Wie sind die
Positionen der türkischen Regierung zu den Libyenkrieg des Westens aus heutiger
Sicht zu bewerten?
Die Position der türkischen
Regierung zum Libyenkrieg muss in einem Gesamtzusammenhang mit der
Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik und den Vormachtansprüchen Ankaras
betrachtet werden.
Selbst wenn ein Widerspruch
zwischen der scharfen außenpolitischen Rhetorik Erdogans und der realen
außenpolitischen Praxis immer wieder als »zu offensichtlich« erscheint, ist bei
näherer Betrachtung festzustellen, dass dieser Widerspruch nur scheinbar
existiert. Dabei sollte man sich nicht von den Aussagen Erdogans auf seinen
Besuchen in Ägypten, Tunesien und Libyen, von seinen kritischen Aussagen zur
westlichen Politik vor der UN-Vollversammlung oder der Androhung »ggf. in Sachen Israel und Zypern die Armee
einzusetzen« nicht täuschen lassen.
Die Neuausrichtung der türkischen
Außenpolitik beruht in erster Linie auf folgenden Feststellungen: Erstens ist
die türkische Regierung der Auffassung (dies kann man insbesondere aus
verschiedenen Interviews des Außenministers Davutoglu herauslesen), dass mit
der sog. »Soft-Power-Politik« und der nach 2006/2007 vorgegebenen Losung »Null-Probleme-mit-den-Nachbarn« die
Grenzen der außenpolitischen Einflusses erreicht worden seien. Andererseits,
zweitens, dürfe die Türkei, die inzwischen eine globale Rolle anstrebe, nur um
Spannungsrisiken zu minimieren von ihren regionalen Ansprüchen keine Abstriche
machen. Drittens dürfe angesichts des, nach dem »Arabischen Frühling« entstandenen
politischen Vakuums in der Region nicht zugelassen werden, dass Iran diese
Lücke alleine fülle. Aus diesen Gründen müssten die »kalkulierbaren Risiken einer Politik der kontrollierten Spannung«
hingenommen werden.
In regierungsnahen Zeitungen ist
zu lesen, dass die türkische Regierung eingesteht, dass sie in der
Vergangenheit, »um der regionalen
Stabilität wegen« mit den autoritären Regierungen in Libyen und Syrien
zusammengearbeitet habe / zusammenarbeiten müsste. Dies sei »sicherlich notwendig« gewesen, doch
jetzt sei »notwendig, das libysche Volk
in seinem Bestreben nach Demokratie und Freiheiten mit ganzer Kraft zu
unterstützen«.
Gerade Libyen und Gaddafi waren
bis zuletzt wichtige Faktoren für die Afrika-Politik der AKP-Regierung. Zum
einen konnte die AKP sowohl aus Libyen als auch aus den übrigen arabischen
Länder die dringend benötigten Kapitalflüsse in die Türkei garantieren, zum
anderen hatte Libyen mit ihrem großen Einfluss dafür gesorgt, dass die
Afrikanische Union 2008 die Türkei zu ihrem »strategischen Partner« erklärte.
In selben Jahr fand das 1. Gipfel der afrikanisch-türkischen Zusammenarbeit,
mit der die Beziehungen institutionalisiert wurden. Erdogan erklärte erst
kürzlich im September 2011, dass »die
institutionalisierten Beziehungen zu den Ländern der Afrikanischen Union ein
Hauptelement der türkischen Außenpolitik« sei.
Kurz zu den
Wirtschaftsaktivitäten der Türkei in Afrika: Im Dezember 2011 wird in Istanbul
eine Zusammenkunft des türkischen Außenministers mit den Außenministern der
Afrikanischen Union stattfinden. Eine sog. »Evaluierungskonferenz«, auf der
laut Erdogan die weitere strategische Ausrichtung der Beziehungen besprochen wird
und die Vorbereitungen für den 2. Gipfel, welches 2013 in einem afrikanischen
Land stattfinden soll, beginnen sollen.
Die Türkei will die Zahl ihrer
Vertretungen in Afrika 2012 auf 34 erhöhen. Laut den Angaben der türkischen
Regierung hat sich das Handelsvolumen mit afrikanischen Ländern von 4
Milliarden (2000) auf über 16 Milliarden Dollar (2010) erhöht. Während Libyen
mit 2,4 Milliarden Dollar den ersten Rang hält, betrug das Handelsvolumen mit
den Ländern südlich der Sahara im ersten Halbjahr 2011 3 Milliarden Dollar. Die
türkischen Investitionen in Afrika konzentrieren sich in den Bereichen der Infrastrukturbau,
Energie und »Verteidigungsindustrie«.
Neben Libyen setzt die Türkei auf
wachsende Zusammenarbeit mit Südafrika. Dazu Erdogan: »Für unsere Afrika-Politik hat Südafrika, die zu den übrigen Ländern
des Kontinents enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen
unterhält, eine sehr wichtige und prioritäre Bedeutung. (…) Wir sind ein Land,
welches sich im Zentrum einer Region befindet, die sich vom Balkan über das
Schwarze Meer und Kaukasus bis in den Nahen Osten und Maghreb streckt. (…)
Daher ist die Entwicklung unserer Zusammenarbeit, nicht nur auf
wirtschaftlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der UN, Afrikanischen Union
und G 20-Gipfel für die Türkei höchst erfreulich.«
Nach dem Krieg bleibt Libyen
weiterhin ein wichtiger Faktor für die türkische Außenpolitik. Während die AKP-Regierung
sich sehr schnell auf der Seite der NATO positionierte und deutlich machte,
dass sie die neuen Machthaber anerkenne, brach sie vorerst ihre Kontakte zu
Gaddafi nicht völlig ab. Bei seinem Libyenbesuch war Erdogan sichtlich bemüht,
die libysche Bevölkerung anzusprechen. Denn das anfängliche Zögern im Bezug auf
die Einrichtung der Flugverbotszone hatte der türkischen Regierung viel Kritik
seitens der »Aufständischen« gebracht. Er konnte auch erfolgreich den
Blitzbesuch von Sarkozy und Cameron Mitte September (einen Tag vor seinem
Besuch) zu seinen Gunsten interpretieren, in dem er demonstrativ auf die
westliche Kolonialgeschichte hinwies. Nach Libyen hatte Erdogan auch 125
Unternehmensvertreter mitgebracht, die mit den neuen libyschen Machthabern
Kontakte aufnahmen. Dabei ging es auch um die Sicherung der türkischen
Investitionen in der Gaddafi-Ära.
Welche öffentlichen
politischen Diskussionen im Lande hat es gegeben? Wie bewerten die türkischen
Politiker und die Medien bzw. die Öffentlichkeit die Ergebnisse des Krieges und
die Entwicklung und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten nach dem Krieg?
Ordnungshalber sollte darauf
hingewiesen werden, dass in den türkischen Medien bzw. in der Öffentlichkeit die
scharfe außenpolitische Rhetorik mehr Aufmerksamkeit findet als die
pragmatische außenpolitische Praxis. In der Tagespresse und den Fernsehsendern
wird ausschließlich auf der Grundlage dieser Rhetorik eine regierungsamtliche
bzw. regierungsnahe Sicht dargestellt, so dass behauptet werden kann, dass die
öffentliche Meinung in der Mehrheitsgesellschaft sich davon nicht weit
entfernt. Insofern ist es notwendig, über Verlautbarungen der Regierung und
Bewertungen einer Fachöffentlichkeit sich ein Bild darüber zu machen.
So wird in den Analysen einiger
regierungsnahen Forschungsinstitute bzw. aus dem universitären Bereich die
Positionierung der türkischen Regierung während des Libyenkriegs als Ausdruck
der neuen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik bewertet. Dabei wird häufig
darauf hingewiesen, dass die Türkei sich den Veränderungen im arabischen Raum
am schnellsten anpassen konnte.
Auch aus den Verlautbarungen des
Außenministeriums kann herausgelesen werden, dass die Türkei, entgegen Israel,
Saudi Arabien und dem Iran sich der »strukturellen
Veränderungen sehr schnell adaptieren und so sich enorme Vorteile verschaffen
konnte«. Der Hochschullehrer der Istanbuler Stadtuniversität, Burhaneddin
Duran und Nasuhî Güngör von der Tageszeitung Star stimmen dem zu und erklären übereinstimmend, dass »Erdogan der einzige Regierungschef ist, der
mit seiner nach Gerechtigkeit orientierten politischen Sprache den Lebensnerv
der Menschen in der Region getroffen« habe.
In der Tat; Erdogan attackiert
Israel als »verzogenes Kind des Westens«
und macht sich die »palästinensische Sache« eigen, kritisiert den westlichen
Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte und gewinnt Sympathien der libyschen
Bevölkerung und mahnt die »fehlende
humanitäre Sensibilität des Westens in Somalia« an, um dann mit dem Vorwurf
(so bei seinem Besuch in Mazedonien), dass »der
Imperialismus immer noch die Völker unterjochen« wolle, seine
Sympathiewerte in der islamischen Welt zu erhöhen. Dazu passt auch der Vorwurf
an deutsche Stiftungen, dass sie »die PKK
unterstützen« würden. In den gängigen türkischen Medien wird Erdogan als
ein erfolgreicher Regierungschef dargestellt, der »den Islam mit Demokratie und Laizismus vereinen und den Westen, ohne
eine Feindlichkeit gegen den Westen aufzubauen sowie in westlichen Bündnissen
verbleibend, kritisieren kann«.
Die AKP-Regierung wird in der
Öffentlichkeit, auch im Hinblick auf ihre Libyen-Politik als eine
Administration dargestellt, welche sowohl die bi-und multilateralen
Kooperationen als auch Spannungen gleichzeitig und gut leiten bzw. managen
kann. Dabei verweist man auf die guten Beziehungen zu den USA und der
Entscheidung, der Installation des NATO-Raketenschirms in der Türkei
zuzustimmen. In Zusammenhang mit den US-Interessen in der Region wird
festgestellt, dass »nach dem arabischen
Frühling die Regionalpolitiken der Türkei und der USA völlig übereinstimmen«.
Die türkischen Kommentatoren betonen zudem, dass »die symbolische Kraft der Leader-Rolle Erdogans in der arabischen
Welt, die hohe wirtschaftliche Performance des Landes und die
Demokratisierungsschritte im Innern, die neue, aktivere Außenpolitik nun
unumkehrbar gemacht hätten.«
In den regierungsnahen
islamischen Kreisen wiederum bemüht man sich, die Laizismus-Äußerungen Erdogans
in Ägypten und in Libyen zu relativieren. Die antilaizistische Haltung Erdogans
war einer seiner Trümpfe, um die islamischen bzw. islamistischen Kreise an sich
zu binden. Mit seinen Äußerungen in Ägypten und Libyen, dass »der Laizismus an sich keine schlimme Sache«
sei, hatte Erdogan sowohl von der Muslimischen Brüderschaft als auch von seinen
Anhängern Kritik einstecken müssen.
Daher werden islamische bzw.
islamistische Medien nicht müde zu betonen, dass »die Laizismus-Empfehlungen des Premiers in Zusammenhang mit der
internationalen Konjunktur gelesen werden« müssten. So wurde darauf
hingewiesen, dass Erdogan mit diesen Äußerungen den israelischen und westlichen
Vorwürfen, die AKP sei eine islamistische und laizismusfeindliche Partei, »den Wind aus den Segeln genommen« habe.
Außerdem habe Erdogan damit bewiesen, dass »die
Türkei nun Israel ihre Selbstbezeichnung, ›die einzige Demokratie der Region‹
zu sein, streitig mache«.
Aufgrund der Notwendigkeit, »die Interessen der Türkei zu schützen und
ihrem Anspruch, eine Ordnungsmacht des Neuen Nahen Ostens zu werden« sei
die Kooperation mit demokratischen Regimen ein Vorteil, auf den die Türkei
nicht verzichten könne. Weil Erdogan sich bewusst sei, dass er in der
westlichen Öffentlichkeit als ein Islamist angesehen werde, habe »der Premier mit seiner Laizismus-Äußerung
ein erfolgreiches Manöver gestartet, um diese Vorbehalte gegenstandslos zu
machen« (Levent Bastürk, Dünya Bülteni). Dennoch müsse Erdogan sensibel
genug sein, um zu erkennen, dass »die
Bejahung des Laizismus aus strategischen und politischen Pragmatismusdenken
heraus die Gefahr beinhaltet, die muslimischen Massen zu entfremden«. Daher
müsse Erdogan seine angesehene Rolle in der arabischen Welt für die Stärkung
der islamischen Kräfte sowie für deren Teilhabe an den neuen Machtstrukturen in
Ägypten, Tunesien und Libyen einsetzen.
Kurzum, die Ergebnisse des
Libyenkriegs und die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten werden von den
türkischen Politikern und in der Mehrheitsgesellschaft durchaus als »wichtige Chancen der Türkei, um ihre
Führungsrolle in der Region zu zementieren« bewertet. Die Übereinstimmung
mit der US-Politik würde die erfolgreiche Fortführung der aktiven türkischen
Außenpolitik begünstigen. Gerade diese Neuausrichtung der türkischen
Außenpolitik habe bewiesen, dass »die
Türkei die Politik der kontrollierten Spannung zu ihrem Vorteil umsetzen könne«.
Wie sind die
Positionen zu den Entwicklungen in Syrien und Jemen? Inwiefern wurden diese
Positionen durch den Libyenkrieg des Westens beeinflusst?
Zu Syrien:
Die türkische Syrienpolitik hat drei wichtige Momente: 1.) Die
Kurdenproblematik, 2.) die Politik der USA und 3.) die iranisch-türkische
Konkurrenz.
Noch 1999 war die Türkei am Rande
einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Syrien. Gemeinsam mit Israel erhöhte
die Türkei den Druck auf Syrien, um einen entscheidenden Etappensieg gegen die
kurdische PKK zu erzielen. Auch aufgrund der für Syrien lebenswichtigen
Wasserprojekte der Türkei war Syrien nicht in der Lage, diesem Druck
standzuhalten und zwang den Kurdenführer Abdullah Öcalan zur Ausreise aus
Syrien. Der Rest ist bekannt.
2006, nach dem Libanonkrieg
änderte die Türkei ihre Syrienpolitik analog zu den USA. Dabei war
offensichtlich, dass der Einfluss Irans gebrochen werden sollte. Innerhalb
weniger Monate wurden die Grenzen geöffnet, Visapflicht aufgehoben und die
wirtschaftliche Annäherung begann. Die AKP-Regierung sprach sogar davon, dass
nun ein Integrationsprozess beginne, in dessen Zentrum die wirtschaftlichen
Beziehungen stehen. Diese Entwicklung und Erdogans Verbrüderung mit dem
syrischen Machthaber Assad führte dazu, dass die Türkei sich nun in der
exklusiven Rolle sah, der sowohl zwischen Israel und Syrien als auch zwischen
dem Westen und dem Iran vermitteln kann. Diese Hoffnungen, die schon damals als
unrealistisch Bezeichnet wurden, zeigten sich als unerfüllbar.
Heute stehen die Zeichen wieder
auf Sturm. Wirtschaftsbeziehungen sind auf dem Nullpunkt gelandet und die
diplomatischen Beziehungen beschränken sich in gegenseitigen Vorwürfen. Die
türkische Regierung unterstützt offen die Regimegegner und ermöglicht ihnen,
ihre Konferenzen geschützt auf
türkischem Boden abzuhalten.
Die Türkei hat mit Syrien ihre
längste Grenze zu einem Nachbarstaat. Historisch sind beide Länder miteinander
derart verbunden, so dass jede Veränderung in einem Land, unmittelbar das
andere Land beeinflusst. Nicht umsonst spricht Erdogan davon, dass »syrische Angelegenheiten, wie innere
Angelegenheiten der Türkei angesehen werden müssen«.
Die türkischen
Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass Syrien alleine mit ihren inneren
Dynamiken keine Veränderung im Land herbeiführen kann. Dafür ist das Land viel
zu sehr unter dem Einfluss von regionalen wie internationalen Entwicklungen.
Zudem ist Syrien für Iran, der nicht nur im Nahen Osten, sondern in der
gesamten islamischen Welt ein bestimmender Faktor sein will, unverzichtbar. Die
Betrachtung des Dreiecks Iran-Libanon-Syrien, macht die besondere Bedeutung
Syriens für den Iran deutlich.
Aus diesem Grund ist Iran bemüht,
ihre Beziehungen zur Türkei zu entspannen. Daher hat Iran auch auf die
Entscheidung über die Stationierung des NATO-Raketenschirms, welches allzu
deutlich Iran als Gegner anpeilt, niedrigschwellig reagiert. Das wiederum
brachte die AKP-Regierung in eine Zwickmühle: es war ihr nicht möglich, eine
iranfeindliche Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit herzustellen. Diesen
will die AKP nun mit dem Vorwurf, »Iran
hat den zweiten Mann der PKK, Murat Karayilan verhaftet und wieder
freigelassen« forcieren. In den türkischen Tageszeitungen liest man wieder
Kommentare über die angebliche Zusammenarbeit Irans mit der PKK. Sicherlich
werden auch die jüngsten US-Anschuldigungen, dass »Iran einen terroristische Tat in den USA gegen den saudischen
Botschafter geplant« habe, dafür genutzt werden.
Die Tatsache, dass Iran der
Türkei keine Begründung für einen verschärften Gangart liefert und eine
mögliche Regimeänderung in Syrien die gesamte Region destabilisieren könnte,
macht die Sache für die türkische Regierung noch schwieriger. Außerdem ist die
multiethnische und multireligiöse syrische Gesellschaft ein weiterer Faktor,
den die Türkei beachten muss. Denn auch in der Türkei leben Millionen Alewiten,
die bei einem Einschreiten der Türkei in Syrien in der Türkei ein weiteres,
schwerwiegendes Problem auslösen könnten.
Aus diesen Gründen ist die
türkische Regierung gegen ein Vorgehen des Westens wie in Libyen. Die syrischen
Regimegegner sind nicht in der Lage, den Status quo ohne eine Gefährdung der
territorialen Einheit des Landes zu verändern. Erdogan fordert deshalb Assad
auf, demokratische Verhältnisse selber herzustellen und die Macht mit Teilen
der Opposition zu teilen. Den türkischen Zeitungsberichten zufolge scheint
Erdogan auch die Obama-Administration davon überzeugt zu haben, dass ein
militärischer Eingriff wie in Libyen zurzeit keine Option darstellt. So
entwickelt sich die Syrienpolitik der Türkei zu einem schwer kontrollierbaren
Problem der türkischen Außenpolitik. Ihre weitere Entwicklung hängt unmittelbar
mit dem Irankonflikt zusammen.
Zu Jemen:
Obwohl die Türkei auch mit Jemen historisch verbunden ist, ist das türkische
Engagement nicht als prioritär zu bezeichnen. Jemen selbst hat große
Unterschiede zu den Ländern der »Arabellion«. Zum einen hat Jemen wegen ihrer
Nachbarschaft enge Beziehungen zu Saudi Arabien. Zum anderen will die Türkei
sich nicht unmittelbar in den jemenitischen Konflikt reinziehen lassen und
verfolgt mit der US-Regierung abgesprochene Vorgehensweise.
Veysel Ayhan, Berater des
Zentrums für strategische Nahoststudien (ORSAM) schreibt dazu: »Die Türkei sieht das Risiko eines
Bürgerkrieges in Jemen und setzt sich zur dessen Abwendung für eine
Verfassungsänderung ein. Sie ist explizit gegen ein Vorgehen wie in Libyen und
unterstützt die Initiative des Golf-Kooperationsrates«. Auch der ehemalige
türkische Botschafter in Saudi Arabien, Umut Atik unterstreicht Ayhans Aussage
und meint: »Die Türkei ist bestrebt, die
Integration der Golfstaaten in die freie Weltwirtschaft, unter peniblen
Beachtung der demokratischen Forderungen der Bevölkerung zu fördern. Auch
aufgrund ihrer wirtschaftlichen Beziehungen ist die Türkei gegen ein
militärisches Engagement des Westens«.
Bis heute hat die türkische
Regierung die Konfliktparteien in Jemen aufgefordert, die Machtfrage auf
demokratischen Weg zu lösen. Das türkische Außenministerium hat die Jemeniten
wiederholt aufgefordert, sich auf eine Verfassungsänderung zu einigen und die
Unterstützung des Golf-Kooperationsrates zu holen. Für diese Positionierung ist
die Übereinstimmung mit den USA nicht der alleinige Grund: ein großer Anteil
des ausländischen Kapitals in der Türkei stammt aus den Ländern des
Golf-Kooperationsrats.
Was ist bereits
über die Ölverträge der westlichen Firmen mit der neuen libyschen
Administration aus türkischer Sicht bekannt? Was wird dazu diskutiert?
Sicherlich sind die Ölverträge
mit westlichen Firmen der türkischen Regierung ein Dorn im Auge, aber sie ist
sich auch bewusst, dass sie dagegen wenig ausrichten kann. In dieser Frage
versucht Erdogan eher die libysche Bevölkerung anzusprechen und so für die
Sicherung der türkischen Investitionen in Libyen deren Unterstützung zu holen.
Auf seinem Besuch im September 2011 hielt Erdogan nach einem gemeinsamen
Freitagsgebet eine Rede und erklärte, dass »das
libysche Öl den LibyerInnen gehört und sie den ausländischen Szenarien über das
libysche Öl eine Absage erteilen müssen«.
Gleichzeitig zeigt sich die
türkische Regierung gegenüber dem libyschen Übergangsrat als sehr großzügig.
Die Tatsache, dass die türkische Regierung dem Nationalen Übergangsrat 300
Millionen Dollar Soforthilfe in Bar übergab und die Behandlung von zahlreichen
libyschen Verletzten übernahm, sicherte Erdogan die Sympathie der libyschen
Administration. Die Türkei will zudem Aufbauhilfe leisten und Schulen,
Polizeiwachen, Justizgebäude sowie Krankenhäusern bauen bzw. zerstörte Gebäude
renovieren.
Die starke Position des
türkischen Exports nach Libyen scheint ungebrochen zu sein. Auch nach dem
Libyenkrieg steht die Türkei nach Italien und China, vor Deutschland und
Frankreich an dritter Stelle der libyschen Importe. Der Übergangsrat hat
unlängst erklärt, dass »die Verträge mit
türkischen Firmen, insbesondere mit denen, die sich im Baugewerbe und
Ölbohrungen engagieren, weiterhin aufrecht erhalten werden«.
In den türkischen Medien fokussiert sich die
Diskussion auf die französisch-türkische Konkurrenz im Libyengeschäft, wobei
die meisten Kommentatoren die Auffassung vertreten, dass Frankreich aufgrund
der frankophonen Minister im Übergangsrat einen entscheidenden Vorteil
gegenüber der Türkei habe. Die türkischen Unternehmensverbände wiederum
unterstützen Erdogans Libyenpolitik.