Interview aus: FriedensJournal Nr. 5/2012 (September(Oktober)
Es hat den Anschein, dass den
Kurden wiederholt eine Schlüsselrolle bei den militärischen
Auseinandersetzungen im Nahen Osten zukommt. So ist der kurdisch besiedelte
Norden des Iraks wohl weitgehend autonom. Ist dieses ein positives Ergebnis des
US-amerikanischen Irak-Krieges? Leben dort die Kurden heute besser als in der
Türkei?
Ob aus dem
völkerrechtswidrigen Irak-Krieg der USA und der folgenden Besatzung etwas
Positives zu gewinnen ist, mag ich zu zweifeln. Aber dennoch; für die KurdInnen
im Irak, also in Südkurdistan ist das autonome Gebiet zweifelsohne eine
positive Entwicklung – besonders im Vergleich zur Türkei und zu Saddam-Ära.
Eine differenzierte
Betrachtung zeigt, dass aufgrund der Gebietsautonomie dort den KurdInnen besser
geht als denen in der Türkei. Kurdisch ist Amtssprache, Schul- und
Hochschulausbildung findet in Kurdisch statt und politische Freiheiten sind –
wenn auch nur relativ – gegeben.
Auf der anderen Seite jedoch
vertiefen sich soziale Konflikte, das Gebiet ist von demokratischen Strukturen
weit entfernt und ist zu einem Steuerparadies für ausländische – besonders für
türkische – Konzerne geworden. Ausländische Firmen zahlen keine Steuern, die
sonstigen Abgaben liegen bei 3 Prozent. Davon profitieren vor allem türkische
Firmen. Türkische Banken, Elektrokonzerne, Bauunternehmen und Energiefirmen
dominieren den Markt. Deren Umsatz beläuft sich auf mehrere Milliarden Dollar.
Alleine der türkische Energieriese Genel
Enerji hat eine Investition von 1,2 Milliarden Dollar getätigt und
produziert täglich 125.000 Barrel Öl. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von dem
Wirtschaftsaufschwung weitgehend ausgeschlossen – der Barsani-Clan bestimmt
alle Bereiche.
Es ist kein Widerspruch, dass
ausgerechnet die Türkei, während sie im eigenen Land ihre kurdischen StaatsbürgerInnen
terrorisiert, mit dem kurdischen Autonomiegebiet derart eng verflochten ist.
Zum einen spielen die Ölreserven (rund 60 Milliarden Barrel) des Gebiets eine
gewichtige Rolle für die von Energielieferungen abhängige Türkei. Zum anderen
sind sowohl Mesud Barsani als auch der kurdische Staatspräsident Iraks Celal
Talabani zu wichtigsten Partnern der neuen strategischen Ausrichtung der
türkischen Außenpolitik geworden. Eine Schlüsselrolle spielen beide in der
aufkeimenden schiitisch-sunnitischen Machtkampfs in Kurdistan.
Dazu kommt die Hoffnung der
Türkei, mit Barsani den wachsenden Einfluss der von der PKK geführten
kurdischen Freiheitsbewegung eindämmen zu können. Die PKK-Stellungen in den
nordirakischen Qandil-Bergen sind auch für Barsani ein »Dorn im Auge«. Aber die
breite gesellschaftliche Verankerung der PKK und des inhaftierten
KurdInnenführers Abdullah Öcalan in allen vier Teilen Kurdistans macht alle
Pläne zur Nichte. Barsani kann nicht gegen den Willen seiner eigenen
Bevölkerung agieren. So versucht er über Verträge mit internationalen
Ölkonzernen, den offenen Konflikt mit der irakischen Zentralregierung und
offensichtlichen Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung im
ölreichen Kirkuk und Mossul seinen Einfluss zu erhöhen. Ob diese Politik
Barsanis und seine Unabhängigkeitsbestrebungen im Sinne der KurdInnen ist, muss
angezweifelt werden.
Inwieweit sieht die türkische
Regierung in der aktuellen Autonomie der kurdischen Region in Syrien – bedingt
durch ein entstandenes Machtvakuum nach dem Abzug der Regierungstruppen – eine
Bedrohung mit innenpolitischen Hintergrund?
Die türkischen
Entscheidungsträger tun so, als ob sie von der Ausrufung der Autonomie in
Nordsyrien (Westkurdistan) überrascht seien. Dabei ist seit Jahren zu beobachten,
wie unter der Führung der stärksten kurdischen Partei PYD dort sich eine
Opposition formierte. Diese Opposition steht unter dem Einfluss von Öcalan. Im
Gegenzug zu dem sog. »Syrischen Nationalrat« lehnen die kurdischen Parteien
sowohl das Assad-Regime als auch eine internationale Intervention in Syrien ab.
Die Aussage des PYD-Führers Müslüm, dass sie »für ein demokratisches Syrien in
seinen jetzigen Grenzen und gegründet von allen SyrierInnen« streiten, hat für
hohe Sympathien in der syrischen Bevölkerung gesorgt. Auch die demokratische
Rätestruktur der kurdischen Koalition findet innerhalb anderen ethnischen und
religiösen Gruppen immer mehr AnhängerInnen.
Für die Türkei ist diese
Entwicklung sowohl eine innen- als auch eine außenpolitische Bedrohung. Die
befreiten Gebiete der syrischen KurdInnen, die traditionell eher mit den
türkischen Teilen verbunden sind als mit Damaskus, stellen eine Gefahr für die
»Kurdische Frage« der Türkei dar. In der syrisch-türkischen Grenzregion leben
auf beiden Seiten KurdInnen, die miteinander verwandt sind. KurdInnen in der
Türkei sympathisieren offen mit der kurdischen Autonomie in Syrien und zeigen
ihre Solidarität. Dies wiederum erschwert die von der Türkei präferierte
militärische Lösung.
Inzwischen eskaliert die Lage
in den kurdischen Gebieten der Türkei (Nordkurdistan). Die undemokratischen
Maßnahmen, der de facto Kriegsrechtszustand in den kurdischen Gebieten, die
massiven Menschenrechtsverletzungen sowie die administrative Inhaftierung von
nahezu zehntausend Menschen werden von der hoch politisierten kurdischen
Bevölkerung nicht mehr hingenommen. Aktionsformen des zivilen Ungehorsams
weiten sich aus und Zehntausende gehen auf die Straßen. Die ständigen
Bombardierungen und militärische Operationen konnten den Widerstand der
PKK-Rebellen nicht zurückdrängen. Im Gegenteil; derzeit findet in Semdilli,
eine Region im Südosten der Türkei, ein offener Krieg statt. Rund 700 Rebellen
stehen 100.000 Soldaten gegenüber. Aber die Asymmetrie des Kriegs hat zur
Folge, dass die türkische Armee kaum aus ihren Kasernen raus kann und den
Transport nur noch auf dem Luftwege vornehmen muss. Trotz der verhängten
Nachrichtensperre und der regierungsnahen Berichterstattung der gängigen Medien
aus der Region kommende glaubhafte Nachrichten belegen dies.
Hintergrund dieser Eskalation
ist die Entscheidung der türkischen AKP-Regierung, die kurdische Bewegung – wie
die Tamilen in Sri Lanka – militärisch vernichten zu wollen. Aber sowohl
Semdilli als Westkurdistan beweisen, dass weder Kurdistan Sri Lanka ähnelt,
noch die kurdische Bewegung den Tamilen. So bleibt die »Kurdische Frage« als
Mutter aller Probleme der Türkei weiter auf der Tagesordnung.
Während die türkische Regierung
zu Israel als US-Brückenkopf im Nahen Osten ein sehr gespanntes Verhältnis hat,
betätigt sich die türkische Regierung demgegenüber als Speerspitze in der von
den USA provozierten Eskalation des Syrien-Konfliktes. Wie passt das zusammen?
Wäre eine militärische Eskalation für die Türkei von irgendeinem Nutzen?
Das gespannte Verhältnis zu
Israel ist der Ausdruck der türkischen Bestrebungen, der erste Partner des
Westens sein zu wollen. Nachdem die AKP-Regierung ab 2007 ihre Macht im Innern
festigen konnte, hat sie angefangen eine sog. »neo-osmanische Agenda« zu
verfolgen, an dessen Ende sie sich als stärkste Regionalmacht im Nahen Osten
präsentieren will.
Diese Ambitionen der Türkei
korrespondieren mit den US-Interessen in der Region. Gleichzeitig ist die
Türkei mit Saudi Arabien und den Golfkooperationsstaaten eng verbunden und hat
sich für den Aufbau einer sunnitischen Achse entschieden.
Syrien wiederum gehört zu
schiitischen Achse unter der Führung des Irans an und ist somit eine wichtige
Bastion, die eingenommen werden muss. Aufgrund ihrer fast 900 km langen Grenze
mit Syrien ist die Türkei das einzige Land, von der die bewaffneten
Oppositionskräfte logistisch und ohne Probleme unterstützt werden können. Zudem
liegt eines der wichtigsten US-Basen in der Türkei (Incirlik) und die gegen den
Iran gerichteten Radaranlagen des NATO-Raketenschirms sind ebenfalls in der
Türkei (Malatya-Kürecik) installiert.
Schon sehr früh hat sich die
Türkei gegen Assad positioniert. Das Kalkül war klar: durch US-amerikanische
und türkische Unterstützung sollte das Assad-Regime von »syrischen« Kräften
selbst gestürzt werden. Die Türkei wurde, ermutigt durch saudische Despoten,
zum Subunternehmer westlicher Interessen. Einmischung in innere Angelegenheiten
eines souveränen Staates, Parteinahme in einem Bürgerkrieg, illegale
Waffenlieferungen, u.v.a.m., die allesamt im krassen Widerspruch zur UN-Charta
stehen, gehören nun zum Repertoire der türkischen Aktivitäten in Syrien.
Doch es hat sich erwiesen,
dass Syrien nicht Libyen ist und Assad weiterhin Rückhalt in zahlenmäßig nicht
zu unterschätzenden Teilen der syrischen Bevölkerung hat. Über Damaskus sollte
der Weg nach Teheran geebnet werden und bei dieser »Neuordnung« wollte die
Türkei einen großen Happen abbekommen. Jetzt steht sie vor den Trümmern der
eigenen Außenpolitik. Selbst wenn Assad gestürzt wird, wird die Türkei nicht
die maßgebliche Kraft sein können, die das Geschehen in dem Ruinenfeld Syrien
bestimmen kann. Während Saudi Arabien und Qatar weit entfernt sind, wird die
Türkei womöglich selbst Schauplatz ethnischer und religiöser Regionalkriege
werden. So gesehen werden die neoliberalen Konvertiten der AKP von dieser
subimperialistischer Politik keinen Nutzen ziehen können. Das ist schon jetzt
absehbar.
In Deutschland leben viele
Kurden, die sicherlich auch die Entwicklung in Syrien mit erhöhter
Aufmerksamkeit verfolgen. Welche Positionierungen in Bezug auf die
Konfliktlinien in Syrien – zwischen pro und contra Assad-Regime – sind
hierzulande erkennbar?
Innerhalb der kurdischen
Community gibt es keine einzige Organisation, die sich positiv auf das
Assad-Regime bezieht. Auch die kurdischen MigrantInnen in Deutschland,
insbesondere jene die aus Syrien stammen, haben die Jahrzehnte der
Unterdrückung und Rechtlosigkeit nicht vergessen. Während Teile von kurdischen
Organisationen zu Zeiten des Irak-Regimes eindeutig den Sturz von Saddam
unterstützt haben, stehen heute alle maßgeblichen kurdischen Organisationen
gegen eine militärische Intervention von außen. Sie unterstützen die
gewaltfreien Teile der syrischen Opposition und solidarisieren sich mit den
Autonomiebestrebungen im Norden des Landes. Unterschiede sind bei den Barsani
nahestehenden KurdInnen zu sehen. Während sie sich für einen unabhängigen
kurdischen Nationalstaat einsetzen, unterstützt der große Teil die politische
Linie der PYD »für die Befreiung und Demokratisierung Syriens durch die Hand
der Syrer selbst«.
Mögliche
Konfliktlinien könnten nach dem eventuellen Sturz des Assad-Regimes im Bezug
auf die Nationalstaatsfrage entstehen. Heute jedoch positionieren sich die
kurdischen MigrantInnen eindeutig gegen das Assad-Regime.