Sonntag, 16. Oktober 2011

Fragen und Antworten zur Libyenpolitik der Türkei

Wie sind die Positionen der türkischen Regierung zu den Libyenkrieg des Westens aus heutiger Sicht zu bewerten?
Die Position der türkischen Regierung zum Libyenkrieg muss in einem Gesamtzusammenhang mit der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik und den Vormachtansprüchen Ankaras betrachtet werden.
Selbst wenn ein Widerspruch zwischen der scharfen außenpolitischen Rhetorik Erdogans und der realen außenpolitischen Praxis immer wieder als »zu offensichtlich« erscheint, ist bei näherer Betrachtung festzustellen, dass dieser Widerspruch nur scheinbar existiert. Dabei sollte man sich nicht von den Aussagen Erdogans auf seinen Besuchen in Ägypten, Tunesien und Libyen, von seinen kritischen Aussagen zur westlichen Politik vor der UN-Vollversammlung oder der Androhung »ggf. in Sachen Israel und Zypern die Armee einzusetzen« nicht täuschen lassen.
Die Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik beruht in erster Linie auf folgenden Feststellungen: Erstens ist die türkische Regierung der Auffassung (dies kann man insbesondere aus verschiedenen Interviews des Außenministers Davutoglu herauslesen), dass mit der sog. »Soft-Power-Politik« und der nach 2006/2007 vorgegebenen Losung »Null-Probleme-mit-den-Nachbarn« die Grenzen der außenpolitischen Einflusses erreicht worden seien. Andererseits, zweitens, dürfe die Türkei, die inzwischen eine globale Rolle anstrebe, nur um Spannungsrisiken zu minimieren von ihren regionalen Ansprüchen keine Abstriche machen. Drittens dürfe angesichts des, nach dem »Arabischen Frühling« entstandenen politischen Vakuums in der Region nicht zugelassen werden, dass Iran diese Lücke alleine fülle. Aus diesen Gründen müssten die »kalkulierbaren Risiken einer Politik der kontrollierten Spannung« hingenommen werden.
In regierungsnahen Zeitungen ist zu lesen, dass die türkische Regierung eingesteht, dass sie in der Vergangenheit, »um der regionalen Stabilität wegen« mit den autoritären Regierungen in Libyen und Syrien zusammengearbeitet habe / zusammenarbeiten müsste. Dies sei »sicherlich notwendig« gewesen, doch jetzt sei »notwendig, das libysche Volk in seinem Bestreben nach Demokratie und Freiheiten mit ganzer Kraft zu unterstützen«.
Gerade Libyen und Gaddafi waren bis zuletzt wichtige Faktoren für die Afrika-Politik der AKP-Regierung. Zum einen konnte die AKP sowohl aus Libyen als auch aus den übrigen arabischen Länder die dringend benötigten Kapitalflüsse in die Türkei garantieren, zum anderen hatte Libyen mit ihrem großen Einfluss dafür gesorgt, dass die Afrikanische Union 2008 die Türkei zu ihrem »strategischen Partner« erklärte. In selben Jahr fand das 1. Gipfel der afrikanisch-türkischen Zusammenarbeit, mit der die Beziehungen institutionalisiert wurden. Erdogan erklärte erst kürzlich im September 2011, dass »die institutionalisierten Beziehungen zu den Ländern der Afrikanischen Union ein Hauptelement der türkischen Außenpolitik« sei.
Kurz zu den Wirtschaftsaktivitäten der Türkei in Afrika: Im Dezember 2011 wird in Istanbul eine Zusammenkunft des türkischen Außenministers mit den Außenministern der Afrikanischen Union stattfinden. Eine sog. »Evaluierungskonferenz«, auf der laut Erdogan die weitere strategische Ausrichtung der Beziehungen besprochen wird und die Vorbereitungen für den 2. Gipfel, welches 2013 in einem afrikanischen Land stattfinden soll, beginnen sollen.
Die Türkei will die Zahl ihrer Vertretungen in Afrika 2012 auf 34 erhöhen. Laut den Angaben der türkischen Regierung hat sich das Handelsvolumen mit afrikanischen Ländern von 4 Milliarden (2000) auf über 16 Milliarden Dollar (2010) erhöht. Während Libyen mit 2,4 Milliarden Dollar den ersten Rang hält, betrug das Handelsvolumen mit den Ländern südlich der Sahara im ersten Halbjahr 2011 3 Milliarden Dollar. Die türkischen Investitionen in Afrika konzentrieren sich in den Bereichen der Infrastrukturbau, Energie und »Verteidigungsindustrie«.
Neben Libyen setzt die Türkei auf wachsende Zusammenarbeit mit Südafrika. Dazu Erdogan: »Für unsere Afrika-Politik hat Südafrika, die zu den übrigen Ländern des Kontinents enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen unterhält, eine sehr wichtige und prioritäre Bedeutung. (…) Wir sind ein Land, welches sich im Zentrum einer Region befindet, die sich vom Balkan über das Schwarze Meer und Kaukasus bis in den Nahen Osten und Maghreb streckt. (…) Daher ist die Entwicklung unserer Zusammenarbeit, nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der UN, Afrikanischen Union und G 20-Gipfel für die Türkei höchst erfreulich.«
Nach dem Krieg bleibt Libyen weiterhin ein wichtiger Faktor für die türkische Außenpolitik. Während die AKP-Regierung sich sehr schnell auf der Seite der NATO positionierte und deutlich machte, dass sie die neuen Machthaber anerkenne, brach sie vorerst ihre Kontakte zu Gaddafi nicht völlig ab. Bei seinem Libyenbesuch war Erdogan sichtlich bemüht, die libysche Bevölkerung anzusprechen. Denn das anfängliche Zögern im Bezug auf die Einrichtung der Flugverbotszone hatte der türkischen Regierung viel Kritik seitens der »Aufständischen« gebracht. Er konnte auch erfolgreich den Blitzbesuch von Sarkozy und Cameron Mitte September (einen Tag vor seinem Besuch) zu seinen Gunsten interpretieren, in dem er demonstrativ auf die westliche Kolonialgeschichte hinwies. Nach Libyen hatte Erdogan auch 125 Unternehmensvertreter mitgebracht, die mit den neuen libyschen Machthabern Kontakte aufnahmen. Dabei ging es auch um die Sicherung der türkischen Investitionen in der Gaddafi-Ära.
Welche öffentlichen politischen Diskussionen im Lande hat es gegeben? Wie bewerten die türkischen Politiker und die Medien bzw. die Öffentlichkeit die Ergebnisse des Krieges und die Entwicklung und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten nach dem Krieg?
Ordnungshalber sollte darauf hingewiesen werden, dass in den türkischen Medien bzw. in der Öffentlichkeit die scharfe außenpolitische Rhetorik mehr Aufmerksamkeit findet als die pragmatische außenpolitische Praxis. In der Tagespresse und den Fernsehsendern wird ausschließlich auf der Grundlage dieser Rhetorik eine regierungsamtliche bzw. regierungsnahe Sicht dargestellt, so dass behauptet werden kann, dass die öffentliche Meinung in der Mehrheitsgesellschaft sich davon nicht weit entfernt. Insofern ist es notwendig, über Verlautbarungen der Regierung und Bewertungen einer Fachöffentlichkeit sich ein Bild darüber zu machen.
So wird in den Analysen einiger regierungsnahen Forschungsinstitute bzw. aus dem universitären Bereich die Positionierung der türkischen Regierung während des Libyenkriegs als Ausdruck der neuen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik bewertet. Dabei wird häufig darauf hingewiesen, dass die Türkei sich den Veränderungen im arabischen Raum am schnellsten anpassen konnte.
Auch aus den Verlautbarungen des Außenministeriums kann herausgelesen werden, dass die Türkei, entgegen Israel, Saudi Arabien und dem Iran sich der »strukturellen Veränderungen sehr schnell adaptieren und so sich enorme Vorteile verschaffen konnte«. Der Hochschullehrer der Istanbuler Stadtuniversität, Burhaneddin Duran und Nasuhî Güngör von der Tageszeitung Star stimmen dem zu und erklären übereinstimmend, dass »Erdogan der einzige Regierungschef ist, der mit seiner nach Gerechtigkeit orientierten politischen Sprache den Lebensnerv der Menschen in der Region getroffen« habe.
In der Tat; Erdogan attackiert Israel als »verzogenes Kind des Westens« und macht sich die »palästinensische Sache« eigen, kritisiert den westlichen Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte und gewinnt Sympathien der libyschen Bevölkerung und mahnt die »fehlende humanitäre Sensibilität des Westens in Somalia« an, um dann mit dem Vorwurf (so bei seinem Besuch in Mazedonien), dass »der Imperialismus immer noch die Völker unterjochen« wolle, seine Sympathiewerte in der islamischen Welt zu erhöhen. Dazu passt auch der Vorwurf an deutsche Stiftungen, dass sie »die PKK unterstützen« würden. In den gängigen türkischen Medien wird Erdogan als ein erfolgreicher Regierungschef dargestellt, der »den Islam mit Demokratie und Laizismus vereinen und den Westen, ohne eine Feindlichkeit gegen den Westen aufzubauen sowie in westlichen Bündnissen verbleibend, kritisieren kann«.
Die AKP-Regierung wird in der Öffentlichkeit, auch im Hinblick auf ihre Libyen-Politik als eine Administration dargestellt, welche sowohl die bi-und multilateralen Kooperationen als auch Spannungen gleichzeitig und gut leiten bzw. managen kann. Dabei verweist man auf die guten Beziehungen zu den USA und der Entscheidung, der Installation des NATO-Raketenschirms in der Türkei zuzustimmen. In Zusammenhang mit den US-Interessen in der Region wird festgestellt, dass »nach dem arabischen Frühling die Regionalpolitiken der Türkei und der USA völlig übereinstimmen«. Die türkischen Kommentatoren betonen zudem, dass »die symbolische Kraft der Leader-Rolle Erdogans in der arabischen Welt, die hohe wirtschaftliche Performance des Landes und die Demokratisierungsschritte im Innern, die neue, aktivere Außenpolitik nun unumkehrbar gemacht hätten.«
In den regierungsnahen islamischen Kreisen wiederum bemüht man sich, die Laizismus-Äußerungen Erdogans in Ägypten und in Libyen zu relativieren. Die antilaizistische Haltung Erdogans war einer seiner Trümpfe, um die islamischen bzw. islamistischen Kreise an sich zu binden. Mit seinen Äußerungen in Ägypten und Libyen, dass »der Laizismus an sich keine schlimme Sache« sei, hatte Erdogan sowohl von der Muslimischen Brüderschaft als auch von seinen Anhängern Kritik einstecken müssen.
Daher werden islamische bzw. islamistische Medien nicht müde zu betonen, dass »die Laizismus-Empfehlungen des Premiers in Zusammenhang mit der internationalen Konjunktur gelesen werden« müssten. So wurde darauf hingewiesen, dass Erdogan mit diesen Äußerungen den israelischen und westlichen Vorwürfen, die AKP sei eine islamistische und laizismusfeindliche Partei, »den Wind aus den Segeln genommen« habe. Außerdem habe Erdogan damit bewiesen, dass »die Türkei nun Israel ihre Selbstbezeichnung, ›die einzige Demokratie der Region‹ zu sein, streitig mache«.
Aufgrund der Notwendigkeit, »die Interessen der Türkei zu schützen und ihrem Anspruch, eine Ordnungsmacht des Neuen Nahen Ostens zu werden« sei die Kooperation mit demokratischen Regimen ein Vorteil, auf den die Türkei nicht verzichten könne. Weil Erdogan sich bewusst sei, dass er in der westlichen Öffentlichkeit als ein Islamist angesehen werde, habe »der Premier mit seiner Laizismus-Äußerung ein erfolgreiches Manöver gestartet, um diese Vorbehalte gegenstandslos zu machen« (Levent Bastürk, Dünya Bülteni). Dennoch müsse Erdogan sensibel genug sein, um zu erkennen, dass »die Bejahung des Laizismus aus strategischen und politischen Pragmatismusdenken heraus die Gefahr beinhaltet, die muslimischen Massen zu entfremden«. Daher müsse Erdogan seine angesehene Rolle in der arabischen Welt für die Stärkung der islamischen Kräfte sowie für deren Teilhabe an den neuen Machtstrukturen in Ägypten, Tunesien und Libyen einsetzen.
Kurzum, die Ergebnisse des Libyenkriegs und die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten werden von den türkischen Politikern und in der Mehrheitsgesellschaft durchaus als »wichtige Chancen der Türkei, um ihre Führungsrolle in der Region zu zementieren« bewertet. Die Übereinstimmung mit der US-Politik würde die erfolgreiche Fortführung der aktiven türkischen Außenpolitik begünstigen. Gerade diese Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik habe bewiesen, dass »die Türkei die Politik der kontrollierten Spannung zu ihrem Vorteil umsetzen könne«.
Wie sind die Positionen zu den Entwicklungen in Syrien und Jemen? Inwiefern wurden diese Positionen durch den Libyenkrieg des Westens beeinflusst?
Zu Syrien: Die türkische Syrienpolitik hat drei wichtige Momente: 1.) Die Kurdenproblematik, 2.) die Politik der USA und 3.) die iranisch-türkische Konkurrenz.
Noch 1999 war die Türkei am Rande einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Syrien. Gemeinsam mit Israel erhöhte die Türkei den Druck auf Syrien, um einen entscheidenden Etappensieg gegen die kurdische PKK zu erzielen. Auch aufgrund der für Syrien lebenswichtigen Wasserprojekte der Türkei war Syrien nicht in der Lage, diesem Druck standzuhalten und zwang den Kurdenführer Abdullah Öcalan zur Ausreise aus Syrien. Der Rest ist bekannt.
2006, nach dem Libanonkrieg änderte die Türkei ihre Syrienpolitik analog zu den USA. Dabei war offensichtlich, dass der Einfluss Irans gebrochen werden sollte. Innerhalb weniger Monate wurden die Grenzen geöffnet, Visapflicht aufgehoben und die wirtschaftliche Annäherung begann. Die AKP-Regierung sprach sogar davon, dass nun ein Integrationsprozess beginne, in dessen Zentrum die wirtschaftlichen Beziehungen stehen. Diese Entwicklung und Erdogans Verbrüderung mit dem syrischen Machthaber Assad führte dazu, dass die Türkei sich nun in der exklusiven Rolle sah, der sowohl zwischen Israel und Syrien als auch zwischen dem Westen und dem Iran vermitteln kann. Diese Hoffnungen, die schon damals als unrealistisch Bezeichnet wurden, zeigten sich als unerfüllbar.
Heute stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Wirtschaftsbeziehungen sind auf dem Nullpunkt gelandet und die diplomatischen Beziehungen beschränken sich in gegenseitigen Vorwürfen. Die türkische Regierung unterstützt offen die Regimegegner und ermöglicht ihnen, ihre Konferenzen  geschützt auf türkischem Boden abzuhalten.
Die Türkei hat mit Syrien ihre längste Grenze zu einem Nachbarstaat. Historisch sind beide Länder miteinander derart verbunden, so dass jede Veränderung in einem Land, unmittelbar das andere Land beeinflusst. Nicht umsonst spricht Erdogan davon, dass »syrische Angelegenheiten, wie innere Angelegenheiten der Türkei angesehen werden müssen«.
Die türkischen Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass Syrien alleine mit ihren inneren Dynamiken keine Veränderung im Land herbeiführen kann. Dafür ist das Land viel zu sehr unter dem Einfluss von regionalen wie internationalen Entwicklungen. Zudem ist Syrien für Iran, der nicht nur im Nahen Osten, sondern in der gesamten islamischen Welt ein bestimmender Faktor sein will, unverzichtbar. Die Betrachtung des Dreiecks Iran-Libanon-Syrien, macht die besondere Bedeutung Syriens für den Iran deutlich.
Aus diesem Grund ist Iran bemüht, ihre Beziehungen zur Türkei zu entspannen. Daher hat Iran auch auf die Entscheidung über die Stationierung des NATO-Raketenschirms, welches allzu deutlich Iran als Gegner anpeilt, niedrigschwellig reagiert. Das wiederum brachte die AKP-Regierung in eine Zwickmühle: es war ihr nicht möglich, eine iranfeindliche Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit herzustellen. Diesen will die AKP nun mit dem Vorwurf, »Iran hat den zweiten Mann der PKK, Murat Karayilan verhaftet und wieder freigelassen« forcieren. In den türkischen Tageszeitungen liest man wieder Kommentare über die angebliche Zusammenarbeit Irans mit der PKK. Sicherlich werden auch die jüngsten US-Anschuldigungen, dass »Iran einen terroristische Tat in den USA gegen den saudischen Botschafter geplant« habe, dafür genutzt werden.
Die Tatsache, dass Iran der Türkei keine Begründung für einen verschärften Gangart liefert und eine mögliche Regimeänderung in Syrien die gesamte Region destabilisieren könnte, macht die Sache für die türkische Regierung noch schwieriger. Außerdem ist die multiethnische und multireligiöse syrische Gesellschaft ein weiterer Faktor, den die Türkei beachten muss. Denn auch in der Türkei leben Millionen Alewiten, die bei einem Einschreiten der Türkei in Syrien in der Türkei ein weiteres, schwerwiegendes Problem auslösen könnten.
Aus diesen Gründen ist die türkische Regierung gegen ein Vorgehen des Westens wie in Libyen. Die syrischen Regimegegner sind nicht in der Lage, den Status quo ohne eine Gefährdung der territorialen Einheit des Landes zu verändern. Erdogan fordert deshalb Assad auf, demokratische Verhältnisse selber herzustellen und die Macht mit Teilen der Opposition zu teilen. Den türkischen Zeitungsberichten zufolge scheint Erdogan auch die Obama-Administration davon überzeugt zu haben, dass ein militärischer Eingriff wie in Libyen zurzeit keine Option darstellt. So entwickelt sich die Syrienpolitik der Türkei zu einem schwer kontrollierbaren Problem der türkischen Außenpolitik. Ihre weitere Entwicklung hängt unmittelbar mit dem Irankonflikt zusammen.
Zu Jemen: Obwohl die Türkei auch mit Jemen historisch verbunden ist, ist das türkische Engagement nicht als prioritär zu bezeichnen. Jemen selbst hat große Unterschiede zu den Ländern der »Arabellion«. Zum einen hat Jemen wegen ihrer Nachbarschaft enge Beziehungen zu Saudi Arabien. Zum anderen will die Türkei sich nicht unmittelbar in den jemenitischen Konflikt reinziehen lassen und verfolgt mit der US-Regierung abgesprochene Vorgehensweise.
Veysel Ayhan, Berater des Zentrums für strategische Nahoststudien (ORSAM) schreibt dazu: »Die Türkei sieht das Risiko eines Bürgerkrieges in Jemen und setzt sich zur dessen Abwendung für eine Verfassungsänderung ein. Sie ist explizit gegen ein Vorgehen wie in Libyen und unterstützt die Initiative des Golf-Kooperationsrates«. Auch der ehemalige türkische Botschafter in Saudi Arabien, Umut Atik unterstreicht Ayhans Aussage und meint: »Die Türkei ist bestrebt, die Integration der Golfstaaten in die freie Weltwirtschaft, unter peniblen Beachtung der demokratischen Forderungen der Bevölkerung zu fördern. Auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Beziehungen ist die Türkei gegen ein militärisches Engagement des Westens«.
Bis heute hat die türkische Regierung die Konfliktparteien in Jemen aufgefordert, die Machtfrage auf demokratischen Weg zu lösen. Das türkische Außenministerium hat die Jemeniten wiederholt aufgefordert, sich auf eine Verfassungsänderung zu einigen und die Unterstützung des Golf-Kooperationsrates zu holen. Für diese Positionierung ist die Übereinstimmung mit den USA nicht der alleinige Grund: ein großer Anteil des ausländischen Kapitals in der Türkei stammt aus den Ländern des Golf-Kooperationsrats.
Was ist bereits über die Ölverträge der westlichen Firmen mit der neuen libyschen Administration aus türkischer Sicht bekannt? Was wird dazu diskutiert?
Sicherlich sind die Ölverträge mit westlichen Firmen der türkischen Regierung ein Dorn im Auge, aber sie ist sich auch bewusst, dass sie dagegen wenig ausrichten kann. In dieser Frage versucht Erdogan eher die libysche Bevölkerung anzusprechen und so für die Sicherung der türkischen Investitionen in Libyen deren Unterstützung zu holen. Auf seinem Besuch im September 2011 hielt Erdogan nach einem gemeinsamen Freitagsgebet eine Rede und erklärte, dass »das libysche Öl den LibyerInnen gehört und sie den ausländischen Szenarien über das libysche Öl eine Absage erteilen müssen«.
Gleichzeitig zeigt sich die türkische Regierung gegenüber dem libyschen Übergangsrat als sehr großzügig. Die Tatsache, dass die türkische Regierung dem Nationalen Übergangsrat 300 Millionen Dollar Soforthilfe in Bar übergab und die Behandlung von zahlreichen libyschen Verletzten übernahm, sicherte Erdogan die Sympathie der libyschen Administration. Die Türkei will zudem Aufbauhilfe leisten und Schulen, Polizeiwachen, Justizgebäude sowie Krankenhäusern bauen bzw. zerstörte Gebäude renovieren.
Die starke Position des türkischen Exports nach Libyen scheint ungebrochen zu sein. Auch nach dem Libyenkrieg steht die Türkei nach Italien und China, vor Deutschland und Frankreich an dritter Stelle der libyschen Importe. Der Übergangsrat hat unlängst erklärt, dass »die Verträge mit türkischen Firmen, insbesondere mit denen, die sich im Baugewerbe und Ölbohrungen engagieren, weiterhin aufrecht erhalten werden«.
In den türkischen Medien fokussiert sich die Diskussion auf die französisch-türkische Konkurrenz im Libyengeschäft, wobei die meisten Kommentatoren die Auffassung vertreten, dass Frankreich aufgrund der frankophonen Minister im Übergangsrat einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Türkei habe. Die türkischen Unternehmensverbände wiederum unterstützen Erdogans Libyenpolitik.