Donnerstag, 24. Januar 2013

Camerons Rede zu Europa



Oder; wie die hässliche Fratze der bürgerlichen Reaktion wieder die europäische Bühne betritt.

Wie erhofft - oder besser gesagt, geplant -,  hat die von langer Hand vorbereitete und längst verbreitete Rede des britischen Premiers David Cameron die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf sich gezogen. Bürgerliche Medien kündigten seit Tagen diese Rede an und schürten so Spekulationen über einen »möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU«. Es entstand das Bild der sorgenvoll nach London blickenden europäischen Hauptstädte. Doch, hatte Cameron nur das bezweckt?

Zu allererst sollte Camerons medial zur Schau gestellte Jammern über die EU als das bewertet werden, was es ist: als Versuch eines innenpolitisch motivierten Befreiungsschlags – auch wenn ein riskanter, aber wohl überdachter Schachzug. Dabei ist es nicht nur den Insidern der EU-Strukturen bekannt, dass ein Großbritannien, trotz vieler Euroskeptiker im Land, ohne eine EU-Mitgliedschaft kaum vorstellbar ist, aber »Downing Street« - wer auch dort residieren mag – stets vorgibt, eine vom Kontinent unabhängige Politik zu verfolgen und Großbritannien im transatlantischen Bündnis eher auf der Seite der USA, als auf Seiten der EU steht.
Die erpresserische Botschaft seiner Rede begründet Cameron mit der Notwendigkeit von »Neuverhandlungen für die Reformierung der EU« und mit seinem Wunsch nach einem »wettbewerbsorientierteren, flexibleren, subsidiären, demokratischeren und faireren EU«. Doch wie eine EU, die noch »wettbewerbsorientierter« und noch »flexibler« sein soll, als sie schon heute ist, zugleich noch »demokratischer« werden kann, bleibt sein Geheimnis.
Das Eigentliche, was Cameron will, also seine innenpolitische Intention, kann aus seiner Drohung, ein »In-Out-Referendum« durchzuführen, herausgelesen werden. Wenn denn er bis dahin Premierminister bleiben sollte, so seine Aussage,  sollen die Briten 2017 die Frage »Wollt ihr die EU verlassen oder wollt ihr weiterhin Mitglied bleiben?« beantworten. Es ist mehr als offensichtlich, dass er damit eine bessere Ausgangslage für die Wiederwahl in 2015 schaffen möchte. Im Grunde genommen schlägt Cameron mit der in Aussichtstellung eines möglichen Referendums zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen bringt er die Euroskeptiker und Eurogegner auf seine Seite, zum anderen aber zwingt er dadurch seinen Kontrahenten Miliband, der wohl die gleichen Statistiken liest, zu einer gleichen Positionierung, wodurch er aufzeigen kann, dass er das »Original« und Miliband nur der »Nachahmer« ist.
Die klare Reaktion des britischen Kapitals auf die Rede offenbart die gemeinsamen Intentionen: »Für die britische Wirtschaft ist ein Verbleib Großbritanniens in der EU im langfristigen Interesse. Aber die EU muss reformiert werden«, so der Vorstandsvorsitzende der britischen Versicherung Prudential, Tidjane Thiam in der FAZ vom 24. Januar 2013. Da es zu der unseligen Tradition bürgerlicher Parteien in Europa gehört, stets in Krisen- bzw. Wahlkampfzeiten über die »Brüsseler Bürokratie« zu lamentieren, reagierten Brüssel, Berlin und Paris geradezu beschwichtigend auf die Rede, was wiederum ein Beleg für die innenpolitische Ausrichtung und nationalistische Kleinkariertheit von Camerons  Ausführungen liefert.
Das Eigentliche, was sich im Schatten der medialen Diskussion verbirgt, ist nichts anderes als die Tatsache, wie gemütlich sich die bürgerliche Reaktion inzwischen unter dem Dach der EU eingerichtet hat. Camerons Forderungen nach der Reformierung der EU, seine Hinweise auf mehr Wettbewerbsorientierung, mehr Flexibilität und Bürokratieabbau sollten gelesen werden als Forderungen nach einem weitergehenden neoliberalen Umbau der EU, in der die unveränderbare Regel des Kapitalismus, die nichtlegitimierte Zentralisierung vorangetrieben, der Nationalstaat als Instrument der Ausbeutung gefestigt, die Unterordnung der ärmeren EU-Mitgliedsstaaten sowie der EU-Peripherie ins Beton gegossen und die Herrschaft des Kapitals als Gottgegeben akzeptiert werden soll.
Einen weiteren Beleg für diese reaktionäre Tendenz der europäischen Bourgeoisie liefern die Entwicklungen in den übrigen EU-Ländern. Die rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien in Europa, das Ausufern der tschechischen, polnischen oder ungarischen Nationalismen, das Bestreben der Katalanen, mit der Unabhängigkeit sich den übrigen ärmeren spanischen Regionen zu entledigen, der Separatismus in Norditalien, die Roma- und Judenfeindlichkeit in den ost- und südosteuropäischen Staaten und letztlich, der in der Mitte kerneuropäischer Gesellschaften verankerte Rassismus und Wohlstandschauvinismus – in ihrer Gesamtheit sind sie nur ein Ausdruck der bürgerlichen Reaktion in Europa.
Was uns von den neoliberalen EU-Eliten und von der bürgerlichen Reaktion als »Demokratisierung«, »Europas Vielfalt«, »Subsidiarität« und »Reformen zur Bürokratieabbau« dargeboten wird, ist nichts geringeres als die hässliche Fratze der kapitalistischen Herrschaft im Gewand der bürgerlichen Reaktion, die sich in den Entscheidungsmechanismen der EU eingenistet hat.
Aus der Perspektive der arbeitenden Klassen und der Unterdrückten, und im Sinne ihrer Interessen kann daher die grundsätzliche Losung nicht »Rückkehr in die Nationalstaatlichkeit« sein, sondern muss die Forderung nach einer Europa, wenn nicht nach einer Welt sein, in der die weitgehendste Demokratisierung, weitverbreitete höchste soziale Standards, die bestmöglichste ökologische Nachhaltigkeit, die weiteste demokratische Kontrolle der Wirtschaft, Ethnien- und Geschlechtergerechtigkeit, die Zurückdrängung des Militarismus und der imperialistischen Machtpolitiken sowie die demokratische Autonomie als Form der direkten, ungehinderten Volksherrschaft verwirklicht werden. Die einzig angemessene Antwort auf die bürgerliche Reaktion kann nur die Forderung nach echtem Selbstbestimmungsrecht der arbeitenden Klassen und der Unterdrückten sein.
Ohne Frage; die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse und Bedingungen in Europa lassen eine solche Forderung als zu utopisch erscheinen. Dennoch, die gesellschaftliche und politische Linke in Europa steht vor der historischen Herausforderung, ihr Bestreben um die sofortige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, ihre Reformbemühungen in diesem Sinne und ihren Kampf um parlamentarische wie außerparlamentarische Mehrheiten auf die Grundlage dieser Forderung zu stellen und aus der Perspektive der Interessenvertretung unterdrückter und ausgebeuteter Menschen heraus zu gestalten. Jede kommunal-, landes-, bundes- oder europapolitische Tätigkeit, jede betriebliche oder gesellschaftliche Auseinandersetzung und jedes Streiten um Demokratiesierung, Gerechtigkeit und um ein besseres Leben wird zum Scheitern verurteilt sein, wenn sich Linke von dieser grundsätzlichen Perspektive entfernen würden.
Es ist genau diese Tatsache, was uns Linken eine Rede wie von David Cameron ins Gedächtnis rufen sollte.