunkt
der türkischen Armee in Kürecik (Regierungsbezirk Malatya) stationiert werden. Das
Abkommen darüber wurde in Ankara von dem Staatssekretär im Außenministerium Feridun Sinirlioglu und dem
US-Botschafter Francis Ricciardone
unterschrieben. Kontrolliert wird der Raketenschirm von Deutschland aus. Die
Türkei soll Mitspracherecht haben. Als Voraussetzung hatte die Türkei verlangt,
dass die Auswertungen der Radarbilder nicht an Israel mitgeteilt werden.
[21] Siehe u. a.: http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/2611675/tuerkei-betrachtet-abkommen-israel-zypern-null-nichtig.story
[22] Siehe: http://www.israelnetz.com/themen/aussenpolitik/artikel-aussenpolitik/datum/2011/08/25/zypriotische-aussenministerin-besucht-israel/
und http://www.welt.de/politik/ausland/article13595858/Beim-Streit-mit-Israel-geht-es-um-Erdgas-vor-Gaza.html
[23] Der Name »Barbaros« ist an den
osmanischen Korsar und Admiral Barbaros
Hayrettin Pascha angelehnt, der zwischen 1516 und 1546 im Mittelmeer auf
Beutezug war und das Mittelmeer zweitweise zu einem »osmanischen Binnensee«
verwandelte. Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Khair_ad-Din_Barbarossa
[24] Dieser Plan hat eigentlich eine
lange Geschichte. Schon 1998, am 17. März 1998 berichtete die inzwischen
eingestellte Tageszeitung Yeni Yüzyil
unter dem Titel »Unsere globalisierte
Armee« über ein strategisches Dokument der türkischen Marine. Unter der
Überschrift »Zu den offenen Meeren«
hatte die Marineführung im November 1997 festgestellt: »Das Ägäische Meer, Schwarzmeer und das Mittelmeer haben für die Türkei
lebenswichtige Bedeutung. Das Kaspische Meer, der Persische Golf, das Rote Meer
sowie das atlantische Umfeld des Gibraltars sind Interessensgebiete der
türkischen Streitkräfte. (…) Diese Feststellung macht eine Marine notwendig,
die weit entfernt vom Heimathafen, logistische Unterstützung stellen kann und
schlagkräftig ist«. Mehr über diese Pläne in: M. Cakir, »Die
Pseudodemokraten«, GDF-Publikationen, Düsseldorf 2000, S. 25 ff.
[25] Siehe: http://www.usak.org.tr/EN/
[26] Werner Pirker, »Neo-Osmanen«, in: Junge Welt vom 15. September 2011.