Freitag, 19. September 2014

Des Sultans Scheindemokratie

Die Türkei nach den Staatspräsidentschaftswahlen – Politische und gesellschaftliche Perspektiven

Am 10. August 2014 fanden in der Türkei die ersten Staatspräsidentschaftswahlen in der Geschichte der Republik statt. Bis dahin wurden alle Staatspräsidenten vom Parlament gewählt. Recep Tayyip Erdoğan konnte nach fast 12-jähriger Amtszeit als Ministerpräsident diese Wahlen mit 51,8 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang für sich entscheiden. Das war keine Überraschung, aber – wenn man die enormen Möglichkeiten des Regierungsapparates, die Unterstützung der gleichgeschalteten bürgerlichen Medien sowie den mit großen Spenden aus der Wirtschaft finanzierte Wahlkampagne bedenkt – auch kein »überragender Sieg«.
Dennoch, Erdoğan ist an seinem Ziel angekommen: Er ist Staatspräsident und hat in seinem Nachfolger, dem ehemaligen Außenminister und heutigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu einen loyalen Statthalter gefunden. Dem Anschein nach folgt ihm seine AKP (Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung), doch erste Risse sind bemerkbar und in Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in 2015 sind parteiinterne Konflikte nicht auszuschließen.
Zwar konnte Erdoğan seinen Widersacher in der AKP, Abdullah Gül mit dem vorgezogenen Parteitag aus dem Rennen werfen, da Gül noch amtierender Staatspräsident war und deshalb nicht als Parteivorsitzender kandidieren durfte. Aber inzwischen wird erwartet, dass Gül Anspruch auf die Führung erhebt und 2015 als Parteivorsitzender für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren will – ob jedoch dies in der AKP oder in einem noch zugründenden neuen konservativen Partei sein wird, steht offen. Feststeht aber, dass für Erdoğan das »Problem Gül« noch nicht ausgestanden ist.
Das Gül-Lager formiert sich. Gül rechnet wohl damit, dass er gegen Davutoğlu, dem Erdoğans charismatische Führungsqualitäten gänzlich fehlen, bei einer Gegenkandidatur gute Chancen hätte. In diesem Fall wäre der Richtungskampf in der AKP unausweichlich. Erdoğan und Davutoğlu stehen für eine (sunnitische) konfessionell-konservative Politik, die zum einen durch Neo-Osmanismus geprägte regionalimperialistische Ambitionen hegt und zum anderen mit Hilfe des autoritären Konservatismus eine neoliberale Wirtschaftspolitik durchzusetzen versucht. Gül und ihn unterstützende Kreise, solche wie die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen wiederum, stehen weiterhin für einen »gemäßigten«, scheinbar liberalen Islam neoliberaler Prägung, welcher zeitweise als »Modell« für die gesamte arabische Welt angepriesen wurde. Dieses Modell sollte als Beispiel dafür dienen, wie der muslimische Konservatismus mit der kapitalistischen Moderne im Einklang gebracht und damit ein wirtschaftlicher Aufschwung samt Gewährung von bürgerlichen Freiheiten erreicht werden kann. Doch mit der zunehmenden Islamisierung des alltäglichen Lebens in der Türkei und spätestens nach der Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten war klar: der sunnitisch-konservative politische Islam ist mit der bürgerlichen Demokratie nicht kompatibel. Daher war die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten auch nur eine Frage der Zeit.
Saudi Arabien und die Golfkooperationsstaaten haben dabei eine gewichtige Rolle gespielt. Insbesondere für Saudi Arabien stellten die Muslimbrüder eine Gefahr für die innere »Stabilität« und die eigenen Machtverhältnisse dar. Aufgeschreckt von den Umwälzungen in der arabischen Welt nach 2011 und im Bemühen, die »schiitische Achse« zu brechen, um den Einfluss Irans zurückzudrängen, wurde die Annäherung an Israel gesucht und der scheinbar säkulare ägyptische Putschisten-General Sisi unterstützt. Die Förderung salafistischer Terrorbanden in der islamischen Welt wurde verstärkt. Inzwischen ist sogar in den bürgerlichen Medien des Westens zu lesen, dass Saudi Arabien, die Türkei und die Golf-Despoten in Syrien und im Irak die Terrorbanden des sog. »Islamischen Staates« (IS) tatkräftig unterstützen.
Erdoğan und Davutoğlu haben sich sehr früh neben Saudi Arabien, Katar und den anderen Golf-Despoten positioniert. Die Türkei wurde binnen weniger Monate zum Logistikzentrum der IS-Terroristen, aus der sie militärische, finanzielle und personelle Ressourcen nach Syrien und in den Irak einschleusen können. Das Ergebnis war, dass die als »strategische Tiefe« (Davutoğlu) beschriebenen und als »Null-Probleme-Politik mit den Nachbarstaaten« bezeichneten außenpolitischen Ziele nun in Trümmern liegen. Erschwerend hinzu kommt die, durch die »pazifische Orientierung« der USA verursachten Bündnisveränderungen in der Region (us-iranische Annäherung, mögliche Einbeziehung Assads in den Kampf gegen die IS, kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen im Nordirak, kurdische Autonomieversuche in Nordsyrien, Neuformierung der irakischen Zentralregierung, schiitisch-sunnitische Zweckbündnisse gegen die IS usw.). Heute wird die Türkei von bürgerlichen Medien des Westens als »das schwächste Glied in der Kette« bezeichnet. [1] Davutoğlu lehnte eine Beteiligung in der US-geführten »Koalition der Willigen« gegen die IS ab und gerät zunehmend ins Bedrängnis.
Gül dagegen wartet ab. Er weiß, dass Davutoğlu sich außen- wie innenpolitisch auf einem sehr glatten Terrain bewegt und den Herausforderungen nicht gewachsen ist. Die Tatsache, dass die neue AKP-Regierung die Zerschlagung der Gülen-Bewegung als »neuen Unabhängigkeitskrieg« bezeichnet und zur obersten Priorität erklärt hat, zeigt, dass Erdoğan und Davutoğlu Gül durchaus Chancen einräumen. Noch sitzen Erdoğan und Davutoğlu fest im Sattel, doch schon die nächsten Monate werden beweisen, wie trügerisch das sein kann.
In der Wirtschaft läuten die Alarmglocken
Ein kurzer Blick in die Wirtschaft bestätigt dies. Selbst regierungsnahe Medien problematisieren die Schuldenentwicklung. So gesehen bricht die Türkei alle ihre eigenen Rekorde: innerhalb der letzten Dekade hat sich die Verschuldung der öffentlichen Haushalte von 49 auf 111 Milliarden Dollar erhöht. Das Handelsbilanzdefizit betrug nach Angaben der türkischen Zentralbank im Juni rund 8 Prozent des BIPs.
Für die Bevölkerung hat aber die Verschuldung der privaten Haushalte fatale Folgen: in der letzten Dekade hat sich deren Verschuldung auf 151,6 Milliarden Dollar erhöht (2003: 4,5 Milliarden Dollar). Im März 2014 wiesen türkische Medien daraufhin, dass sich die Konsumentenkredite auf 113,4 Milliarden Dollar und die Kreditkartenschulden auf 38,2 Milliarden Dollar erhöht hätten. [2] Sie berichteten zudem, dass rund 3 Millionen Personen, die ihre Schulden nicht mehr begleichen können, auf die »schwarze Listen« der Banken aufgenommen wurden. Mit denjenigen, die in den sog. »grauen Listen« geführt werden, wären (incl. der Familienangehörigen) rund 30 Millionen Menschen von der Überschuldung betroffen. [3]
Die Bauwirtschaft – in der AKP-Ära mit durchschnittlich 5 Prozent des BIPs zum Flaggschiff der türkischen Wirtschaft aufgestiegen [4] – ist inzwischen auch ins Bedrängnis geraten. Der türkische Ökonom Mustafa Sönmez stellt fest, dass in den ersten 7 Monaten des Jahres 2014 der fremdfinanzierte Wohnungsverkauf um 48 Prozent und die PKW-Verkäufe um rund 30 Prozent zurückgegangen sind. [5]
Diese Tatsachen, die immense Auslandsverschuldung, die Energie- und Lebensmittelabhängigkeit vom Import (die Türkei zahlt jedes Jahr über 60 Milliarden Dollar für Energielieferungen), zurückgehende Produktionskapazitäten und die steigende Inflation (August 2014: ca. 10 Prozent) zeigen die Brüchigkeit der wirtschaftlichen Situation. Die türkische Wirtschaft, insbesondere die Exportwirtschaft, ist stark vom Auslandskapital abhängig, die derzeit stagniert. Inzwischen steht die Türkei in der CDS-Risikoprämienliste (Credit Default Swap) auf vierter Stelle. Wenn man bedenkt, dass die internationalen Finanzmärkte derzeit massiv auf den Dollar setzen und auf mögliche Zinsschritte der US-Notenbank spekulieren, dann wird es deutlich, dass der Dollar-Run den Abzugstrend des ausländischen Kapitals aus der Türkei erhöhen wird und damit zusätzliche massive Probleme für die türkische Wirtschaft entstehen werden.
Erdoğans Druck auf die türkische Zentralbank zur Senkung der Leitzinsen wird von den internationalen Finanzjongleuren argwöhnisch beobachtet. Erdoğan und die AKP-Regierung haben jetzt wieder den Druck auf den Zentralbankchef Erdem Başçı erhöht. Doch Başçı beugte sich nicht und erklärte am 10. September 2014, dass »eine Zinssenkung aufgrund der aktuellen Inflation ausgeschlossen« sei. [6] Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Wachstumsprognosen von 4,7 Prozent korrigiert werden müssen und das reale Wachstum nur 2,1 Prozent beträgt.
Der »Geist von Gezi« ist noch lebendig
Diese wirtschaftliche Entwicklung ist eines der wesentlichen Gründe, weshalb in verschiedenen Regionen wieder Unmut bemerkbar wird. Zwar hat der Juni-Aufstand um den Gezi Park in Istanbul vom letzten Jahr nicht vermocht, fokussiert auf die soziale Frage »entlang der Klassenlinien in den Block der ›schwarzen Türken‹ eine Bresche zu schlagen«, [7] doch der Schock der Protesttage sitzt Erdoğan und seinen Mannen heute noch tief in den Knochen. Trotz massiver Polizeigewalt und mehreren Toten konnte die AKP den Protest nicht ganz verstummen lassen. Auch wenn die unorganisierten Massen der Proteste aufgrund der Ergebnisse der Kommunal- und Staatspräsidentschaftswahlen gewisse Resignationstendenzen zeigen, ist das Protestpotential weiter vorhanden.
In den letzten Wochen gingen wieder Menschen auf die Straßen – so z.B. wegen dem Tod von 10 Bauarbeitern am 8. September 2014. Auf einer Hochhausbaustelle, in denen Luxusresidenzen für mehrere Millionen Dollar verkauft wurden, waren die Arbeiter bei einem Aufzugunfall ums Leben gekommen. Es stellte sich heraus, dass der Bauträger die Sicherheit vernachlässigt hatte. Aziz Torun, Chef der Bauholding und ehemaliger Schulkamerad von Erdoğan wird seit mehreren Jahren mit solchen tödlichen Arbeitsunfällen in Verbindung gebracht. Torun ist einer der vielen Baulöwen, die in der AKP-Ära große Profite eingefahren und Erdoğan finanziell unterstützt haben. Dieser »Arbeitsunfall« ist symptomatisch für die unsäglichen Zustände in der türkischen Arbeitswelt, weshalb Oppositionelle diese Unfälle als »Mord mit Ansage« bezeichnen.
Zu Recht, wie die Zahlen es beweisen: In der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle besetzt die Türkei seit langem den 1. Platz in Europa und ist somit Weltspitze. Laut der türkischen Statistikbehörde TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10.600 Beschäftigte bei »Arbeitsunfällen« ums Leben. [8] Alleine im August 2014starben 158 Arbeiter, 10 davon waren Kinder. Somit hat sich die Zahl der tödlichen »Arbeitsunfällen« in 2014 auf 1.270 erhöht. Das ist die Bilanz der AKP als Fahnenträgerin des ungehemmten Neoliberalismus.
Trotzdem kann von einer breiten gesellschaftlichen Protestbewegung nicht gesprochen werden. Ohne Frage, der »Geist von Gezi« ist noch lebendig und das Wahlergebnis des Co-Vorsitzenden der HDP (Demokratische Partei der Völker) Selahattin Demirtaş bei den Staatspräsidentschaftswahlen mit 9,8 Prozent (3,9 Millionen Stimmen) zeigt, dass die HDP, als vereinigte Partei der kurdischen Bewegung und verschiedenen sozialistischen Parteien durchaus in der Lage ist, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Für die Parlamentswahlen in 2015 macht das, Hoffnung. Aber um den Aufbau einer starken Wahlalternative, welche z.B. die rund 14 Millionen Wahlverweigerer gewinnen könnte, vorantreiben zu können, müssten die HDP, aber auch die kurdische Bewegung die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer politischen Aktivitäten bringen; durch eine stärkere Verbindung der außerparlamentarischen Kämpfe mit der parlamentarischen Tätigkeit als deren Interessenvertretung sichtbarer werden und die Herausforderung meistern, einerseits laizistisch-moderne urbane Schichten anzusprechen und andererseits einen klassenbezogenen Strang zu den – noch die AKP wählenden – verarmten und hochverschuldeten religiös-konservativen Massen herstellen, um so neue Bündnisse zu schmieden. Sicherlich ist das eine Herkulesaufgabe, für dessen Bewältigung jedoch aufgrund der verschärften Klassenwidersprüche, der anhaltenden Mehrfachkrisensituation (ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich sowie friedenspolitisch) und der geopolitischen Großwetterlage sich reale Chancen ergeben haben.
Strukturelle Hegemonie
Das größte Hindernis vor der Nutzung dieser Chancen stellt immer noch die strukturelle Hegemonie des sunnitischen Konservatismus dar. Seit der Gründung der Republik in 1923 ist die Mehrheitsbevölkerung der Türkei – unabhängig von den ethnischen Abstammungen – sunnitisch-konservativ eingestellt. Die von den kemalistischen Eliten von oben oktroyierte türkische Moderne war von der Mehrheitsbevölkerung nie verinnerlicht worden. Der Laizismus á la turc wurde als paternalistische Bevormundung des Staates verstanden und die bürgerliche Rechtsprechung bekam nie ihr Vertrauen. Die Tatsache, dass heute noch neben dem bürgerlichen Recht gleichzeitig, zwar inoffiziell, aber gesellschaftlich akzeptiert, das sunnitische Rechtsverständnis existiert und die meisten Morde vor den Gerichtsgebäuden – meist nach der Urteilsverkündung – begangen werden, bestätigt das eindrucksvoll. Die staatliche Willkürjustiz, das heute noch angewandte Feindstrafrecht aus den Tagen des schmutzigen Krieges und in der AKP-Ära gänzlich aufgeweichte Gewaltenteilung begünstigen diese absurde Situation.
Aber um diese strukturelle Hegemonie nachzuweisen ist es nicht notwendig, in die Anfänge der Republik zu schauen. Allein die Betrachtung der Wahlergebnisse seit 1983 wäre dafür der beste Beweis. Der Journalist Can Gürses wies in einem Artikel daraufhin, dass die nationalistisch-konservativen Parteien zwischen 1983 und 2014 durchschnittlich 68 Prozent der Stimmen erhalten haben. Gürses zählt dabei die kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei) zu den linksaffinen Parteien, die durchschnittlich 27,5 der Stimmen erhalten haben. Das ist irreführend, weil die CHP eine nationalistische Programmatik hat. Doch Gürses hat Recht, wenn er die konservativen Parteien als Gewinner der Wahlen aufführt. Denn in den letzten 8 Parlamentswahlen seit 1983 haben die nationalistisch-konservativen Parteien, die durch die 10-Prozent-Hürde zusätzlich begünstigt wurden, durchschnittlich 74,8 Prozent der Parlamentssitze erhalten. [9]
Diese gesellschaftliche Realität ist übrigens auch der eigentliche Grund, warum die CHP gemeinsam mit der neofaschistischen MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) mit Ekmelettin M. İhsanoğlu einen ausgewiesenen Konservativen als Erdoğans Gegenkandidaten aufstellte. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu wurde in den Medien mit den Worten zitiert, dass »die CHP auf die konservative Bevölkerung zugehen und konservative Wähler für sich gewinnen« müsse. Diese Rechnung ging nicht auf: die sunnitisch-konservative Mehrheit wählte das »Original« und nicht dessen Karikatur. Die CHP hat in doppelter Hinsicht sich selbst einen Bärendienst erwiesen: Zum einen wurde durch die Kandidatur des ehemaligen Generalsekretärs der Islamischen Konferenz die sunnitisch-konservative Hegemonie gestärkt und zum anderen wurden die eigenen Wähler_innen verprellt, die massenhaft den Wahlurnen ferngeblieben sind.
Wie dem auch sei, es ist zu konstatieren, dass der Einfluss der strukturellen Hegemonie des sunnitischen Konservatismus enorm ist. Unter dessen Einfluss stehen insbesondere ärmere Bevölkerungsteile, die immer eine wahlentscheidende Rolle gespielt haben – wie auch zuletzt bei den Staatspräsidentschaftswahlen.
Die AKP hat es geschafft, einen großen Teil dieser Bevölkerungsgruppe für sich zu gewinnen. Deren niedriger Bildungsstand nutzte ihr dabei: Laut TUIK haben von den rund 55 Millionen Wähler_innen rund 33,5 Millionen einen niedrigen Schulabschluss. Nur 28 Prozent dieser Wähler_innen, also rund 9,3 Millionen verfügen über einen Internetanschluss und informieren sich ausschließlich über regierungsnahe Medien.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille: Laut TUIK hat die Türkei 76,7 Millionen Einwohner_innen. Davon sind ca. 16,3 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Zahl derjenigen, die nach einem gewerkschaftlich ausgehandelten Tarif bezahlt werden, beträgt gerade mal 700.000. Den offiziellen Zahlen zufolge werden rund 5 Millionen Menschen nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt, die derzeit bei knapp 300,00 Euro pro Monat liegt. Demgegenüber, so die Gewerkschaften, liegt die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie bei umgerechnet 1.161,00 Euro. Wenn man bedenkt, dass indirekte Steuern und Gebühren fast 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen und die, größtenteils von Lohnabhängigen bezahlten Einkommensteuer rund 21 Prozent, müsste man annehmen, dass die Unzufriedenheit der verarmten Bevölkerungsgruppen sehr groß sein müsste. Dem ist nicht so und das hat unterschiedliche Gründe.
Zum einen ist eine gefühlte »Teilhabe« am Regierungshandeln weit verbreitet. Den Massen wird vorgegaukelt, dass »einfache Leute wie sie«, die jeden Freitag in die Moschee gehen und deren Frauen Kopftuch tragen, jeder Zeit Aufstiegschancen haben. Die offen praktizierte bevorzugte Behandlung von konservativen Bürger_innen in den Stadtverwaltungen, bei den Behörden, in Schulen und insbesondere in den Grundbuchämtern verstärkt sicherlich diesen Eindruck. Daher sind viele der Auffassung, dass die AKP-Regierung »ihre Regierung« und Erdoğan »einer von ihnen« sei.
Zum anderen ist durch den kreditfinanzierten Konsum der gefühlte Wohlstand in den letzten Jahren gewachsen. Die Möglichkeit, dass Menschen mit niedrigem Einkommen durch die »grüne Gesundheitskarte« sowohl in staatlichen als auch in privaten Krankenhäusern nahezu kostenlos behandelt werden können, hat insbesondere für die rund 9 Millionen Karteninhaber_innen sowie deren Familien eine sichtbare Verbesserung gebracht. Wenn man bedenkt, dass fast 11 Millionen Menschen im informellen Sektor, also ohne Sozialversicherung beschäftigt sind und einkommenslose Frauen auf Antrag eine monatliche Unterstützung von über 100,00 Euro vom Staat erhalten, bedeutet das eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenssituation verglichen mit der Zeit vor den AKP-Regierungen. Zwar hat das zum größten Teil willkürlich gehandhabte Wohltätigkeit der Regierung nichts mit einer verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun, aber für die ärmeren Familien spielt es keine Rolle, woher die Unterstützung kommt.
Im Grubenunglücksort Soma, wo am 13. Mai 2014 301 Kumpel ums Leben gekommen sind, kann symptomatisch beobachtet werden, wie die strukturelle Hegemonie in Verbindung mit dem Wohltätigkeitsgebaren der AKP die Menschen beeinflussen kann: Bei den Kommunalwahlen am 30. März 2014 hatte die AKP 43,3 Prozent der Stimmen, die MHP 28,7 Prozent und die CHP 22,3 Prozent erhalten. Bei den Staatspräsidentschaftswahlen am 10. August 2014 wiederum hat Erdoğan 47,3 Prozent der Stimmen bekommen, während auf İhsanoğlu 50,1 Prozent zufielen. Trotz des Grubenunglücks und den offensichtlich gewordenen regierungsamtlichen Vernachlässigungen konnte Erdoğan seine Stimmanteile erhöhen.
Soma gehört zu einer Region, in der vorher die Landwirtschaft prägend war. Nachdem die AKP die Subventionen aufgehoben und die Bauern dem Marktdruck überlassen hatte, passierte genau das, was in allen ländlichen Gebieten beobachtet wurde: die Bauern verschuldeten sich und mussten zur Schuldentilgung ihre Äcker verkaufen. Ein Teil wurde in die Binnenmigration gedrängt, ein größerer Teil stand nun als Billigstkräfte für den Bergbau zur Verfügung. Da aber die Arbeit in der Grube mit durchschnittlich 12 oder mehr Stunden zu schwer ist, sind die Arbeiter gezwungen, mehrere Tage Pausen einzulegen. Den kargen Lohn versuchen sie dann mit Tätigkeiten im informellen Sektor zu verbessern. Für deren Familien ist selbst eine monatliche Unterstützung von 100,00 Euro Lebensnotwendig. Und sie sind der Meinung, dass sie diese Verbesserung nur der AKP verdanken.
Zudem kommt die Tatsache, dass die Sehnsüchte und Erwartungen der sunnitisch-konservativen Mehrheit, die von Erdoğan geschickt durch seine Polarisierungspolitik stärker um die AKP zusammengezogen wurde, mit der neo-osmanischen Ambitionen korrespondieren. Die Mehrheit erhofft sich von dem zu erwartetem Reichtum einer stärker und größer werdenden Türkei mehr Teilhabe. Daher hatten weder Korruptionsvorwürfe, noch die offene Unterstützung der AKP für den IS-Terror irgendwelchen Einfluss auf das Wahlverhalten der Mehrheit.
Doch lange wird das nicht gutgehen können. Erdoğan und die AKP haben ihren Zenit längst überschritten. Die akuten wirtschaftlichen Gefahren, das wachsen des Unmuts, der ins Stocken geratene Friedensprozess in der kurdischen Frage und der Druck der USA, sich gegen den IS-Terror zu positionieren werden ihren Tribut von der AKP fordern. Auch wenn Erdoğan es schaffen sollte, die weitgehenden Wirkungsmöglichkeiten, welche dem Staatspräsidenten von der noch gültigen Juntaverfassung zugestanden werden, für die Verfestigung von autoritären Strukturen und für die Vertiefung der neoliberalen Politik zu nutzen, werden sich spätestens nach den Wahlen im nächsten Jahr die Machtverhältnisse im türkischen Parlament ändern. Ob die linke HDP und die kurdische Bewegung diese Situation für eine Demokratisierung des Landes nutzen und für einen echten Politikwechsel einen angemessenen Beitrag leisten können, wird in erster Linie von ihrer Bündnisfähigkeit und ihrer sozialen Schwerpunktsetzung abhängen. Gesellschaftlich gibt es durchaus Potentiale, die dafür sprechen. Das Wahlergebnis von Demirtaş gibt Hoffnung, aber für die HDP waren die Staatspräsidentschaftswahlen nur die Probe – die echte Prüfung steht noch bevor.
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[1] Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. September 2014, S. 10.
[3] ebd.
[4] Siehe: Ismail D. Karatepe, »Bauwirtschaft, Islamismus und die türkische Bourgeoisie«, in: Infobrief Türkei, Nr. 06/13, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2013/12/bauwirtschaft-islamismus-und-die_19.html
[7) Mit der Bezeichnung »schwarze Türken« sind vorwiegend arme, sunnitisch-konservative Bevölkerungsteile gemeint. Zitat aus: Nick Brauns, Junge Welt vom 20. Juni 2013.