Donnerstag, 16. Juni 2011

Parlamentswahlen in der Türkei: Gesellschaftliche Allianzen «von oben» und «von unten»


Nicht nur die AKP hat ihre Macht ausgebaut. Einen triumphalen Erfolg konnte das Wahlbündnis des linkskurdischen Blocks erzielen. Wahlanalyse von Anne Steckner und Corinna Trogisch.
(Quelle: http://www.rosalux.de/publication/37612)

Nach Beendigung der Auszählung sieht das Ergebnis der Parlamentswahlen in der Türkei wie folgt aus: 49.9% der gültigen Stimmen gingen an die islamisch-konservative Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“), 25.9% an die kemalistisch-sozialdemokratische CHP („Republikanische Volkspartei“), 13% an die ultrarechte MHP („Partei der Nationalistischen Bewegung“) und 6.6% an unabhängige KandidatInnen des linkskurdischen „Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“. In der 24. Legislaturperiode wird demnach in der Nationalversammlung die AKP mit 326, die CHP mit 135, die MHP mit 53 und die unabhängigen KandidatInnen mit 36 Sitzen vertreten sein. Es waren die ersten nicht vorgezogenen Wahlen seit 34 Jahren. Die Wahlbeteiligung lag bei 85%.

In der neuen Nationalversammlung werden 78 Frauen vertreten sein, das macht einen Gesamtanteil von 15%. Aufgeschlüsselt nach einzelnen Fraktionen ergibt sich ein deutlicheres Bild, vor allem Blick auf die jeweils prozentualen Anteile: für den Wahlblock ziehen 11 weibliche Abgeordnete ins Parlament (das sind 31% aller ParlamentarierInnen des Blocks), für die CHP 19 (14%), für die AKP 45 (14%) und für die MHP 3 (6%).

Wahltag unter erschwerten Bedingungen

Über den Tag hinweg und vor allem am Wahlabend wurden verschiedentlich Übergriffe und Repressalien gegen WählerInnen bekannt, was zahlreiche WahlbeobachterInnen aus angereisten internationalen Delegationen bestätigten. Vor allem in kleinen Wahlbezirken und Dörfern kam es zu gewaltvollen Einschüchterungsversuchen, Festnahmen und Rechtsverstößen. Dänische WahlbeobachterInnen gerieten in einen Konflikt mit Soldaten, die mit ihren Waffen direkt neben den Wahlurnen saßen. Einem Mann wurde die Stimmabgabe verweigert, weil er mit seiner Frau Kurdisch gesprochen hatte. In Izmir wurde ein PKW mit Stimmzetteln gefunden, die bereits mit einem Stempel für die AKP versehen waren[1]. Ein Pressetext von Abgeordneten der LINKEN liest sich eher wie Krieg: „Nachdem die kurdische Partei BDP in Şırnak (...) ihre Kandidaten mit deutlicher Mehrheit ins Parlament gebracht hat, wurde friedlich gefeiert. Dann wurde eine Handgranate in die Menge geworfen. Unsere Wahlbeobachter-Delegation aus Nürnberg war nur wenige Meter von dem Anschlagsort entfernt. 12 Personen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Bei den anschließenden Tumulten setzte die Gendarmerie Tränengasgranaten ein und beschoss auch uns und unsere DolmetscherInnen (...).
Die Sicherheitskräfte griffen zudem Menschen an, die sich vor dem Krankenhaus versammelt hatten, um etwas über die Verletzten zu erfahren. (...) Da dies nicht der einzige Anschlag war, sondern ganz ähnliche in mehreren anderen Städten im kurdischen Gebiet, kann von einer gezielten Provokation ausgegangen werden.“[2]

In einer ersten am Abend gehaltenen Rede betonte Ministerpräsident Tayyip Erdoğan die Aussöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen, hielt jedoch an seinem v.a. von kurdischer Seite und von sozialistischen Kräften kritisierten Duktus fest, die kurdische Minderheit nur als individuelle „BürgerInnen“ bzw. unterschiedslose „Brüder und Schwestern“ anzusprechen. Der Wahlabend sei nicht der Tag der Abrechnungen (hesaplaşma), sondern der Moment, in dem alles ausstehende Soll und Haben, aller Groll aufgehoben werde (helâllaşma) – ein stark religiös konnotiertes Verständnis gegenseitiger Versöhnung, in entsprechend paternalistischem Gestus vorgebracht. Noch während Erdoğan vom Balkon der Parteizentrale der AKP in Ankara sprach, wurden in Diyarbakır 20.000 Feiernde von Polizeieinheiten mit Panzern drangsaliert. Berichtende JournalistInnen und Abgeordnete mussten sich vor den Angriffen in umliegende Gebäude zurückziehen. Die Auseinandersetzungen dauerten bis in den späten Abend an.

Zahlenarithmetik und Parteienkonturen

Die AKP konnte zum dritten Mal in Folge einen deutlichen Stimmenzuwachs verzeichnen. Von den großen Städten des Landes musste sie nur Izmir der CHP und Diyarbakır dem Block überlassen. In fast allen kurdischen Gebieten verlor sie Stimmen, wenngleich sie hinter den unabhängigen KandidatInnen meist zweitstärkste Kraft blieb, in manchen kurdischen Wahlkreisen sogar stärkste Partei. Die von ihr anvisierten 330 Sitze (3/5-Mehrheit), mit denen sie allein über Verfassungsänderungen hätte entscheiden können, hat sie jedoch knapp verpasst. Sie wird somit für die angekündigte Verabschiedung einer neuen Verfassung auf die Zustimmung anderer Parteien angewiesen sein. Vorstellbar ist der Versuch der AKP, Abgeordnete aus anderen Fraktionen zu einem Übertritt zu „bewegen“. Gelänge dies, könnte die Parlamentsfraktion die goldene Marke von 330 Sitzen noch erreichen und eine neue Verfassung im Alleingang konzipieren, über die dann per Referendum abgestimmt werden müsste. Die AKP liegt allerdings weit hinter Erdoğans eigener Zielsetzung, mit einer bequemen 2/3-Merhheit (367 Sitze) im Parlament die neue Verfassung nicht einmal mehr einem Referendum unterwerfen zu müssen.

Einen triumphalen Erfolg konnte das Wahlbündnis des linkskurdischen Blocks erzielen. Trotz der den Wahlen vorangegangenen Repressionen, der Kandidatensperre und der tätlichen Übergriffe auf UnterstützerInnen lag das Wahlergebnis weit über den Erwartungen. Der aus der BDP („Partei für Frieden und Demokratie“) und 16 weiteren Gruppen und Parteien zusammengesetzte Block hatte mit seiner Unterstützung unabhängiger KandidatInnen die im türkischen Wahlgesetz seit 1982 geltende 10%-Hürde umgangen. Allerdings müssen die Unabhängigen in ihren Wahlkreisen einen individuell höheren Stimmenanteil als die ListenkandidatInnen auf sich vereinen, um direkt ins Parlament gewählt zu werden. Dieser Umstand befeuerte bereits am Wahlabend nach den Auszählungen die Debatte um die Gründung einer spektrenübergreifenden linken Partei.

Anders als in den meisten in- und ausländischen Medien dargestellt, lässt sich der Block nicht als reine Kurdenpartei bezeichnen. Wenngleich unter kurdischer Führung, umfasst er unterschiedliche nicht-nationalistische linke Gruppen und Akteure. In Mardin wurde mit Erol Dora zum ersten Mal ein aramäischer Christ ins Parlament gewählt. Auch der in Mersin vom Block unterstützte Sozialist Ertuğrul Kürkçü schaffte den Einzug ins Parlament. Bekannte kurdische PolitikerInnen wie die lange Jahre inhaftierte Leyla Zana oder der ehemalige Co-Vorsitzende der BDP, Selahattin Demirtas, sorgten in ihren Wahlkreisen für Stimmenanteile von 60% bis 80% für den Block. Mit Kandidaten wie Altan Tan oder Serafettin Elçi öffnete sich der Block auch für religiöse Kreise. In Istanbul wurden alle drei aufgestellten KandidatInnen des Blocks gewählt: der EMEP-(„Arbeitspartei“)-Vorsitzende Levent Tüzel, die kurdisch-alevitische Feministin Sebahat Tuncel und der türkische Filmemacher Sırrı Süreyya Önder – in allen drei Fällen mit auffallend hohen Stimmenanteilen.

Die CHP war mit ihrem neuen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, der vor einem Jahr das kemalistische Schwergewicht Deniz Baykal abgelöst hatte, als „neue CHP“ mit einem weniger nationalistisch-säkularistisch-antiislamischen Profil zu den Wahlen angetreten. Die erhofften 30% konnte sie nicht erreichen, wenngleich sie rund 5 Prozentpunkte zulegte und so zumindest eine Ahnung von perspektivischer Konkurrenz zur AKP-Alleinherrschaft aufkommen ließ. Der neue Kopf einer alten Partei, der Staatpartei der türkischen Republik, stieß nicht nur in der Kurdenfrage moderatere Töne an, sondern brachte auch einige unerwartete Punkte auf die Agenda: neben dem Projekt einer Familienversicherung machte sich die CHP beispielweise stark für die Abschaffung der 10%-Hürde und der militärischen Sonder¬gerichte und legte nahe, ein Referendum über den geplanten Bau von Atomkraftwerken in der erdbebengefährdeten Türkei durchführen zu lassen.

Die MHP erlitt leichte Stimmenverluste – wahrscheinlich infolge der auf dubiose Weise veröffentlichten Sex-Videos mit Spitzenpolitikern der Partei, von denen einige mitten im Wahlkampf zurücktraten. Das vergleichsweise unbeschadete Wahlergebnis der MHP deutet darauf hin, dass es derzeit in der Türkei ein recht stabiles Reservoir an MHP-WählerInnen gibt, die die Partei einigermaßen sicher über die 10%-Hürde hieven. Dass ausgerechnet diese Partei das Zünglein an der Waage war, um eine bequeme 3/5 oder gar 2/3-Mehrheit für die AKP zu verhindern, ist der bitter-ironische Beigeschmack einer Vertretung der Grauen Wölfe im Parlament.

Alle kleinen Parteien haben durchweg Stimmen verloren, mit -4.8% allen voran die konservative DP („Demokratische Partei“). Neu unter den Splitterparteien ist die HAS Parti („Partei der Stimme des Volkes“), eine sozialkritische Abspaltung von der radikalislamischen Saadet Partisi („Glückseligkeitspartei“). In ihrem ersten Wahlkampfantritt blieb sie knapp unter 1% der Stimmen.

Soweit zur Wahlarithmetik. Wie lassen sich nun aber vor diesen Wahlergebnissen die politischen Entwicklungen und Kräfteverhältnisse in der Türkei einschätzen?

1.) Versuche ‚von oben’: die AKP

Dass die AKP trotz spürbarer Verluste in den kurdischen Gebieten weiterhin unangefochten stärkste Partei ist und insgesamt stimmenmäßig sogar zulegen konnte, wirft die Frage auf, welche gesellschaftlichen Dynamiken ausschlaggebend gewesen sein könnten dafür, dass unter den abgegebenen Stimmen sich jede/r Zweite für die AKP entschieden hat. Im Folgenden werden unterschiedliche Aspekte beleuchtet, die in der Zusammenschau ein Bild vom gesellschaftlichen „Appeal“ der AKP und den darin enthaltenen Widersprüchen zu zeichnen versuchen – in dem Wissen, dass diese Überlegungen sicher zu ergänzen sind, aber zusammen mit dem zweiten Teil des Textes zum Wahlblock erste Hinweise für das Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Dynamiken in der Türkei liefern können.

Gelungene Wahlpropaganda: das Narrativ der nationalen „Entwicklung“

Die AKP will „alles für die Türkei“ geben und hat sich dafür eine Zielmarke gesetzt: das Jahr 2023, der 100. Jahrestag der Republikgründung – ein hochgradig aufgeladenes Datum. Bis dahin soll die Türkei unter den weltweit zehn führenden Industrieländern und unter den fünf größten Agrarproduzenten rangieren, das jährliche pro-Kopf-Einkommen auf 25.000 Lira steigen[3], die Rüstungsindustrie stärker subventioniert und um die Produktion von Panzern und Kriegsflugzeugen Hausmarke Türkei angereichert sein, das Straßen- und Zugstreckennetz um 10.000 km ausgeweitet und ein dritter Flughafen in Istanbul gebaut sein. Geht es nach der AKP, wird nicht nur eine dritte Brücke über den Bosporus führen, sondern neben der natürlichen Meerenge auch noch eine gigantische künstliche Wasserstraße zwischen Marmara- und Schwarzem Meer ausgehoben. Neben einem eigenen Satelliten im All und 3 Atomkraftwerken sollen in public private partnership 22 „Riesenkliniken“ (nicht einfach Krankenhäuser) entstehen, 1 Mio. Erwerbslose in Arbeit gebracht und ja, außerdem noch eine ganz neue Verfassung verabschiedet worden sein.

Die Aufzählung dieser großspurigen Ziele, mit denen Städte wie Istanbul im Wahlkampf reihenweise zuplakatiert waren, ließe sich noch um viele weitere Elemente aus einer Liste von insgesamt 172 Punkten ergänzen, auf der konkrete sozial- oder bildungspolitische Inhalte auf die hinteren Ränge verwiesen bleiben. Und als ob es in diesem Land nicht seit 30 Jahren Krieg gäbe, wurde die Kurdenfrage mit zwei knappen Sätzen im 160 Seiten starken Wahlmanifest abgetan.

Die Werbeagenturen der AKP wussten sich des Narrativs der nationalen Entwicklung wirksam zu bedienen: Kalkınma, wie es bereits der Name der Partei nahelegt, wird zur Chiffre für linearen Aufstieg, chauvinistischen Nationalstolz und unbegrenztes Wachstum, so als könne man die Türkei auf einen zweiten Planeten auslagern. Höher, schneller, größer, nach den Sternen greifen – Evet! („Ja!“) Was gestern noch Traum war, sei heute wahr geworden, brüstete die AKP sich vor allem mit wirtschaftspolitischen Erfolgen. Der im In- und Ausland gefestigte Ruf der AKP, die Partei des ökonomischen Aufschwungs zu sein, hat in den vergangenen Jahren geradezu eine AKP-Hysterie ausgelöst. Nicht zuletzt wirkt Erfolg an sich anziehend: es macht einfach mehr Spaß, die absehbaren Sieger zu wählen und sich auf der Gewinnerseite zu wähnen.

Gegenüber einem derart penetranten Positiv-Image wirkte der Wahlslogan der CHP – „Die Türkei wird tief durchatmen“ – vergleichsweise defensiv, ja geradezu zahnlos. Gelegenheiten zum Durchatmen versprach das CHP-Programm allerdings: u.a. will die Partei den Mindestlohn heraufsetzen, das schon vor dem Wahlkampf vorgestellte Projekt einer Familienversicherung und der Rechtsanspruch auf eine Mindestsicherung gegen Armut vorantreiben und die grassierende Erwerbslosigkeit vor allem im Südosten des Landes mit öffentlichen Investitionen mindern. Themen wie Altersarmut, erzwungene Binnenmigration, zunehmende Prekarität im informellen Sektor und der Druck auf kleine Betriebe gegenüber globaler Konkurrenz bestimmten die Wahlkampf-Broschüren der CHP. Die soziale Frage war wieder auf der Agenda der Partei, die die vergangenen Jahre über vor allem damit beschäftigt war, angesichts der bahnbrechenden Wahlerfolge der AKP die kollektive Angst vor einem vermeintlich drohenden Scharia-Staat zu schüren und den „kurdischen Separatismus“ in einem Atemzug mit der Rechtfertigung militärischer Maßnahmen gegen „den Terrorismus“ zu verteufeln[4].

Reichtum, Erwerbslosigkeit und Polarisierung

Dass in diesen Wahlen die soziale Frage nicht nur die Agenda der CHP prägte, sondern auch eines der zentralen Themen des linkskurdischen Blocks war, spiegelt die Widersprüche und Kehrseiten der vordergründig glänzenden AKP-Periode. Die Erfolgsstory vom rasanten ökonomischen Aufstieg, die sowohl die AKP, die ihr zugeneigte Presse als auch zahlreiche internationale Medien verlässlich ventilierten, ist die Geschichte einer semiperipheren Ökonomie, deren Wachstumsraten in den vergangenen Jahren neben steigenden öffentlichen Investitionen (vor allem im Bausektor) vorwiegend vom Zustrom internationaler Direktinvestitionen abhingen. Für die Verwertung des globalen Kapitals ist die Türkei ein willkommener Durchlauferhitzer und – dank hochgradig flexibilisierter Arbeitsverhältnisse und vergleichsweise niedriger Löhne – Garant satter Profite. Auch die vergleichsweise hohen Zinssätze locken überschüssiges Finanzkapital, das sich mit der Niedrigzinspolitik der kapitalistischen Zentren nicht begnügen will, in die Türkei. Das Land genieße „hohes Vertrauen“ bei ausländischen Investoren, so die Financial Times Deutschland[5].

Entsprechend rosig waren die Entwicklungen, seit die AKP das Ruder übernommen hatte: von einem kurzen Einbruch 2009 abgesehen, weisen die Wachstumsraten seit der schwersten Finanzkrise in der Geschichte der Türkei 2001 konstant nach oben. Die Türkei gilt als rasanter Aufsteiger unter den G20-Staaten. Die straff regulierten türkischen Banken überlebten die globale Finanzkrise 2008/2009 relativ unbeschadet. Die Inflationsraten bewegen sich seither durchgängig im einstelligen Bereich, die Türkische Lira musste nicht wieder abgewertet werden. Auch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in den Jahren seit dem Regierungsantritt der AKP gewachsen, je nach Statistik hat es sich sogar mehr als verdoppelt. Allerdings sagen Durchschnittswerte nichts darüber aus, in welchen Sektoren die Einkommen gewachsen sind und wie ungleich der Reichtum verteilt ist. Von Mexiko abgesehen ist in keinem Mitgliedsland der OECD die Schere zwischen Arm und Reich so groß wie in der Türkei[6]. Dass dieser Boom also einem hochgradig ungleichen und vor allem joblosen Wachstum geschuldet ist, bestätigen selbst offizielle Statistiken, die die Erwerbslosigkeit bei gegenwärtig knapp 12 Prozent ansiedeln. Und viele derjenigen, die noch in formalisierter Erwerbsarbeit sind, müssen angesichts der seit 2005 besonders forcierten Privatisierungen großer Staatsbetriebe zunehmend prekärere Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, vom informellen Sektor ganz zu schweigen. Die breit unterstützten Streiks beim privatisierten Tabak-Monopolisten TEKEL im Jahr 2010 stehen exemplarisch für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um verschlechterte Arbeitsverträge und den nach unten durchgereichten Druck auf die Lohnabhängigen im Zuge der staatlicherseits vorangetriebenen Privatisierungen.

Die schlichte Angst vor Jobverlust mag die Wahlentscheidung zugunsten der AKP beeinflusst haben: noch steht sie in der kollektiven Wahrnehmung für ökonomische Stabilität und ein zupackendes „Weiter so!“. Zeitungen berichten auch davon, dass besonders islamische Unternehmer ihren Angestellten nahelegen, die AKP zu wählen. Da in den arbeitsintensiven klein- und mittelständischen Unternehmen Anatoliens das Verhältnis zum „Patron“ (häufiger als in Großbetrieben) von persönlichen Familienbeziehungen oder lokalen Netzwerken geprägt ist, dürfte der Einfluss hierarchischer Autoritäten in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen sein. Hinzu kommt der Einfluss zahlreicher der AKP nahestehender religiöser Gemeinschaften, die mancherorts während des Wahlkampfes auffällig präsent waren[7]. Im gleichen Zusammenhang steht auch die Rolle islamischer Stiftungen, Bildungsinstitute und Wohltätigkeitsvereine, die dank der Mildtätigkeit privater Spender mittellosen Familien mit Sachleistungen oder einer Arztbehandlung, leistungsbereiten SchülerInnen mit einem Stipendium oder fromm lebenden Studierenden mit einem Platz im Wohnheim aushelfen. Auf diese Weise werden die strukturell bedingten Ungleichheiten individuell ein wenig gemildert und die Akzeptanz für die weiter vorangetriebene Marktförmigkeit aller gesellschaftlichen Sphären durch die AKP gefördert.

Die oberen Mittelschichten und vor allem die Oberschicht konnten indes vom neoliberalen Umbau unter der AKP profitieren. Die steigenden Konsumbedürfnisse dieser Schicht werden vermehrt mit Importen aus dem Ausland befriedigt. Auch viele Rohstoffe, Zwischenprodukte und technologische Ausstattung für die Exportverarbeitung müssen importiert werden, während die Deviseneinnahmen aus türkischen Exporten hinter diesen Ausgaben zurückbleiben. In die entstehende Lücke springt das hot money der globalen Märkte. Allerdings warnt vor den Risiken des enormen Leistungsbilanzdefizits und der Abhängigkeit von kurzfristig angelegten Auslandsinvestitionen mittlerweile sogar das Kapital selbst[8]. Ein plötzlicher Abzug würde die überhitzte türkische Ökonomie in einen Abwärtsstrudel reißen, dessen mögliche Folgen nicht unbekannt sind.

Doch noch dreht sich das Wachstumskarussell, und die Erzählung von der rasanten Entwicklung in eine rosige Zukunft scheint ungebrochen, solange wir nur „alle zusammen Hand in Hand und Schulter an Schulter“ anpacken (Wahlkampf-Song der AKP). Allerdings trübt eine von der regierungsnahen Tageszeitung Sabah veröffentlichte Umfrage den technokratischen Machbarkeitswahn der AKP-Regierung: der Umfrage zufolge rangierte auf die Frage, welches gegenwärtig das größte gesellschaftliche Problem in der Türkei sei, die Erwerbslosigkeit an oberster Stelle. Knapp ein Fünftel der Befragten sollen „Terrorismus“ als ihre dringlichste Sorge angegeben haben. Auf die Frage, ob Polizei und Armee die Operationen gegen die PKK einstellen sollten, bis eine tragbare Lösung des Konflikts gefunden sei, antworteten knapp 58% mit Nein und gut 28% mit Ja[9]. Laut der jüngsten Studie des Umfrageinstituts KONDA will fast die Hälfte der TürkInnen keinen kurdischen Nachbarn, keinen kurdischen Geschäftspartner oder keinen angeheirateten Kurden bzw. Kurdin in der Familie. Umgekehrt denken 22 Prozent der KurdInnen ähnlich[10].

In diesen Antworten spiegeln sich die derzeitigen Hauptkonfliktlinien in der Türkei, die nur miteinander artikuliert betrachtet werden können: extrem ungleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum geht einher mit der Zuspitzung einer identitär aufgeladenen Polarisierung der Gesellschaft. Diese äußert sich vornehmlich in offener Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bevölkerung, und stellt auch türkische Stimmen, die sich hierzu über das Akzeptierte hinaus kritisch äußern, vorab unter Terrorismusverdacht.

Nationalistische One-Man-Show

Wahlkämpfe in der Türkei sind strukturell und kulturell stark auf Führungsfiguren ausgerichtet, auf Zurschaustellung von Männlichkeit mit demonstrativer Entschiedenheit. Tatsächlich verfügen die Parteivorsitzenden auch über eine große Entscheidungsmacht, besonders bei der Aufstellung der KandidatInnen und in der politischen Richtlinienkompetenz. Wenngleich formale Einschränkungen in den Parteistatuten zu finden sind, sind es de facto die engen Zirkel um den Parteiführer, die die Wahllisten aufstellen. Die von Erdoğan handverlesenen KandidatInnen versprechen Rückendeckung und Gefolgschaft der künftigen AKP-Parlamentsfraktion.

Als charismatische Führungsfigur taugt Erdoğan allemal: ein Parteivorsitzender, der während seiner politischen Karriere aufgrund der Zitierung eines berühmten Gedichts eine Gefängnisstrafe absitzen musste und ursprünglich mit lebenslangem Politikverbot belegt werden sollte, zudem in jungen Jahren als Fußballspieler aus einem alteingesessenen Istanbuler Proletarierviertel Karriere gemacht hat, ist für viele fromme TürkInnen aus der unteren Mittelschicht eine überzeugende Identifikationsfigur, der sie gern ihre Stimme geben. Erdoğan kann einnehmend sprechen, er ist eine viel schillerndere Person als sein vergleichsweise besonnener, etwas blass wirkender Gegenspieler Kemal Kılıçdaroğlu, ein alevitischer Kurde aus Dêrsim, der im Wahlkampf das Wort Kurde wo immer möglich vermied, während Erdoğan geräuschvoll verkündet hatte, es gäbe dank der AKP keine Kurdenfrage mehr in der Türkei, sondern nur noch die Probleme einzelner kurdischer Bürger.

Aussagen wie diese stehen für die bewusste Ignoranz und nationalistische Stimmungsmache nicht nur im Vorfeld der Wahlen, sondern schon seitdem die AKP sich von ihrer begonnenen Öffnungspolitik hinsichtlich der Kurdenfrage verabschiedet hat. Speziell Erdoğans Fischen im Wählerreservoir der MHP passte zu den feindseligen Polarisierungen in der Gesellschaft. Dies dürfte der AKP Stimmen eingebracht haben und auch bei dem einen oder der anderen aus den eigenen Reihen nicht schlecht angekommen sein. Nationalismus und demonstrative Stärke sind Elemente, die das Lagerdenken stärken, klassenübergreifend verbindend wirken und einen Teil der gesellschaftlichen Unterstützung für die AKP erklären. Auf der Website der AKP sah man Erdoğan schwungvoll und resolut voranschreitend, im Hintergrund eine ganze Artillerie von Panzern und Kriegsflugzeugen. Eine derart martialische Bildsprache dürfte den Schlagabtausch unter den Männern der drei größeren Parteien noch beflügelt haben.

Selbst der bis dahin eher besonnen auftretende Kılıçdaroğlu lief in den letzten Tagen vor den Wahlen zu aggressiver Hochform auf und korrigierte im Zuge der gewaltvoll aufgeladenen Atmosphäre auch gleich den Kurs der „neuen CHP“: In seiner Rede in der kurdischen Grenzstadt Hakkari zwei Wochen vor der Wahl hatte Kılıçdaroğlu den kurdischen Regionen größere Eigenständigkeit zugesichert. Das ist zwar im Rahmen des türkischen Anpassungsprozesses an die EU-Standards der Struktur- und Regionalpolitik nur konsequent und findet sich indirekt sogar als eines der 2023-Ziele auf der AKP-Homepage versteckt, befeuerte jedoch den Unmut innerhalb der CHP-Führung und an der Parteibasis. Kılıçdaroğlu bemühte sich daraufhin, während der Wahlkampagne das Thema nicht weiter voranzutreiben, sondern seine Reden vor allem auf Maßnahmen angesichts der grassierenden Armut im kurdischen Südosten auszurichten.

Den Trumpf in chauvinistischer Tonlage hatte Erdoğan wenige Tage vor den Wahlen aus dem Hut gezaubert, als er Medien gegenüber unterstrich, dass wenn die AKP 1999 schon an der Macht gewesen wäre, sie mit Öcalan kurzen Prozess gemacht hätte oder als Regierung zurückgetreten wäre. Derartige Showdowns in Konkurrenz zum Vorsitzenden der ultra-nationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, der bereits im Wahlkampf 2007 publikumswirksam mit einem Strick in der Hand Erdoğan Versagen im Umgang mit dem PKK-Führer vorgeworfen hatte, sind integraler Bestandteil einer im Wahlkampf zur Schau gestellten Virilität. Erdoğans Gebaren zeugt immer weniger von einer Partei, die in den ersten Jahren nach Regierungsantritt noch auf breite gesellschaftliche Einbindung setzte, als vielmehr von der One-Man-Show eines erfolgsverwöhnten Fürsten, der kratzbürstig wird, sobald die gesellschaftlichen Widersprüche nicht mehr einzuhegen sind und sich Widerstand regt bei den Untertanen.

Konzentration auf StammwählerInnen

Obgleich sie sonst nur selten religiös konnotiertes Vokabular benutzt, versuchte die AKP während des Wahlkampfes, die eigene Anhängerschaft und die kritisch sich regenden Stimmen über die Beschwörung einer gemeinsamen muslimischen Identität mit einer ideologischen Klammer zu umfassen. Das gesellschaftliche Spektrum, in dem die AKP sich um Einbindung unterschiedlicher Kräfte bemüht, hat sich verengt. Verstärkt die religiöse Karte auszuspielen, zeugt weniger von einer Suche nach (wie auch immer hergestellten) Gemeinsamkeiten als von der Konzentration auf sichere Stimmen, gerade auch unter den religiös-konservativen Kräften in der kurdischen Bevölkerung. Bei seiner Wahlkampfrede in Diyarbakır hatte Erdoğan die religiöse Einheit mit den „geliebten Brüdern und Schwestern“ über deren ethnische Identität gestellt, schließlich schauten doch alle BürgerInnen der Türkei beim Gebet in die gleiche Richtung, nach Mekka. Gegen die Gemeinschaft aller Muslime mache „diese Terrororganisation“ (gemeint war diesmal nicht die PKK, sondern die BDP) Abdullah Öcalan zu ihrem Propheten und schüre somit die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber den von der staatlichen Religionsbehörde eingesetzten, „geprüften“ Imamen.
Zwar rief die BDP seit Wochen zu Aktionen zivilen Ungehorsams auf, zu denen auch die „zivilen Freitagsgebete“ außerhalb der von Staats-Imamen kontrollierten Moscheen gehören. In der kurdischen Stadt Şanlıurfa erklang angeblich sogar der Gebetsruf auf Kurdisch, und der dortige Imam Abdullah Karsak soll in seiner Predigt die staatliche Kurdenpolitik kritisiert haben. Auf die mediale Empörung hin beeilte er sich zu dementieren, auf Kurdisch zum Gebet gerufen zu haben. Auch der Vorsitzende der staatlichen Religionsbehörde, Mehmet Görmez, meldete sich umgehend zu Wort und verurteilte den Gebetsruf auf Kurdisch als unislamisch und in jeder Hinsicht inakzeptabel. Die regierungsnahe Presse wetterte, die „PKK-Imame“ würden das einzige bleibende Band zwischen Kurden und Türken durchtrennen[11]. Tatsächlich scheint es der AKP jedoch gelungen zu sein, über den Bezug auf die gemeinsame Religion große Teile derjenigen Gruppen einzubinden, die sich als sunnitische Muslime angesprochen fühlen. Die nicht zu vernachlässigenden Anteile der AKP in den kurdischen Gebieten und vor allem im anatolischen Kernland, in dem die AKP teilweise bis zu 70% der Stimmen auf sich verbuchen konnte, legen diese Vermutung nahe.

Vor diesem Hintergrund sind mögliche Sollbruchstellen in der (noch) breiten Zustimmung zur AKP innerhalb unterschiedlicher Strömungen des politischen Islam aufschlussreich. Denn es regt sich Kritik: der islamische Autor İhsan Eliaçık spricht vom religiös „reingewaschenen Kapitalismus“ der Mächtigen und Vermögenden um die AKP, kritisiert den systemkonformen, antikommunistisch durchdrungenen Islamismus der religiösen Gemeinschaften in der Türkei und plädiert dafür, die Religion in den Dienst von Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit zu stellen. Dies bedeute nicht zuletzt, auch die herrschende Eigentumsordnung zu hinterfragen. Der sich als parteifern bezeichnende Kritiker mahnt, die Religiosität breiter Teile der Gesellschaft ernst zu nehmen. Eine religiös sensible „Aufklärungsbewegung“ müsse mit der Bevölkerung über einen „revolutionären Islam“ zugunsten einer gerechten und demokratischen Gesellschaftsordnung diskutieren.[12] Auch die HAS Parti kanalisiert wachsende Kritik an der AKP – nicht weil letztere nicht religiös genug sei, sondern weil sie die Interesse einer herrschenden „Oligarchie“ bediene und augenfällig Politik fürs Kapital mache. Stattdessen gelte es, die Ökonomie zu demokratisieren, staatliche Verteilungsspielräume zugunsten des Wohlstands der breiten Massen auszuweiten und die Partizipation der Bevölkerung an grundlegenden politischen Entscheidungen verstärkt über Volksentscheide zu ermöglichen[13]. Zwar konnte die HAS Parti nur knapp 1% der Stimmen erringen, doch bleibt abzuwarten, inwiefern diese gerade erst vor 7 Monaten gegründete Partei in Zukunft religiös-kritisch orientierte Kräfte an sich binden können wird.

Eine Welt ohne die AKP?

Der Lack der AKP hat Striemen und rostige Kanten. Nach der vollmundigen Ankündigung einer „Öffnung in der Kurdenfrage“ ist wenig passiert, viele Kurdinnen und Kurden, die 2007 auf die AKP gesetzt hatten, sind enttäuscht oder zermürbt von den anhaltenden militärischen und polizeilichen Operationen in der Region. Über 3.000 demokratisch gewählte kurdische PolitikerInnen sind auf Grundlage des „Gesetzes zur Bekämpfung des Terrorismus“ in Haft. Zahlreiche liberale Intellektuelle, die der AKP lange Jahre über auffallend unkritisch die Feder gehalten hatten, wendeten sich ab und schielten auf die „neue CHP“. Nichtsdestotrotz sind das mit der AKP verbundene Gewinner-Image und ihr Stabilitätsversprechen ein schweres Pfund mit ideologischem Beharrungsvermögen: bei aller Kritik können sich manche Liberale schlicht nicht vorstellen, wie die politischen Entwicklungen in der Türkei ohne die AKP vorangetrieben werden sollen – hierfür exemplarisch die Kolumne des türkisch-armenischen Journalisten Etyen Mahçupyan wenige Tage vor der Wahl im Regierungsblatt Zaman: „Die ‚neue CHP’ ist nur eine positive Möglichkeit, bislang aber noch keine Realität. Demgegenüber hat die AKP den Test der Ernsthaftigkeit bestanden im Lichte ihrer Leistungen and Fehler. Und offengestanden, sie ist der einzige bedeutsame und starke Akteur, der die Kurdenfrage lösen kann. Die Freiheits- und Gleichheitsrechte der kurdischen Bevölkerung mögen eingelöst oder angemessen behandelt werden in einer Welt ohne die BDP, jedenfalls mindestens in den kommenden 10 Jahren. Aber eine Lösung ist einfach unvorstellbar in einer Welt ohne die AKP.“[14]

Das Kapital ist uneindeutig

Der größte Industriellenverband in der Türkei, TÜSIAD, wollte sich Ende letzten Jahres zum Verfassungsreferendum nicht zugunsten der Regierung positionieren. Während des Wahlkampfes blieb unentschieden, ob das Großkapital nach längerem Wohlwollen gegenüber der AKP nun mit der Partei liebäugelte, die durch ihre moderateren Positionen in der kommenden Zeit eher in der Lage sein könnte, den politischen Rahmen für stabile Akkumulationsbedingungen zu schaffen, ohne freilich die Grundlagen der Staatsordnung und der Eigentumsverhältnisse anzutasten: die CHP unter der Regie von Kemal Kılıçdaroğlu[15]. Kurz nach der Wahl ließ der Vorstand von TÜSIAD dann verlauten, man erwarte in der kommenden Legislaturperiode eine neue Verfassung, auf deren Grundlage die EU-Orientierung der Türkei weiter vorangetrieben, die Arbeitslosigkeit reduziert und die ökonomische Stabilität garantiert seien. Auch der Vorsitzende des traditionell AKP-treuen Unternehmerverbands MÜSIAD, in dem sich hauptsächlich das islamische Kapital kleiner und mittlerer Betriebe organisiert, Ömer Cahid Vardan, betonte vor den Wahlen das starke Interesse seines Verbandes an einer „Atmosphäre der Stabilität“. Zugleich brachte Vardan die Befürchtung zum Ausdruck, politische Instabilität nach den Wahlen könne eben diese Atmosphäre gefährden[16]. Diese Aussagen lassen sich so und so lesen: entweder gilt die AKP in Unternehmerkreisen auch weiterhin als Garant der Stabilität. Oder das Kapital befürchtet, das repressive Auftreten der Regierung in den vergangenen Wochen berge die Gefahr zunehmender Instabilitäten. Nach den Wahlen positionierte sich dann aber zumindest MÜSIAD sehr eindeutig: der glatte Wahlsieg der AKP verlange die Unterstützung der „Praktiken und Politiken der Regierung“[17] – eine bezeichnende Aussage gegenüber der siegestrunkenen AKP mit parlamentarischer Mehrheit.

Repressionen gegen missliebige Kräfte

Ob in der Türkei allerdings weiterhin von Stabilität (im Sinne des Kapitals) die Rede sein wird, ist angesichts der sich zuspitzenden sozialen Konflikte und der ausgreifenden Repression der Polizei gegenüber oppositionellen oder auch nur regierungskritischen Kräften mehr als fraglich. Die vergangenen Monate zeichneten ein anderes Bild von der bis vor kurzem noch international hofierten Regierungspartei. Im Folgenden seien ein paar exemplarische Vorfälle genannt, die einen Eindruck von den gegenwärtigen Verhältnissen in der Türkei liefern:

Der Herausgeber der der AKP bislang insgesamt zugeneigten Tageszeitung Taraf, Ahmet Altan, kassierte vor kurzem infolge einer kritischen Kolumne über Erdoğans autoritäres und größenwahnsinniges Gebaren prompt eine Strafanzeige des Ministerpräsidenten. Dieser hatte, auch das wurde von Altan und vielen anderen heftig kritisiert, wenige Wochen zuvor eine Skulptur an der türkisch-armenischen Grenze abreißen lassen, die als Symbol für die (äußerst belastete) Freundschaft beider Länder betrachtet wurde. Die Skulptur, an der der renommierte türkischer Bildhauer Mehmet Aksoy seit Jahren arbeitet, stellte nach Erdoğans persönlichem Geschmack eine „hässliche Monstrosität“ dar.

Der regierungskritische Journalist Ahmet Şık wollte ein Buch veröffentlichen über die (allseits bekannte) Infiltrierung der Polizei durch die der AKP nahestehende religiöse Gemeinschaft des Predigers Fethullah Gülen. Prompt wurde Şık unter dem fadenscheinigen Vorwurf festgenommen, Mitglied von Ergenekon zu sein, einem Geheimbund aus hohen Militärs, Kadern der Bürokratie und laizistischen Intellektuellen, die mit geplanten Anschlägen eine Intervention des Militärs und den Umsturz der AKP anvisiert haben soll. Dabei hatte sich die Anklageschrift gegen vermutete Ergenekon-Mitglieder teilweise sogar auf vorangegangene Untersuchungen von Şık gestützt. Sein Manuskript wurde beschlagnahmt, die Computer des Verlags durchforstet, das Buch verboten. Şık steht nur exemplarisch für eine Reihe von kritischen JournalistInnen, SchriftstellerInnen und ÜbersetzerInnen, die in den vergangenen Monaten festgenommen wurden. Die Türkei nimmt auf dem internationalen Index der Pressefreiheit hinter Staaten wie Jordanien, Bangladesch und Marokko den 138. Platz (von 178 Rängen) ein. Die Botschaft der Regierung an missliebige Stimmen ist unzweideutig: potentiell kann jede/r Ergenekon sein.

Bei einer Protestveranstaltung gegen Ministerpräsident Erdoğan in Ankara stieg die Aktivistin Dilşat Aktaş auf einen Polizeipanzer und wurde daraufhin von Polizisten so zusammengeschlagen, dass sie nun laut Attest für sechs Monate arbeitsunfähig ist. Protestierende Studierende wurden von Regierungsstellen kriminalisiert, DemonstrantInnen in der Kleinstadt Hopa an der georgischen Grenze wurden bereits vor Erdoğans Ankunft zur einer Wahlkampfveranstaltung derart mit Tränengas eingedeckt und zusammengeprügelt, dass ein Lehrer an den Folgen eines Herzinfarktes starb und zahlreiche TeilnehmerInnen ärztlich bestätigte Spuren grober Misshandlung aufwiesen. Die zu beobachtende Tendenz während der Wahlkampfwochen, jeglichem Protest die Legitimität abzusprechen und im Gegenzug die zunehmenden polizeiliche Übergriffe unverfolgt zu lassen, scheint sich vordergründig ausgezahlt zu haben: Erdoğan symbolisiert die harte Hand der AKP, die die Dinge unter Kontrolle hat und sich weder von Kurden noch von linken Chaoten auf der Nase herumtanzen lässt.

Ein interessantes Paradox ist, dass es der AKP trotz aller Repression gegen missliebige Kräfte auch an diesem Punkt noch zu gelingen scheint, sich zugleich als durchgreifende starke Regierung wie auch als authentische Stimme der Unterdrückten zu präsentieren: ihr Duktus bleibt der einer Partei der islamisch-anatolischen Peripherie, die bislang im kemalistischen Staatsapparat der säkularen Eliten nicht vertreten gewesen sei. Ob das tatsächlich zutrifft oder nicht, ist von nachrangiger Bedeutung. Entscheidend ist die Wahrnehmung der AKP in größeren Teilen der Bevölkerung. In ähnlicher Weise war es der AKP bereits in ihrer Kampagne zum Referendum über die Verfassungsänderungen 2010 gelungen, die Zustimmung zu den Änderungen in erster Linie zu einer Absage an das „alte Regime“ militärischer Vormundschaft durch die Kemalisten zu stilisieren. Sicherlich konnte die AKP auch in diesen Wahlen noch ein bisschen auf der Erfolgswelle des Referendums reiten.

Den Nimbus der authentischen „Stimme des Volkes“, der Opposition aus Versehen an der Macht, verliert die AKP, sobald sie sich im Parlament auf die Bündnispolitik mit anderen Parteien einlassen muss, anstatt einfach durchzuregieren. Sicherlich ist auch die AKP von der starken Präsenz einer linkskurdischen Parlamentsfraktion überrascht worden, an der sie nun nicht mehr vorbeikommen wird. Sollte die AKP an ihrem Projekt einer neuen Verfassung festhalten, wird sie sich mehr als bislang auf eine parlamentarische Opposition einlassen müssen, ohne zugleich deren außerparlamentarische Kräfte aus dem Weg prügeln zu lassen.

2.) Versuche ‚von unten’: der Wahlblock

Konturen des Wahlblocks

Der im April offiziell gegründete „Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ stellt ein breites Bündnis linker Gruppen und Parteien unter Führung der prokurdischen BDP dar. Beteiligt sind neben dieser die Partei der Arbeit (EMEP), die Partei der Bewegung der Arbeit (EHP), die Partei für Gleichheit und Demokratie (EDP), die Revolutionäre Arbeiterpartei (DİP), die trotzkistische DSİP, die Brüderlichkeitspartei der Arbeitenden (İşçilerin Kardeşliği Partisi), die Sozialistische Partei der Arbeitenden (İşçilerin Sosyalist Partisi), die Bewegung Demokratie und Freiheit (Demokrasi ve Özgürlük Hareketi), die Arbeiterfront (İşçi Cephesi), die Gruppe KÖZ, die Bewegung der Sozialistischen Einheit (Sosyalist Birlik Hareketi), die Bewegung für die Partei der Sozialistischen Zukunft (Sosyalist Gelecek Parti Hareketi), die Sozialistische Plattform für Solidarität (SODAP), die Plattform für Gesellschaftliche (Toplumsal Özgürlük Platformu) und die Gruppe Realität der Türkei (Türkiye Gerçeği).

Während wie erwähnt, die BDP als einzige im Parlament vertretene Partei hervorsticht, die zahlreiche Frauen in Führungspositionen und als Abgeordnete vorweisen kann, gilt das für die von ihr unterstützten Kandidaturen aus der sozialistischen Bewegung nicht: unter ihnen gibt es keine Frauen, es waren auch nie welche im Gespräch. Allerdings ist die Gesamtanzahl der sozialistischen Abgeordneten auch gering: gewählt wurden der EMEP-Vorsitzende Abdullah Levent Tüzel und Sırrı Süreyya Önder in Istanbul sowie Ertuğrul Kürkçü in Mersin.

Die Neo-TKP[18], der Verein Halkevleri und die nach der Abspaltung der EDP 2009 wieder etwas stärker nationalistisch ausgerichtete Rumpf-ÖDP blieben dem Unternehmen fern. Die v.a. in studentischen Kreisen starke Neo-TKP trat in der Gesamttürkei an und musste mit insgesamt 80.000 Stimmen einen leichten Verlust hinnehmen. Die ÖDP trat allein zu den Wahlen an, wurde dann aber durch die politische Entscheidung des Hohen Wahlrats YSK vom 18. April an der Teilnahme gehindert. Wie auch Parteivorsitzender Alper Taş einräumte, konnte sich die ÖDP gegen diese nicht verwahren, da sie nicht über die Massenbasis der BDP verfügt[19]. Die EMEP stellte neben ihrer Beteiligung am Wahlblock überall dort KandidatInnen auf, wo dieser keine hatte und kam türkeiweit auf etwa 26.000 Stimmen.

Vorgeschichte des Wahlblocks: Klasse vs. Identität und – Frieden?

Das Geschehen auf der Linken außerhalb des Wahlblocks blieb also marginal. Der Block selbst hingegen erhielt viel Aufmerksamkeit in linken Medien und auch die Bedeutung, die seiner VertreterInnen ihrem gemeinsamen Tun selbst vor den Wahlen zuschrieb, könnte größer nicht sein. Der inzwischen gewählte Istanbuler Abgeordnete Önder beschwor diese Bedeutung während einer Wahlveranstaltung am 5. Juni: „Dieser Wahlblock drückt das aus, was auch Deniz Gezmiş’ [1972 zum Tod verurteilter und erhängter Studentenführer, d.A.] letzte Worte am Schafott waren: ‘Hoch lebe das kurdische und das Türkische Volk!’“ Nach den Wahlen kam prompt die Frage auf, ob nun eine Situation wie 1965 entstanden sei, als die Türkische Arbeiterpartei mit 15 Abgeordneten ins Parlament einzog und, gestützt auf erstmalig durch die Verfassung von 1961 gewährte demokratische Rechte, eine Blütezeit linker Politik begann. Die im Wahlmanifest des Blocks geäußerte Absicht jedenfalls, Frauen- und Jugendorganisationen von Parteien in „autonome Räte“ umzufunktionieren[20], taugt dazu, all jenen die Haare zu Berge stehen lassen, denen die Entwicklungen der 1970er Jahre Grund genug war, den Putsch von 1980 gutzuheißen: waren es doch eben diese, die damals zu entscheidenden Mobilisierungsfaktoren wurden.

Die Bedeutung des heutigen linkskurdischen Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit lässt sich derzeit anhand des Prozesses seines Zustandekommens, seiner Zusammensetzung, seiner Programmatik und nun auch im Lichte der Wahlergebnisse diskutieren – noch nicht anhand seiner politischen Praxis als inner- und außerparlamentarisch agierender Zusammenschluss.

Die Vorbehalte der außen vor gebliebenen ÖDP, die zunächst versucht hatte, ein Wahlbündnis entlang der Positionen zum Verfassungsreferendum 2010 zu gründen, verweisen auf eine zentrale politische Bruchlinie. Die ÖDP kritisierte, dass nachdem die Linke aus der Referendumsdiskussion stark gespalten hervorgegangen war, alle drei Positionen – ‘Nein’, ‘Ja, aber es reicht nicht’ und ‘Boykott’ – zu diesem im Wahlblock vertreten seien; dies sei ‚inkonsequent‘.[21] Grundlage dafür ist die Annahme, das Verfassungsreferendum von 2010 sei vor allem als eine Abstimmung ‚für oder gegen die AKP‘ richtig interpretiert. Ohne diesem Argument hier mit der gebotenen Sorgfalt begegnen zu können: die Gegnerschaft zur AKP ist kein ausreichendes Kriterium, um eine gemeinsame „Front“, wie mit dem Block beabsichtigt, begründen zu können.

Sehr viel augenfälliger ist ein anderes, positives Kriterium, das diejenigen linken Gruppen verbindet, die im Wahlblock verblieben und die Zusammenarbeit mit der kurdischen Bewegung intensivierten, und dem sich die heutige ÖDP völlig verschließt. Eine urlinke Grundlage für den verstärkten Bezug auf die kurdische Bewegung ist es, Klassenfrage und (ethnische) Identität als aufeinander verweisend anzusehen und darauf aufbauend Politik zu machen. Die arbeitende Klasse sei „kurdisiert“, so fasst es der Regisseur Sırrı Süreyya Önder kurz: „Ich gehe umher und schaue es mir an; wo es Drecksarbeit zu machen gibt, sind die Kurden da. Gibt es denn wirklich niemand aus Çorum unter denen, die Jeans mit dem Sandstrahlverfahren bleichen? Nein, niemand. Warum? Sind Kurden so scharf auf eine Staublunge? Nein, es geht darum, dass ein klein bisschen mehr Geld dabei herausspringt und für Kurden inzwischen der Tod nicht mehr die gleiche Bedeutung hat wie für die anderen. Es ist eine Schande. Die Klasse ist soweit kurdisiert; die bereit stehende billigste Arbeitskraft ist kurdisch, und dann gehst du hin und machst Klassenpolitik, indem du diese Identität ignorierst oder übersiehst! Schaut euch nur die an DİSK angeschlossenen Gewerkschaften an, das reicht. Ich selbst habe dort gearbeitet und bin Mitglied bei Sine-Sen [FilmerInnengewerkschaft, d.A.]. Die Führung einer ganzen Reihe von Gewerkschaften besteht vorwiegend aus kurdischen Leuten! Etwa weil sie so gut organisieren können? Nein, die Charakteristik der Basis führt zu diesem Ergebnis. So ist die Lage. Uns bleibt nur, sie zu erkennen.“[22]

Dieses Erkennen führt auf weitläufige Pfade und in einen politischen Prozess mit ungewissem Ausgang. Sebahat Tuncel, die im Laufe der letzten Legislaturperiode als eine der fleißigsten Abgeordneten überhaupt hervortrat, illustriert dies, indem sie sich mittels vieler Anfragen und Anträge für die Anerkennung der Vergiftungen durch das Sandstrahlverfahren als Berufskrankheit einsetzte und parallel immer wieder die verheerende Situation, wo der Verschleiß von Menschenleben, auf billige Arbeitskraft reduziert, sich in regelmäßig auftretenden tödlichen Arbeitsunfällen ausdrückte. Die Erzählungen des frischgebackenen Abgeordneten Levent Tüzel davon, wie er im Wahlkampf immer wieder von arbeitslosen oder prekär beschäftigten kurdischen Jugendlichen aufgefordert wurde, sich für die Anerkennung ihrer Muttersprache und ihrer kulturellen Rechte stark zu machen[23], kleidet das Szenario weiter aus – sich für Frieden einzusetzen, ist derzeit die erste und dringlichste Form der Klassensolidarität in der Türkei.

Wandel der kurdischen Bewegung

Es sind also die allereinfachsten Wahrheiten, die die Frage nach der Bedeutung des Wahlblocks beantworten helfen: das größte ArbeiterInnenelend erleben Kurdinnen und Kurden. Und seit nunmehr 30 Jahren wird ein Krieg zwischen einem hochgerüsteten Staatsapparat und der Bevölkerung einer unterentwickelten Region geführt, dem Zigtausende zum Opfer gefallen sind.

Die Repression gegen den linkskurdischen Block reichte von der Durchsuchung von Wahlbüros und deren Verwüstung bis hin zum Versuch der Wahlbehörde YSK, den Einzug von KandidatInnen zu verhindern. Mitte Mai verlautete Aysel Tuğluk, führendes DTK-Mitglied und gleichzeitig eine der AnwältInnen Öcalans, kurzfristig, die BDP erwäge einen Boykott der Wahlen angesichts der Repression gegen den Block.[24] Der als Kandidat erfolgreiche kurdische Politiker Hatip Dicle konnte aufgrund einer Verurteilung nicht ins Parlament einziehen.[25] Ohnehin konnten die Chancen durch den Ausschluss der BDP von den Hunderten Millionen Lira Wahlunterstützung, die den anderen Parteien gewährt wurde, ungleicher nicht sein. 7000 Lira waren allein pro unabhängiger Kandidatur zu entrichten.

Die Atmosphäre während des (Vor-)Wahlkampfs spitzte sich verschiedentlich zu, und immer wieder zeigte sich, dass es in diesem Jahr auch darum geht, ob und wie die kurdische Bewegung mit all ihren Organen, Entscheidungszentren und Facetten, sofern die offizielle Politik die Chance dazu eröffnet, zur Zivilität finden kann. Es geht sowohl darum, einer unleugbar den Boden der militärischen Gegenwehr bildenden Gewaltkultur abzuschwören als auch darum, sich gegenüber illegitimer staatlicher Gewalt das Recht auf Formen der Gegenwehr nicht absprechen zu lassen.

Im Vorfeld der Wahlen waren Uneinigkeiten in der kurdischen Bewegung hinsichtlich der Frage, wie es weitergehen kann, überdeutlich, und ebenso, dass die Bewegung mit neuen Aktionsformen die eigene Transformation probt: Noch im November hatte Abdullah Öcalan den beliebten Oberbürgermeister Diyarbakırs, Osman Baydemir, für dessen Aussage, die Zeit der Waffen sei nun vorbei, getadelt. Im März hatte die PKK zunächst ihren einseitigen Waffenstillstand beendet; von den Medien fast gänzlich verschwiegen, griff sie später in Kastamonu den Konvoi Erdoğans an. Der in Deutschland lebende populäre kurdische Sänger Sivan Perwer, der Kontakte mit Ankara aufgenommen hatte und in die Türkei zurückzukehren versuchte, wurde als „Kollaborateur“ bezeichnet. Perwer hatte die PKK als „demokratiefeindlich“ bezeichnet und ihren Alleinvertretungsanspruch infrage gestellt. Er soll deshalb massiv bedroht worden sein und setzte seine Rückkehrpläne nicht um. Es ist gleichzeitig absehbar, dass sich auch die PKK-Führung auf eine zivile Lösung des Konflikts vorbereitet: Anfang Juni wurde bekannt, dass der derzeitige Führer der PKK, Murat Karayılan, mit Zustimmung Öcalans ein Buch unter dem Titel ‚Anatomie eines Krieges‘ verfasst hatte, das in Kürze auf dem türkischen Markt zu haben sein wird und umfassende Eingeständnisse und Selbstkritik der Organisation enthält, v.a. was die Ermordung von ZivilistInnen in den 1980er Jahren angeht.[26] Damit wird offenkundig, wie die PKK mittels brachialster Gewalt die Autorität der Stämme zu brechen versuchte, um eine Führungsrolle einnehmen zu können. Ein Übergang zum Zivilen bedeutet Machtverlust für die PKK und ihre Transformation.

Bereits im März wurde mit der Kampagne des zivilen Ungehorsams und der offenen Freitagsgebete begonnen; Mitte Mai stellte sich Osman Baydemir dann an die Spitze eines spontanen Grenzübertritts von 300 Menschen zur Bergung gefallener PKK-Kämpfer – ein Ereignis, das in den Medien weitestgehend totgeschwiegen wurde und an dem sich der Politisierungsgrad der Bevölkerung ablesen lässt. Die in Diyarbakır aufgestellte und inzwischen gewählte Leyla Zana rief zu „Stimmen für die Guerilla“ auf; der betagte türkische Literat Vedat Türkali übermittelte in einem Fernsehauftritt beim Sender ntv seine Grüße an Abdullah Öcalan. Dies nahm die bekannte Menschenrechtsanwältin Eren Keskin in einem Artikel in der Tageszeitung Özgür Gündem auf, stimmte Zana zu und beglückwünschte Türkali zu seiner Haltung, die „frei von Selbstzensur“ sei.[27] Daraufhin kam es zu einer teils hitzigen Diskussion v.a. in pazifistischen, feministischen antimilitaristischen Kreisen über verschiedene mailinglists. Etliche Beteiligte brachten zur Sprache, die Äußerung Keskins und diese gutzuheißen, verrate eine Haltung, die Gewalt kategorisch ablehne. Der überwiegende Teil der Beteiligten verwies jedoch auf die erdrückende Verhältnisse des Kriegs und die eigenen politischen und menschlichen Verbindungen zu Guerilla und kurdischer Bewegung; Keskins „Meine Stimme für die Guerilla“ wurde als Chiffre für den Wunsch, Bedingungen für die Möglichkeit der Rückkehr von den Bergen zu schaffen, mehrheitlich akzeptiert.

Möglich ist, dass die von der kurdischen Bewegung propagierte und bereits jetzt mit zahlreichen Organisierungsansätzen vorbereitete ‘demokratische Autonomie’ nach den Wahlen einseitig verkündet wird. Stichdatum ist wie von Abdullah Öcalan vorgegeben, der 15.Juni. Und so verlautete Filiz Koçali, gemeinsam mit Hamit Geylani neue Co-Vorsitzende der BDP, auf der letzten großen Wahlkampfveranstaltung in Istanbul am 5. Juni vor zehntausenden Teilnehmenden: „Wir sind vorbereitet – auf das Gute wie auf das Schlechte.“

Mit der Kampagne des zivilen Ungehorsams versuchten die kurdischen Akteure etwas qualitativ Neues. Bengi Yıldız, mittlerweile gewählter Abgeordneter aus Batman, beschrieb den Wandel der Aktionsformen so: „Nach dreißig Jahren bewaffnetem Kampf kann man nicht in einem Tag eine Bewegung entwickeln, die alle Elemente des zivilen Ungehorsams in sich vereint oder zu hundert Prozent ghandianische Züge trägt. Ziviler Ungehorsam ist eine Kultur, es ist eine Frage der Zeit. Und die Vertreter des Staates stört es, wenn sich so eine Kultur hier verankern kann. Sie tun, was sie können, um das zu erschweren, aber meiner Meinung nach muss man beim Thema ziviler Ungehorsam beharrlich sein. Was zu unserer Gegend passt, ist die Kultur des zivilen Ungehorsams mit der der Serhildans [kurdisch für Volksaufstände, v.a. Anfang der 1990er Jahre, d. A.] zu einer Synthese zu verbinden. (…) Das heißt, vor den Panzern des Staates nicht wie ein Opferlamm den Hals hinzuhalten. Ziviler Ungehorsam kann nicht die Essenz der kurdischen Bewegung sein, sondern ein Teil von ihr.“[28] Diese Entwicklungen und Auseinandersetzungen werden weitergehen – sofern ihnen eine erneute militärische Lösungsstrategie nicht die Luft abdrückt.

Verheißungen des Wahlblocks: vielstimmig, selbstkritisch?

Alevitische Verbände solidarisierten sich mit dem Block (FN), repräsentieren allerdings nur einen Teil der alevitischen Minderheit, der traditionell eine Nähe zur CHP bescheinigt wird und die heute ihre Stimmen auf verschiedene Parteien verteilen. Ein vereinzeltes, jedoch schlagendes Beispiel für die allein durch den Block im türkischen Parlament verwirklichte politisch-kulturelle Pluralität ist sein Verdienst, das erste Mal seit 1960 mit dem Abgeordneten Erol Dora aus Mardin einen aramäischen Christen ins Parlament entsandt zu haben.

Dass der bekannte kurdische Politiker Mustafa Avcı dem Sozialisten Levent Tüzel zugunsten auf seine Kandidatur im gleichen Istanbuler Wahlkreis verzichtete, ist ein weiteres Indiz dafür, wie wichtig den AkteurInnen des Blocks war, wechselseitig füreinander einzustehen, damit die Allianz zustande kommen konnte – wobei v.a. die kurdische Seite nichtkurdische Linke in die Lage versetzt hat, politisch etwas zu gestalten.

Sırrı Süreyya Önder, mit Rekordergebnis gewählt im 2. Istanbuler Wahlkreis und bekannt als charismatisch und allürenfrei, zudem Kolumnist erst bei der Zeitung Radikal und dann bei Özgür Gündem, wurde von den Vorarbeiten zu einem Film über das antialevitische Massaker in Kahramanmaraş 1978 weggeholt und aufgestellt. Als Kandidat trat er neben der nachdrücklich vertretenen Einsicht in die Verquickung von Klasse und (kurdischer) Identität als raison d’etre des Blocks v.a. durch zwei Dinge hervor: erstens suchte er in Geschlechterfragen ausdrücklich Rat bei Feministinnen und bezog sich so gut wie als einziger in Ansprachen und Kommentaren auf Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle. Zweitens etablierte er etwas völlig im Kontrast zur maskulinistisch geprägten Kultur der Linken stehendes: Selbstkritik. Seine ehrlichen Entschuldigungen bei den ArmenierInnen für ein oberflächliches Vorgehen in der Geschichtsschreibung über die Figur ‚Kürt Musa‘ brachte verstörende Fakten auf die Tagesordnung. Seine Entschuldigung bei Feministinnen für sexistischen Sprachgebrauch und bei LGBTT people für mangelnde Sensibilität und „Nähe“ zu ihrer Situation ist unvermeidlich amüsant, so sehr bricht sie mit herrschenden Codes.[29] Der Gebrauchswert des Abgeordneten Önder, dem mensch eine Karriere als linkem Popstar voraussagen kann, insbesondere für feministische Anliegen ist hoch – dass sich sein Politikstil verbreitet, eine etwas verfrühte Hoffnung.

Zwei Tage vor den Wahlen verlauteten auch anarchistische und antiautoritäre Kreise aus Ankara und Istanbul ihre Unterstützung für den Wahlblock. Die spezifischen politischen Bedingungen und Erfordernisse vor Augen, komme die Stimmabgabe bei diesen Wahlen einer Solidarisierung gleich und drücke eine politische Haltung aus, so die Beteiligten. Der Block reduziere zudem politische Arbeit nicht auf die parlamentarische, sondern sehe die „Selbstorganisation der Gesellschaft“ als wichtigste Form der Politik. Er sei weder „zentralistisch“ noch „nationalstaatlich“ orientiert. Aufgrund dessen werde man das Bündnis unterstützen, hieß es in der Presseerklärung der Gruppe.[30]

In seinem Programm, das ungekürzt auch ins Deutsche übersetzt vorliegt[31], hat der Wahlblock drei Hauptschwerpunkte gesetzt: ‚Demokratisierung‘, ‚Wirtschaft, Bildung und Gesundheit‘ und ‚Frauen‘. Die ‚demokratische Autonomie‘ wird unter ersterem behandelt, notwendige Veränderungen in der Landwirtschaft und eine Bodenreform werden im zweiten Teil ausführlich und detailreich erläutert. Unter fünf weit weniger ausführlich behandelte Themen findet sich auch ‚Außenpolitik‘ – hier wird bemerkt, dass die Verhandlungen zum Beitritt zur EU weiterhin, ausgehend jedoch von Punkten wie dem Austritt aus der NATO, der Schließung aller ausländischen Militärstützpunkte und der Gründung einer Konföderation mit den Völkern des Nahen Ostens, des Kaukasus, Nordafrika und Südostasiens, mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft geführt werden sollen.

Die ‚demokratische Autonomie‘ soll nicht nur die friedliche Lösung der kurdischen Frage herbeiführen, sondern auch einen „starken Ansatzpunkt (…) zur Realisierung einer modernen freiheitlichen Basisdemokratie, die die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft wahrnimmt“ (ebd.,6), liefern. Eingeleitet wird mit der Feststellung, die demokratische Autonomie sei „im Grunde ein Frauenprojekt“ (ebd., 4).

Das auch gemäß Aufteilung zentrale Frauenkapitel spricht abschnittsweise allzu idealistisch von (staatlicher oder militaristischer) „Mentalität“, während es andererseits voraussetzt, die „Quelle aller Ungleichheiten“ sei „die Ungleichheit zwischen Mann und Frau.“ Zudem gemahnt es an vielen Stellen an den ökofeministischen Diskurs mit seinen bedenklichen Idealisierungen, etwa wenn bekannt wird, „mit dem Einfühlungsvermögen der Frau“ gegen eine „Krieg und Hass schaffende Politik“ kämpfen zu wollen, und, wie sich durch die Ideologie des Programms durchzieht, eine Nähe zwischen Frauen und Natur herbeigeschrieben wird. Die im Manifest geübte Staatskritik, die auch den Vorschlag ‚demokratisch Autonomie‘ prägt, ist merkbar an feministischem Denken geschult. Hier stehen also theoretische Stränge noch unverbunden nebeneinander, das Kapitel ist mehr Zivilisationskritik denn konsequente Kritik geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung. Die Bedeutung, die einer Veränderung von Geschlechterrollen zugemessen wird, ist jedoch unmissverständlich. Und die mystifizierenden Ansätze werden durch – durch die BDP-Praxis verbrieften – Forderungen nach einer Frauenquote von 40%, nach Frauenkommunalräten bis auf Dorfebene und der unbedingten Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen im Bereich Gewalt gegen Frauen geerdet. Der im Vorfeld der Wahlen von der Praxis beeindruckte Sozialist Önder kommentierte den Status Quo mit „die kurdischen Frauen haben insofern ihre bürgerliche Revolution vollendet.“[32]

Die Ebene des Wahlmanifests – das nur wenig gelesen werden wird, jedoch mit Sorgfalt geschrieben wurde – und die der realen politischen Schritte abgleichend, ist durch Anknüpfung an diese Praxis die vom Block vertretene Geschlechterpolitik unbeirrbar darauf gerichtet, Frauen konkret zu ermächtigen und – wenn auch erst in Ansätzen – Männergewalt als den sozialen und politischen Zusammenhalt zerstörend anzuprangern.

Vor diesem Hintergrund ist auch eine Bemerkung zu einer sich als Ein-Punkt-Angelegenheit gerierenden, von allen übrigen gesellschaftlichen Problemlagen abstrahierenden Frauenpolitik überfällig: Der langjährig aktive Verein zur Aufstellung weiblicher Kandidatinnen, KA-DER, stellte Monate vor der Wahl die Forderung nach einem paritätisch besetzten Parlament auf, also nach 275 Sitzen für Frauen. Während auch unabhängige Feministinnen dieses Mal von der Aufstellung von Kandidatinnen in ihren Stammesgebieten absahen, hat sich KA-DER nach der zitierten Forderung – die mit Plakaten beworben wurde, auf denen sterile Erfolgsfrauen dominierten und die aufgrund ihrer Realitätsferne noch nicht einmal als Provokation ernst zu nehmen war – auf die Unterstützung einer winzigen „Initiative Frauen-Partei“ verlegt, die ihre Unterstützerinnen Unsummen für einige wenige Kandidaturen kostete, politisch nichts bewegen und ihre Anliegen ebensogut in existierenden Parteien vertreten kann.[33] Diese Kombination zeugt von einer unerträglichen Ignoranz gegenüber dem allenthalben zugänglichen Wissen, dass in der Türkei derzeit sowohl quantitativ als auch qualitativ betrachtet, substanzielle Veränderungen und Herausforderungen gegenüber der gemeinhin als ‚männlich dominiert‘ bezeichneten herkömmlichen politischen Kultur fast nur von der kurdischen Bewegung ausgehen. Die prokurdische Partei zeigt seit Jahren in Parlament und auf Stadtverwaltungsebene mit starken Frauenfiguren, Frauenquoten und der in politische Vorfeld- und Schwesterorganisationen ausgeweiteten Innovation des Co-Vorsitzes, was eine wirkliche Provokation für die besagte politische Kultur ist. Frau hätte besser daran getan, sich zu dieser Praxis, auch kritisch, ins Verhältnis zu setzen.

VertreterInnen des Blocks wurden oft gefragt, ob die Öffnung der BDP für religiöse und bürgerliche kurdische Kräfte und die Aufstellung entsprechender Kandidaten nicht die sozialistische oder linke Ausrichtung der kurdischen Bewegung in Frage stelle. Der in Batman aufgestellte und inzwischen gewählte Bengi Yıldız begegnete dem vor den Wahlen wie folgt: „Die kurdische Bewegung ist eine nationale Volksbewegung. (…) Wir sind in der Lage, 30 bis 35 Abgeordnete ins Parlament zu schicken – wenn dann von diesen zwei oder drei andere Richtungen [als die linke, d.A.] vertreten, ändert das nichts am Grundcharakter der Bewegung. (…) Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Bewegung sowohl einen sozialistischen Charakter hat, als das sie auch die Bewegung eines unterdrückten, kolonisierten Volkes ist. In einem kolonisierten Volk gibt es konservative, sozialistische, nationalistische und liberale Kräfte. Wir haben nicht den Luxus, uns zu verhalten als hätten wir einen eigenen Staat gegründet und müssten über dessen Regierungsform bestimmen. Aber wie gesagt, niemand soll glauben, die Hauptcharakteristik der Bewegung werde sich ändern. Ganz im Gegenteil: die von uns aufgestellten Kandidaten werden die sozialistische Grundströmung, von der ich sprach, noch stärken. Wenn wir heute über zwei bis drei Millionen Stimmen verfügen und dieser noch eine weitere Million hinzufügen, dann haben wir auch diese Grundausrichtung gestützt. So bekommen auch jene außerhalb der eigenen Kreise eine Chance, zu deuten, was Sozialismus ist. Man macht keine sozialistische oder linke Politik, indem man sagt, ‚wir haben zwei Millionen Stimmen, das reicht uns‘.“

Und die Öffnung für religiöse Politiker ist, wie im Fall des Abgeordneten Altan Tan (Diyarbakır), nicht immer bloß gleichbedeutend mit einer Öffnung nach rechts. Gegen die nationalistische Politik der türkischen Religionsbehörde, die in religiöse Zeremonien die Loyalität zum Staat zu mischen versucht und die der Wahlblock laut Manifest gern abschaffen möchte, hat Tan hundertprozentig religiöse Einwände. Gleichzeitig plädiert er dafür, die „segensreiche“ Aufstellung des Christen Dora als gerade für die kurdische Bewegung positive Entwicklung zu würdigen und den mit diesem Schritt begonnenen Prozess weiterzuführen.[34]

Fazit

Um angesichts von Entfremdung und Feindseligkeit an der Aussöhnung von kurdischer und türkischer Bevölkerung mitzuarbeiten, kann die nicht-kurdische Linke an unterschiedlichen Punkten inner- und außerparlamentarisch ansetzen.

Sie kann sich für eine möglichst umfassende politische Amnestie einsetzen. Je mehr Guerilleros/as aus den Bergen zurückkommen, desto höher liegen die Chancen für eine Aufarbeitung des Krieges durch alle Beteiligten.

Die Linke kann gegenüber einer quer durch alle Generationen politisierten Bevölkerung an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie Klassen- und kurdische Frage auf allen Ebenen zusammenbringt.

Sie kann für die Abschaffung der 10%-Hürde und für demokratische Standards streiten.

Sie kann innerhalb einer neuen Bündniskultur Machtverzicht üben. Wenn sich in Zukunft, ein wenig zugespitzt, metropolitane linksintellektuelle Schnauzbärte des Öfteren einmal etwas von leseunkundigen, des Türkischen kaum mächtigen Frauen sagen lassen müssen, kann das der eigenen politischen Kultur und Demokratisierung nur gut tun.

Bislang kam in der Türkei der Bezug auf Religion von rechts, um sich die Loyalität frommer Teile der türkischen und kurdischen Bevölkerung für ein konservatives Projekt zu sichern. Im Rahmen der Öffnung der BDP bspw. mit Blick auf die „zivilen Freitagsgebete“ wird die Bedeutung von Religion sichtbar. Die Linke kann sich auf die marginal vorhandenen Ansätze, Religiosität von links aufzugreifen, einlassen und sich dieser Herausforderung stellen.

Die nicht-kurdische Linke hat keine starke außerparlamentarische Basis, wird aber von Kurdinnen und Kurden ins Parlament gewählt. Aus dieser Erkenntnis kann eine neue Kultur der Zusammenarbeit erwachsen. Aus eigener Kraft kann die nicht-kurdische Linke momentan jedenfalls nichts bewegen, auch die Gewerkschaften in der Türkei haben aufgrund ihres niedrigen Organisationsgrades nur geringe politische Relevanz. Ohne den Versuch eines gemeinsamen Vorgehens mit der kurdischen Bewegung – eingedenk der Ungewissheit, wie diese sich weiterentwickeln wird – sieht die Lage für die verbleibende nicht-kurdische Linke düster aus.

Die fortschreitende Selbstorganisation der kurdischen Bevölkerung und die Option einer „demokratischen Autonomie“ bergen vielfältige demokratische Impulse. Und ein BDP-geführter Block mit 36 Abgeordneten lässt sich nicht mehr glaubwürdig als Vertretung von „Terroristen“ oder als „regionale Kraft“ abqualifizieren. Diese Anzahl birgt, neben vielen anderen Faktoren, die die kommenden Ereignisse bestimmen werden, die Chance, dass nicht noch weitere Generationen im Krieg aufwachsen müssen. Unklar ist, wie die politischen Entwicklungen nach dem 15. Juni 2011 aussehen werden. Mit diesem Datum in Zusammenhang steht zum einen ein möglicher Rückzug Öcalans aus der Politik, sollte bis dahin kein substantielles Signal von Regierungsseite an die kurdische Bevölkerung gesendet worden sein, zum anderen die mögliche Ausrufung einer demokratischen Autonomie in den kurdischen Gebieten. Wie dies vom türkischen Staat aufgefasst wird, ist angesichts der während des Wahlkampfes beobachtbaren verhärteten nationalistischen Rhetorik ungewiss.

Die Autorinnen:
Anne Steckner ist ab 1.7.2011 Promotionsstipendiation der RLS. Thema der Dissertation: «Neoliberal-Islamische Synthese: Kapitalismus und Religion in der Türkei unter der AKP».
Corinna Trogisch ist ehemalige Stipendiatin der RLS und promovierte zum Thema «Sozialistische Feministinnen in der Frauenbewegung der Türkei - Wirkungsgeschichte und politische Gestaltungspotentiale».

* * *
[1] http://www.emekdunyasi.net/ed/siyaset/12858-kurtce-konustu-diye-oy-kullandirilmadi; http://www.emekdunyasi.net/ed/siyaset/12866-uluslararasi-heyetler-cok-sayida-ihlal-tespit-etti (diese und alle folgenden Internetquellen zuletzt abgerufen: 13. Juni 2011)
[2] http://www.harald-weinberg.de/presse/index.php
[3] Derzeit liegt der Mindestlohn mit netto 600 Lira unterhalb der Hungergrenze. http://www.emekdunyasi.net/de/aktuell/10192-kommentare-zur-festlegung-des-mindestlohns-fur-2011
[4] Eine perfide Umkehrung der sozialen Frage findet sich in den Worten des MHP-Führers Bahçeli, der nach 11 Jahren zum ersten Mal wieder in Diyarbakır auftrat und die dort Anwesenden fragte: „Füllt die Muttersprache etwa eure Mägen?“ Zum einen waren ein Großteil der ZuhörerInnen aus anderen Regionen angekarrte MHP-AnhängerInnen – der MHP-Stimmanteil in Diyarbakır liegt bei 0.67%. Das heißt, Bahçeli wandte sich an ein Publikum, das gar nicht vor ihm stand. Davon unbenommen spiegelt sich in Bahçelis Frage der typische Blick auf die Kurdenfrage als ein Entwicklungsproblem. Auch offenbart sie, wie ein Politiker des ganz rechten Randes den Kurdinnen und Kurden abspricht, andere Bedürfnisse als die der Nahrungsaufnahme zu haben.
[5] FTD 27.05.2011
[6] OECD-Studie: Growing Income Inequality in OECD Countries: What Drives it and How Can Policy Tackle it? Paris, 2 May 2011
[7] http://www.stargazete.com/yazar/nasuhi-gungor/milletin-terazisi-sasmiyor-haber-358543.htm
[8] The Economist 05.05.2011
[9] http://www.todayszaman.com/news-245993-poll-shows-ak-party-votes-close-to-50-pct-with-two-weeks-to-elections.html
[10] http://www.konda.com.tr/tr/raporlar.php?tb=3
[11] http://www.bugun.com.tr/kose-yazisi/158116-kurtce-ezanin-isiginda-makalesi.aspx; http://www.urfahabermerkezi.com/haber/kurtce-ezani-imamda-yalanladi-16766.html. Auch aus dem Block kamen kritische Stimmen zu einem nicht auf Arabisch ausgerufenen Gebet: http://www.bugun.com.tr/haber-detay/158095-bdp-de-kurtce-ezan-depremi-haberi.aspx
[12] http://www.firatnews.biz/index.php?rupel=nuce&nuceID=42673
[13] http://www.hasparti.org.tr/page.aspx?key=program
[14] http://www.todayszaman.com/columnist-246021-diyarbakir-rallies.html
[15] Die indirekt AKP-kritischen Äußerungen der TÜSIAD-Vorsitzenden Ümit Boynar wenige Wochen vor den Wahlen könnten einen Hinweise in diese Richtung liefern: „Let the money flow and push the freedoms down, let the money flow and arrest the journalists, let the money flow and keep up with honor killings. Turkey, in fact, is in 86th place on the human development index.“ http://www.hurriyetdailynews.com/n.php?n=head-of-leading-business-group-fires-back-at-deputy-pm-2011-05-29
[16] http://www.todayszaman.com/news-246911-advanced-democracy-new-constitution-hoped-for-after-polls.html
[17] http://www.todayszaman.com/news-247131-tusiad-pushes-for-consensus-based-new-constitution-after-elections.html
[18] Die heute unter der Bezeichnung TKP agierende Partei wurde 1998 gegründet und entspricht, auch wenn sie propagandistisch eine Kontinuität zur TKP seit 1921 herzustellen versucht, dem Verständnis vieler Linker in der Türkei zufolge nicht ihrem historischen Vorgänger. Im Deutschen verwenden wir daher die Bezeichnung Neo-TKP, um beide Parteien auseinanderzuhalten.
[19] Interview mit Alper Taş, Vorsitzender der heutigen ÖDP, in Express Dergisi 120/2011, 14-15.
[20] Vgl. S. 6
[21] Ebd.
[22] Interview mit Sırrı Süreyya Önder, Express Dergisi 120/2011, 32-35
[23] Interview mit Abdullah Levent Tüzel, Express Dergisi 120/2011, 38-39
[24] http://www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/antikurdenpolitik-soll-stimmen-bringen
[25] http://www.todayszaman.com/news-246715-terrorism-conviction-upheld-doors-of-parliament-closed-to-bdp-candidate.html
[26] http://www.taraf.com.tr/yildiray-ogur/makale-bir-savasin-anatomisi.htm
[27] Eren Keskin: Benim oyum da gerillaya… Özgür Gündem, 7. Juni 2011
[28] Interview mit Bengi Yıldız, Express Dergisi 120/2011, 17-18
[29] http://en.firatnews.org/index.php?rupel=article&nuceID=2347
[30] http://www.emekdunyasi.net/ed/siyaset/12817-anarsistler-ve-anti-otoriterlerden-bagimsiz-adaylara-destek
[31] http://kurdsolsh.blogsport.de/images/WahlbndnisfrArbeitDemokratieundFriedenWahlmanifest2011.pdf -
[32] Interview mit Sırrı Süreyya Önder, Express dergisi 120/2011, 32-35
[33] http://www.kadinpartisigirisimi.org
[34] Interview mit Altan Tan, Express Dergisi 120/2011, 24-25