Aus: Infobrief Türkei
Ayla Şimşek und Mürvet Kasımoğlu, zwei Studentinnen der Kocaeli
Universität: Sie wurden in den frühen Morgenstunden des 5. Juni 2011 von
Beamten der Polizeieinheit »Abteilung Terrorismusbekämpfung« verhaftet.
Sie sind nur zwei von rund 600 Studierenden, die mit ähnlichen
Vorwürfen verhaftet wurden und nun auf ihre Gerichtsverhandlungen
warten.
Sie hatten noch Glück. Im Oktober 2011 wurde der Geheimhaltungsbeschluss
über die Anklage aufgehoben und so konnten sie erfahren, warum sie
verhaftet wurden – andere warten seit 23 Monaten darauf.
Beiden Studentinnen wird vom Staatsanwalt vorgeworfen, »Aktivitäten
im Namen einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu
sein« begangen zu haben. Von diesem »Copy and Paste«-Vorwurf sind
derzeit tausende Inhaftierte betroffen. Der Staatsanwalt gründet seine
Anklage auf folgende Straftatbestände: Teilnahme als Zuhörerin an einer
Gerichtsverhandlung von KommilitonInnen; Teilnahme an der Eröffnung des
Wahlbüros des Linksbündnisses Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit;
Teilnahme an Protestdemonstrationen gegen eine Entscheidung der Hohen
Wahlkommission; Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung für führende
Mitglieder der 68er StudentInnen- und Jugendbewegung; Teilnahme an einer
Gedenkveranstaltung für einen 2009 in Diyarbakir während einer
Demonstration durch eine Polizeikugel tödlich getroffenen kurdischen
Studenten; Teilnahme an öffentlichen Newroz-Feierlichkeiten; Teilnahme
an einer Protestdemonstration gegen KCK-Operationen und Teilnahme an
einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag.
Politische Aktivitäten, die in halbwegs funktionierenden bürgerlichen
Demokratien als verfassungsrechtlich verbriefte Rechte gelten, werden
von türkischen Staatsanwälten und Gerichten – ausgestattet mit
»besonderen Befugnissen« – zum Straftatbestand erklärt. Mit
Geheimhaltungsbeschlüssen, die sogar den Rechtsanwälten die Aushändigung
der Anklageschrift verwehren, und nicht überprüfbaren Aussagen von
»geheimen Zeugen« wird das Recht auf Verteidigung verunmöglicht. Selbst
bei einer Anklageschrift, die nur auf Indizien basiert und meist nicht
mehr ist als das Verhörprotokoll der Polizei, kann die Untersuchungshaft
auf mehrere Jahre verlängert werden - ein Umstand, durch den die klare
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
regierungsamtlich bewusst und systematisch verletzt wird.
Feindstrafrecht zur Aussetzung von BürgerInnenrecht
Schon eine oberflächliche Betrachtung der Rechtspraxis genügt, um die
Verfasstheit des türkischen Staates und seiner »Demokratie« als
Unrechtsstaat zu charakterisieren. Zur politisch motivierten
Konstruktion von Straftatbeständen und der weitgehenden Aufweichung der
Gewaltenteilung gesellt sich die Ausübung von »Feindstrafrecht«. Die
Bezeichnung geht auf den deutschen Strafrechtler und Rechtsphilosophen
Günther Jakobs zurück und meint die Aussetzung der BürgerInnenrechte für
bestimmte Gruppen: Die radikal-militante Linke, die ohnehin seit
Jahrzehnten als »Staatsfeind« behandelt wird, gehört ebenso dazu, wie
die legale Linke, sozialistische und prokurdische Parteien, soziale
Bewegungen sowie kritische JournalistInnen und Intellektuelle.
Kategorisiert als »Feinde« der Gesellschaft bzw. des Staates werden sie
außerhalb des geltenden Rechts gestellt. Sie dürfen vom Staat mit allen
Mitteln bekämpft werden. Die »Terrorbekämpfungsgesetze« in der Türkei,
strafrechtliche Grundlage dieser Prozesse, fallen in diese neue
Kategorie, die kontinuierlich erweitert wird. Zuletzt plante die
türkische Regierung ein »Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung des
Terrorismus«. Obwohl der Gesetzentwurf noch nicht ins Parlament
eingebracht wurde, hat der Justizminister per Erlass bereits alle
Richter und Staatsanwälte verpflichtet, »so schnell wie möglich mit den
Vorbereitungen zur Enteignung von Geld- und Sachvermögen von
Unterstützern des Terrorismus zu beginnen«. Kritische Stimmen warnen, es
werde damit eine legale Grundlage geschaffen, um schon die geringste
Unterstützung kurdischer Organisationen, wie die Ladenschließung im
Zusammenhang mit einer Protestaktion, zum Anlass für die Enteignung
kurdischer UnternehmerInnen.
Der stellvertretende Ministerpräsident Beşir Atalay macht keinen Hehl
aus der Urheberschaft. Im Zusammenhang mit den andauernden
KCK-Operationen gegen eine angebliche Keimzelle einer
separatistisch-nichtstaatlichen Gesellschaft, in deren Verlauf mehr als
7.000 Personen, darunter 6 Abgeordnete des türkischen Parlaments,
zahlreiche BürgermeisterInnen und PolitikerInnen der Partei für Frieden
und Demokratie (BDP) sowie SchriftstellerInnen, JournalistInnen und
AktivistInnen von sozialen Bewegungen, in Haft genommen wurden, erklärte
er: »Als Staat setzen wir einseitig eine integrierte Strategie um. Von
grenzüberschreitenden Militäroperationen bis hin zu KCK-Operationen
läuft alles koordiniert. Sie wurden diskutiert, beschlossen, geplant und
werden umgesetzt«. Besser hätte die Aufhebung der Unabhängigkeit der
Justiz nicht erklärt werden können!
Gleichschaltung der Staatsapparate
Derzeit findet in den Staatsapparaten eine grundlegende Transformation
statt. Die AKP-Regierung ist auf dem besten Weg, die parlamentarische
Demokratie im Namen der »Demokratisierung« gänzlich aufzuheben. Das
Verfassungsreferendum von 2010 markiert diesen Bruch (vgl. Artikel zum
Verfassungsreferendum 2010 in diesem Newsletter). Was die
Verfassungsreform tatsächlich gebracht hat, erklärt Orhan Gazi Ertekin,
Co-Vorsitzender des Vereins Demokratischer JuristInnen, so: »Von einer
Wahl des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) kann nicht
gesprochen werden. Ernennung wäre eine passendere Bezeichnung. (...) Die
Mitglieder des HSYK wurden vom Staat, sprich dem Justizministerium
gewählt und die Basis hat dies abgenickt«.
In anderen Worten: Spätestens mit dem Referendum von 2010 ist der
Justizapparat unter die Kontrolle der AKP-Regierung geraten. Doch auch
in anderen Institutionen des Staates, wie z.B. dem Generalstab, dem
Hochschulrat (türkisch: YÖK) oder in der staatlichen Aufsichtsbehörde
für Funk und Fernsehen (türkisch: RTÜK) kann die AKP die ihr genehmen
Ernennungen viel leichter als bisher vornehmen. Damit hat sie sich de
facto in eine Machtposition gehievt, die der Einparteien-Diktatur der
CHP zwischen 1923 und 1946 verblüffend ähnelt.
Der »Ergenekon-Prozess« und die Verfassungsreformen waren die
wichtigsten Mittel im Machtkampf gegen die kemalistischen Eliten.
»Ergenekon« ist die Bezeichnung für ein nationalistisches Netzwerk, dem
vorgeworfen wird, den gewaltsamen Umsturz der AKP-Regierung vorbereitet
zu haben. Mehr als 300 Personen, darunter hochrangige Offiziere, wurden
inhaftiert. Die Gleichschaltung des Justizapparates und die
KCK-Operationen dienen nun der Festigung und dem Ausbau der AKP-Macht.
Wenn der Staat seine eigenen Gesetze missachtet...
Rechtsanwalt Ercan Kanar, Verteidiger der Hochschulprofessorin Büşra
Ersanlı, die mit dem standardisierten Vorwurf der »Unterstützung einer
terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein« verhaftet
wurde, kritisiert nicht nur die auch nach der gültigen Verfassung
unrechtsmäßigen Abhöraktionen und Ermittlungsmethoden, sondern zugleich
die Verletzung des geltenden Strafrechts. In der Tat sehen die Art. 100
ff. des Strafrechts vor, dass die Inhaftierung von Angeklagten nur
beschlossen werden darf, wenn konkrete Hinweise auf einen anstehenden
Fluchtversuch vorliegen oder der begründete Verdacht vorliegt, dass
Beschuldigte Beweise vernichten und Zeugen beeinflussen könnten, oder
wenn andere Verhaftungsgründe, wie besonders schwere Verbrechen, dies
notwendig machen. Eigentlich gelten somit in der Türkei die gleichen
Richtlinien, wie sie in jedem EU-Land üblich sind. Auf der Grundlage des
Art. 19 der Verfassung, mit der die Freiheits- und Sicherheitsrechte
einer jeder Person geregelt sind, sieht zudem der Art. 102 Abs. 2 des
Gesetzes über die Strafgerichtsbarkeit vor, dass die Dauer der
Untersuchungshaft für Fälle, die in die Zuständigkeit der Schweren
Strafgerichte fallen, höchstens zwei Jahre und bei besonderer Begründung
insgesamt drei Jahre nicht überschreiten darf. Außerdem wird im Art.
108 desselben Gesetzes zwingend vorgeschrieben, dass die Verlängerung
der Inhaftierung alle 30 Tage vom Gericht beschlossen werden muss. Für
Minderjährige gelten verschärfte Vorschriften, da das Gesetz zum Schutz
des Kindes beachtet werden muss.
All diese Regelungen und Vorschriften werden von den Sondergerichten
außer Acht gelassen. Während die Inhaftierungszeiten willkürlich
verlängert werden, denken sich PolitikerInnen neue Bosheiten aus.
Derzeit wird darüber diskutiert, wie Eltern von »Steine werfenden
Kindern« das Erziehungsrecht entzogen werden kann. Ins Visier genommen
sind minderjährige kurdische Kinder, die an Protesten teilnehmen. Die
Kinder sollen in sogenannten »Häusern der Liebe« untergebracht, für
deren zukünftige Inbetriebnahme islamistische Stiftungen bereit stünden,
und zu »ordentlichen türkischen Kindern umerzogen« werden. Der
Provinzgouverneur von Diyarbakır schlug als Erziehungsmaßnahme sogar
vor, die Kinder einen Zug mit Steinen bewerfen zu lassen, in den zuvor
ihre eigenen Eltern gesetzt werden.
Diese Pervertierung des Rechtsverständnisses kommt nicht von ungefähr.
Sie begründet sich in einem Denken, das alle Forderungen nach
politischen Freiheiten als »Terrorismus« brandmarkt. Der Mechanismus ist
relativ banal: Zuerst wird der »Terrorismus« nicht als Mittel, sondern
als politischer Zweck definiert. Dadurch wird das gesamte Feld der
politischen Aktivitäten dem Primat der »Terrorismusbekämpfung«
untergeordnet. Dann wird das Feindstrafrecht angewandt: Der oder die
»TerroristIn« wird zur Person ohne Rechte gemacht. Nicht die Tat,
sondern die (potentielle) Verbindung zum »Terroristen« wird zur
»Terrorismusdefinition« herangezogen. So wird beispielsweise die
Teilnahme am Beschneidungsfest des Sohnes einer als »Terrorist«
bezeichneten Person zur »terroristischen Aktivität«. Schließlich wird
der »Terrorismus« über eine »terroristische Organisation« definiert. So
wird der »Terrorismus« als »Tat eines Terroristen oder einer
Terrororganisation« bezeichnet. Demnach werden legale Parteitätigkeiten
der BDP und sogar deren Parteischulen zu einem »Ort terroristischer
Tätigkeit, ohne Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein«.
Demonstrationen, öffentliche Presseerklärungen, Kundgebungen werden dann
per se als »terroristische Taten« geahndet. Nicht was die Person macht,
sondern die Person selbst wird zum »Terrorismusvorwurf« herangezogen.
Dem Vorwurf folgt dann die extralegale Vorverurteilung über
regierungsnahe Medien. Trotz der Geheimhaltungsbeschlüsse verkünden
diese Medien noch am Tage der Verhaftung die einzelnen Anklagepunkte,
die ihnen offenbar von den Ermittlungsbehörden zugespielt werden, als
bewiesene Tatsachen. Polizeiberichte werden unkritisch übernommen,
Vorwürfe als Tatsachen skandalisiert und Behauptungen, die sich binnen
kurzer Zeit als unwahr herausstellen, nicht mehr berichtigt. Kein
Richter oder Staatsanwalt, die eigentlich von Amtswegen gegen die
Veröffentlichung von Geheimsachen vorgehen müssten, widerspricht dieser
Art der Berichterstattung. Im Gegenteil, die Medienberichte gehen
anschließend sogar als Beweismittel gegen die Angeklagten in die
Anklageschrift ein.
So schließt sich der Kreis: Willkürjustiz wird mit Medienunterstützung
zum geltenden (Un)Recht. Wahrlich, ein demokratischer Rechtsstaat sieht
anders aus.