Über die anstehenden Parlamentswahlen und die aktuelle Entwicklung in der Türkei
Istanbul, 2. Juni 2011
Der Countdown läuft. Am 12. Juni 2011 finden die Parlamentswahlen statt. Am Wahltag werden die WählerInnen nicht nur über eine neue Regierung entscheiden, sondern auch ob eine neue Verfassung in die Wege geleitet und wie diese Verfassung möglicher Weise aussehen wird und ob in der »Kurdenfrage« eine friedliche Lösung zu erwarten ist.
Die Analysten sagen einen erneuten Wahlsieg der AKP-Regierung voraus, die jedoch nicht so hoch sein wird, wie in den letzten Wahlen. Obwohl Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seinen Wahlkampf betont nationalistisch gestaltet, um auch die Wählerschaft der neofaschistischen MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) an sich zu binden, scheint die MHP laut Umfragen ihren Wiedereinzug in das Parlament noch nicht verpasst zu haben. Auch die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) unter der Führung von Kemal Kilicdaroglu ist dabei, ihr Stimmenanteil zu erhöhen. Aufgrund der hohen Wahlhürde von 10 Prozent wird die prokurdische BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) es wieder mit unabhängigen KandidatInnen versuchen. Das gemeinsam mit 17 linken und sozialistischen Parteien gegründete Linksbündnis (Block der Arbeit, des Friedens und der Freiheit) wird wohl mit bis zu 30 Abgeordneten wieder eine Fraktion bilden können.
Bei einer oberflächlichen Betrachtung scheint der Wahlkampf in der Türkei »Normal« zu verlaufen. Aber in einem Land wie die Türkei ist nichts »Normal« und jederzeit ist mit außergewöhnlichen Entwicklungen zu rechnen. Man muss nicht wie der kurdische Menschenrechtler und Rechtsanwalt Mahmut Alinak den Teufel an die Wand malen - Alinak rechnet mit einem blutigen Bürgerkrieg nach den Wahlen. Doch so abwegig ist seine Angst nicht. Daher wird in dieser Analyse wird der Versuch unternommen, vor den anstehenden Wahlen die aktuelle Situation wieder zu geben und mögliche Szenarien aufzuzeigen, die mit Sicherheit auch in Europa ihre Auswirkungen haben werden.
Die Polarisierung der Gesellschaft
Die Wahlen finden in einer polarisierten gesellschaftlichen Situation statt, in der ein kleiner Funke das Potential birgt, binnen kurzer Zeit sich zu einem Flächenbrand zu entwickeln. Die jüngste Studie des renommierten Forschungsinstituts KONDA zeigt, wie weit sich die gesellschaftliche Polarisierung entwickelt hat. In einem Interview mit der Tageszeitung Özgür Gündem erklärt der KONDA-Geschäftsführer Bekir Agirdir, dass sich die Polarisierung in zwei Bereichen, in der »Kurdenfrage« und zwischen »Totalitarismus und Demokratisierung« verfestigt habe.
Laut der KONDA-Studie sind rund 55 Prozent der türkischen Gesellschaft der Auffassung, dass »die Regierung dabei ist, die Justiz zu unterwerfen«. 45 Prozent sei, unabhängig von jeglichen Repressionsmaßnahmen der Regierung der Meinung, dass sich »das Land demokratisiere«. Agirdir weist daraufhin, dass diese polarisierende Parteinahme sich zu einem Lebensstil entwickelt habe, was seiner Meinung nach ein großes Problem darstelle. Denn: »Wenn es eine politische Polarisierung wäre, gäbe es Lösungsmöglichkeiten. Die Parteiführer bräuchten nur ihre Wahlkampfsprache zu ändern. Aber diese Polarisierung zeigt sich in einer Achse der absoluten AKP-Gegnerschaft und AKP-Anhängerschaft. (…) Hieraus resultieren zwei große Gefahren: Erstens, wir sprechen mehr und mehr eine Gewaltsprache, die bald in der praktizierten Gewalt münden kann. Während heute Frauen, die Minirock tragen, angepöbelt werden, werden sie Morgen Opfer einer Gewalttat. Oder, während heute einige bei dem kurdischen Lebensmittelhändler nicht mehr einkaufen, werden sie später diesen Lynchen. Das Beispiel der Statue, welcher niedergerissen wurde, weil sie dem Ministerpräsidenten nicht gefiel, spricht Bände. Die zweite Gefahr ist, dass wir den Willen zum Zusammenleben verlieren. Daraus wächst das Risiko, dass diejenigen, die denken, dass zur Veränderung eine Wahl nicht ausreicht, sich Wege suchen können, mit außergewöhnlichen Mitteln die Macht zu erlangen«.
Agirdir sieht in den Ergebnissen der Studie die Bestätigung der gesellschaftlichen Spaltung in »Laizisten und Antilaizisten«, wobei die »Kurdenfrage« eine weitere Polarisierung ausmache. Gerade in der »Kurdenfrage« scheine ein großes Hindernis vor der Entwicklung eines notwendigen gesellschaftlichen Konsenses zu stehen. Die KONDA-Studie macht den, sich besonders in den westlichen Teilen der Türkei verankernden Ultranationalismus als das größte Hindernis dafür aus. Laut der Studie will fast die Hälfte der TürkInnen (über 47 Prozent) keinen kurdischen Nachbarn, keinen kurdischen Geschäftspartner oder keinen angeheirateten Kurden bzw. Kurdin in der Familie. Umgekehrt denken 22 Prozent der KurdInnen ähnlich. Agirdir: »Wenn wir bald die Sprache der Gewalt nicht ändern, wird sich der Anteil der kurdenfeindlichen TürkInnen 2013 auf mehr als 67 Prozent erhöhen«. Dabei gibt es innerhalb der ParteienanhängerInnen kaum Unterschiede: 47 Prozent der AKP-AnhängerInnen, 43 Prozent der CHP-AnhängerInnen und 69 Prozent der MHP-AnhängerInnen zeigen offene Kurdenfeindlichkeit und rassistische Einstellungen.
Welche Auswirkungen diese Feindlichkeit zur Folge hat, zeigen die Ereignisse der letzten Tage. Gerade, als dieser Artikel verfasst wurde, berichteten die Agenturen, dass in Hopa, einer Kleinstadt an der Grenze zu Georgien, nach einer Wahlkampfveranstaltung von Erdogan bei den Ausschreitungen eine Person ums Leben gekommen ist. Angriffe auf Veranstaltungen des Linksbündnisses sowie einzelne Lynchversuche gehören zu den täglichen Nachrichten der Fernsehsender. Dabei macht die Gewalt nicht vor KurdInnen halt: Selbst StudentInnen, die gegen die Hochschulpolitik demonstrieren wollen, werden als »Terroristen« beschimpft und von Passanten angegriffen. Wer eine BDP-Fahne trägt oder sich offen als UnterstützerIn des Linksbündnisses zeigt, läuft Gefahr als »PKKler« bzw. »kurdischer Terrorist« angegriffen zu werden.
Wahlkampf als Motor der Eskalation
Die Behandlung der »Kurdenfrage« als eine Frage der inneren Sicherheit, somit das Favorisieren der militärischen Lösung und die seit mehr als 30 Jahren regierungsamtlich und staatlich geschürte chauvinistische Stimmung gegen die kurdische Bevölkerung rächt sich. Während sogar Teile der konservativen Kräfte des Landes die »Kurdenfrage« als eine Schlüsselfrage, die vor allen Problemen des Landes steht, akzeptieren, versäumt man die radikale Veränderung der gesellschaftlichen Dynamik zu sehen.
Sicher, im Rahmen des sog. Heranführungsprozesses der Türkei in die EU wurden einige wenige Maßnahmen ergriffen. Immerhin sprechen staatliche Stellen heute davon, dass es eine kurdische Frage gibt und diese einer Lösung bedarf. Doch das hat an der Behandlung des »Problems« als Frage der inneren Sicherheit nichts geändert. Selbst die Chance, mit der prokurdischen BDP-Parlamentsfraktion zu sprechen und diese als ein Gesprächspartner anzuerkennen und somit Möglichkeiten für eine friedlich-demokratische Lösung zu suchen, wurde nicht ergriffen. Im Gegenteil; die BDP-Fraktion wurde ausgegrenzt, als »politische Terroristen« diffamiert, von der parlamentarischen Einflussnahme und staatlichen Fördertöpfen, die allen anderen Fraktionen zustehen, ausgeschlossen. Weder die Regierung, noch die anderen Oppositionsparteien waren für eine Änderung der Wahlhürde von 10 Prozent oder der antidemokratischen Parteien- und Wahlgesetzen.
Mit dem Beginn des Wahlkampfes baute die AKP ihre Strategie auf einer offenen nationalistischen Grundlage und verschärfte ihre politischen Aussagen gegen die kurdische Bewegung. Die Tatsache, dass die nationalistische Strömung in der AKP über eine große Mehrheit verfügt, die ideologische Gegnerschaft der AKP gegen kollektive Rechte und das herrschende Paradigma, dass die einzige Gemeinsamkeit nur das »Muslim-Sein« ist, hat sicherlich einen großen Anteil daran. Aber auch die Strategie, mit radikalem Nationalismus die MHP unter die Wahlhürde zu drücken und dadurch die Chance einer verfassungsgebenden Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erhalten ist ein Grund dafür. Doch die letzten Umfragen zeigen, dass diese Strategie wahrscheinlich nicht aufgehen wird. Denn alle Umfrageinstitute sehen die MHP, wenn auch mit knappen Ergebnissen, im nächsten Parlament. Wie dem auch sei, am Abend des 12. Juni werden wir alle klüger.
Während die MHP ihre nationalistische Anhängerschaft noch gut zu organisieren weiß, ist die CHP dabei – je nach Ort ihrer Wahlkampfkundgebungen – mit moderaten Tönen in der »Kurdenfrage« sich auf die soziale Frage und die Probleme der alewitischen Minderheit zu konzentrieren. Diese Taktik scheint sich für die CHP auszuzahlen, denn die Umfrageinstitute sehen die Steigerung der CHP-Stimmen vor.
Alle Kommentatoren der gängigen Medien sind sich darüber einig, dass sich die sog. »Öffnungspolitik« der AKP entzaubert habe und daher die AKP besonders in den kurdischen Gebieten Stimmen verlieren werde. Dass auch die AKP-Führung ähnliche Schlussfolgerungen zieht, zeigt sich in der Aufstellung der Kandidaten in den kurdischen Gebieten. Während bei den letzten Wahlen vor allem bekannte kurdische Persönlichkeiten aufgestellt wurden (Erdogan sprach nach den Wahlen davon, dass die AKP mit 75 kurdischen Abgeordneten die größte kurdische Partei sei), sind jetzt viele dieser Abgeordnete nicht mehr aufgestellt worden.
Dass die AKP in den kurdischen Gebieten Stimmenanteile verlieren wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Daran haben vor allem die prokurdische BDP und die immense Politisierung der kurdischen Bevölkerung einen entschiedenen Anteil. Die BDP hat es geschafft, nicht nur mit dem Aufbau eines Linksbündnisses große Teile der türkischen Linken an sich zu binden, sondern auch mit der Aufstellung von PKK-kritischen, konservativ-islamisch orientierten kurdischen Persönlichkeiten den AKP-Einfluss in der kurdischen Bevölkerung zurückzudrängen.
Doch mit der Gründung des Linksbündnisses (Wahlmanifest unter: http://murat-cakir.blogspot.com/2011/05/wahlmanifest-des-linksbundnisses-in-der.html) begannen auch die juristischen Angriffe. So hat Mitte April die Hohe Wahlkommission beschlossen, 7 KandidatInnen des Linksbündnisses nicht zuzulassen. Darunter waren auch amtierende Abgeordnete wie die BDP-Co-Vorsitzende Gultan Kisanak und Sabahat Tuncel, die mit dem landesweit höchsten Stimmenanteil aus dem Gefängnis heraus gewählt wurde. In der Folge der Veröffentlichung dieses Beschlusses kam es zu zahlreichen spontanen Demonstrationen in den kurdischen Gebieten. Die Polizei griff sehr hart gegen die Demonstrierenden durch – einige DemonstrantInnen kamen ums Leben. An den Demonstrationen beteiligten sich Hunderttausende, darunter viele Frauen, so dass binnen weniger Tage der Beschluss durch die Hohe Wahlkommission selbst gekippt und die KandidatInnen wieder zugelassen wurden. Es war ein Sieg der Spontaneität der Volksmassen.
Auch nach dem Angriff der Armee gegen eine Guerillagruppe, in der 10 Guerillas getötet wurden, kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Etwa 2.000 ZivilistInnen in der Nähe der türkisch-irakischen Grenze übertraten die Staatsgrenze und brachten die dort getöteten Guerillas in das türkische Gebiet – obwohl Grenzsoldaten sie mit Schüssen zu hindern versuchten. In den nächsten Tagen wurden die Guerillas in ihren Heimatorten mit der Teilnahme von 50 bis 60.000 Menschen beerdigt. Erstmals in der Geschichte der Türkei fand ein massenhafter Grenzübertritt statt.
Weitere Aktionen des zivilen Ungehorsams, so wie das »zivile Freitagsgebet«, wo zehntausende Gläubige nicht mehr in den Moscheen, also hinter den vom Staat gestellten Imamen, sondern gemeinsam auf öffentlichen Plätzen beteten, finden heute noch massenhaft statt. Ministerpräsident Erdogan beschimpfte die »zivilen Freitagsgebete« als »mißbrauch des Islams durch Terroristen« und verlor dadurch viele Sympathien innerhalb der gläubigen Teilen der kurdischen Bevölkerung.
Diese Ereignisse sind ein Beleg dafür, welche Grade die Radikalisierung der kurdischen Bevölkerung erreicht hat. In den Fällen des Beschlusses der Hohen Wahlkommission und der Erschießung der Guerillas haben zahlreiche türkische Kommentatoren, aber auch PolitikerInnen der AKP und CHP Kritik an staatlichen und militärischen Stellen ausgeübt. Doch beide Ereignisse hatten nicht zur Folge, dass der nationalistische Wahlkampf der AKP zurückgefahren wurde und die chauvinistischen Stimmung in der türkischen Bevölkerung abnahm.
Was könnte passieren?
Man braucht kein Analyst zu sein, um zu erkennen, welche Gefahren die derzeitige Entwicklung in der Türkei beinhaltet. Auch wenn von heute auf Morgen ein blutiger Bürgerkrieg, wie sie es von Mahmut Alinak beschrieben wird, nicht unbedingt zu erwarten ist, könnte ein »weiter so« der Regierung zu einer Gewalt-Tsunamie führen, der dann alles, was vor ihr steht, mitreisen und das Land in den Abgrund treiben kann. Die Tatsache, dass die USA und die EU an einer »wirtschaftlich und militärisch stabilen Türkei« (Klaus Naumann) interessiert sind und das türkische Kapital auf eine weitergehende Demokratisierung, somit auf eine gewisse Normalisierung der Zustände drängt, könnte die Entscheidungsträger der Türkei motivieren, nach den Wahlen einige Reformschritte zu unternehmen.
Doch derzeit sieht es nicht danach aus: In den Medien wurde die Kundgebung des Regierungschefs in Diyarbakir am 1. Juni mit Spannung erwartet. Einige Kommentatoren äußerten ihre Hoffnung, dass nun Erdogan einige »positive Signale« geben würde. Aber Erdogan verschärfte seinen Ton weiter. Bei seiner Rede verglich er die CHP und die BDP, die seiner Meinung nach kooperieren würden, mit dem »zivilem Faschismus« und erntete viele Enttäuschungen. Nun liegen die Hoffnungen auf der Rede des Regierungschefs am Wahlabend.
Die eigentliche Chance liegt aber darin, dass das Linksbündnis gestärkt ins Parlament einziehen und somit das Zünglein an der Waage werden kann. Es steht außer Frage, dass die AKP auch diese Wahlen gewinnen wird. Aber die Umfrageinstitute sehen keine Zweidrittelmehrheit der AKP vor. Dies scheint nicht sehr wahrscheinlich zu sein. Die CHP wird aus den Wahlen gestärkt ins Parlament einziehen. Damit wird die AKP für eine, von ihr stets versprochene Verfassungsänderung auf die CHP und die von den unabhängigen KandidatInnen zu gründende BDP-Fraktion angewiesen sein. Ob jedoch diese Verfassungsänderung grundsätzliche Schritte in Richtung einer echten Demokratisierung sein wird, ist eine schwache Wahrscheinlichkeit, würde aber viele Chancen für die friedliche Lösung der »Kurdenfrage« schaffen.
Abdullah Öcalan, der im Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Kurdenführer, hat in den Gesprächen mit seinen Anwälten erklärt, dass eine Gruppe von staatlichen Vertretern mit ihm verhandele und er sich, wenn bis zum 15. Juni 2011 keine Signale für eine friedliche Lösung der »Kurdenfrage« entsandt würden, zurückziehen werde. Am Abend des 12. Juni wird eine Ansprache von Erdogan erwartet, in der er wahrscheinlich einige Versprechungen machen wird. Falls er in dieser Ansprache, selbst wenn diese vorerst wage sein sollten, Schritte für eine Verfassungsänderung ankündigen und symbolträchtige Aussagen in Richtung der kurdischen Bewegung machen sollte, könnte ein langer, aber friedlicher Weg für die Demokratisierung des Landes eröffnet werden.
Aber die Fortführung der bisherigen Politik könnte katastrophale Folgen haben. Unlängst haben sowohl die BDP, als auch die PKK erklärt, dass sie in diesem Fall die de facto Autonomie der kurdischen Gebieten erklären werden. Dies könnte von den militärischen Machthabern als eine offene Kriegserklärung aufgefasst werden, der die Fortführung des Krieges gegen die PKK bedeuten würde. Doch diesmal würde der Krieg nicht in den Bergen bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen bewaffneten Volksaufstand in den kurdischen Gebieten geben wird, ist sehr hoch.
Die Erklärungen der PKK-Führung und von Öcalan, dass das kurdische Volk sich auf einen möglichen »revolutionären Volksaufstand« vorbereiten solle, sind keine leere Drohungen. Ein Krieg wie in den Jahren 1992-1993 würde die bewaffneten Auseinandersetzungen in die kurdischen Städte tragen. Dies wiederum hätte fatale Folgen für den Westen der Türkei: Die möglicherweise steigende Zahl von getöteten Soldaten, eine »kurdische Intifada« und Bombenanschläge in den größeren Metropolen würde die kurdenfeindliche Stimmung im Westen in Gewaltakten gegen alles kurdisch Aussehende und auch gegen Linke münden lassen. Da hat Alinak leider recht: das wäre ein blutiger Bürgerkrieg und womöglich das Ende der Türkei, wie wir sie kennen.
Jugoslawische Zustände wird man sagen – mit einem Unterschied. Die Gewalt würde nicht an den Grenzen der Türkei halt machen, sondern die Straßen Europas zum Schlachtfeld der kurdischen und türkeistämmigen MigrantInnen verwandeln. Was dann dies für die europäischen Demokratien, insbesondere für die Diskussionen über die innere Sicherheit z. B. in Deutschland oder über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren bedeuten würde, kann man sich leicht ausmalen.
In Deutschland wird man ein solches Katastrophen-Szenario sich nicht vorstellen können. Sicherlich gibt es auch im türkischen Staat Gremien und Stellen, welche die derzeitige Entwicklung verfolgen und im Gefahrenfall mögliche Entlastungsschritte einleiten könnten. Immerhin ist die Eskalation der Gewalt, den man später sehr schwer in Griff nehmen kann, für keinen der Entscheidungsträger der Türkei von Interesse. Womöglich liegt darin die Hoffnung für eine, wie auch geartete Entspannung.
Wie die Parlamentswahlen am 12. Juni nun auch ausgehen werden, eines steht fest: die Entscheidungsträger der Türkei sind gehalten sich zu entscheiden: Entweder für die »Strada Infernale« oder für die nachhaltige Sicherung der territorialen Integrität des Landes, welches nur über die Anerkennung der kurdischen Realität zu erreichen ist. Ohne Zweifel: die Türkei steht vor einem historischen Umbruch, deren Auswirkungen wir in Europa in zwei Wochen anfangen werden zu spüren. Bereiten wir uns auf jeden Fall darauf vor; nichts wird so sein, wie früher...