Mittwoch, 17. Oktober 2012

Kurdischer Frühling in Syrien und türkische Interessen



Interview aus: FriedensJournal Nr. 5/2012 (September(Oktober)
Es hat den Anschein, dass den Kurden wiederholt eine Schlüsselrolle bei den militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten zukommt. So ist der kurdisch besiedelte Norden des Iraks wohl weitgehend autonom. Ist dieses ein positives Ergebnis des US-amerikanischen Irak-Krieges? Leben dort die Kurden heute besser als in der Türkei?

Ob aus dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg der USA und der folgenden Besatzung etwas Positives zu gewinnen ist, mag ich zu zweifeln. Aber dennoch; für die KurdInnen im Irak, also in Südkurdistan ist das autonome Gebiet zweifelsohne eine positive Entwicklung – besonders im Vergleich zur Türkei und zu Saddam-Ära.
Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass aufgrund der Gebietsautonomie dort den KurdInnen besser geht als denen in der Türkei. Kurdisch ist Amtssprache, Schul- und Hochschulausbildung findet in Kurdisch statt und politische Freiheiten sind – wenn auch nur relativ – gegeben.
Auf der anderen Seite jedoch vertiefen sich soziale Konflikte, das Gebiet ist von demokratischen Strukturen weit entfernt und ist zu einem Steuerparadies für ausländische – besonders für türkische – Konzerne geworden. Ausländische Firmen zahlen keine Steuern, die sonstigen Abgaben liegen bei 3 Prozent. Davon profitieren vor allem türkische Firmen. Türkische Banken, Elektrokonzerne, Bauunternehmen und Energiefirmen dominieren den Markt. Deren Umsatz beläuft sich auf mehrere Milliarden Dollar. Alleine der türkische Energieriese Genel Enerji hat eine Investition von 1,2 Milliarden Dollar getätigt und produziert täglich 125.000 Barrel Öl. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von dem Wirtschaftsaufschwung weitgehend ausgeschlossen – der Barsani-Clan bestimmt alle Bereiche.
Es ist kein Widerspruch, dass ausgerechnet die Türkei, während sie im eigenen Land ihre kurdischen StaatsbürgerInnen terrorisiert, mit dem kurdischen Autonomiegebiet derart eng verflochten ist. Zum einen spielen die Ölreserven (rund 60 Milliarden Barrel) des Gebiets eine gewichtige Rolle für die von Energielieferungen abhängige Türkei. Zum anderen sind sowohl Mesud Barsani als auch der kurdische Staatspräsident Iraks Celal Talabani zu wichtigsten Partnern der neuen strategischen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik geworden. Eine Schlüsselrolle spielen beide in der aufkeimenden schiitisch-sunnitischen Machtkampfs in Kurdistan.
Dazu kommt die Hoffnung der Türkei, mit Barsani den wachsenden Einfluss der von der PKK geführten kurdischen Freiheitsbewegung eindämmen zu können. Die PKK-Stellungen in den nordirakischen Qandil-Bergen sind auch für Barsani ein »Dorn im Auge«. Aber die breite gesellschaftliche Verankerung der PKK und des inhaftierten KurdInnenführers Abdullah Öcalan in allen vier Teilen Kurdistans macht alle Pläne zur Nichte. Barsani kann nicht gegen den Willen seiner eigenen Bevölkerung agieren. So versucht er über Verträge mit internationalen Ölkonzernen, den offenen Konflikt mit der irakischen Zentralregierung und offensichtlichen Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung im ölreichen Kirkuk und Mossul seinen Einfluss zu erhöhen. Ob diese Politik Barsanis und seine Unabhängigkeitsbestrebungen im Sinne der KurdInnen ist, muss angezweifelt werden.
Inwieweit sieht die türkische Regierung in der aktuellen Autonomie der kurdischen Region in Syrien – bedingt durch ein entstandenes Machtvakuum nach dem Abzug der Regierungstruppen – eine Bedrohung mit innenpolitischen Hintergrund?
Die türkischen Entscheidungsträger tun so, als ob sie von der Ausrufung der Autonomie in Nordsyrien (Westkurdistan) überrascht seien. Dabei ist seit Jahren zu beobachten, wie unter der Führung der stärksten kurdischen Partei PYD dort sich eine Opposition formierte. Diese Opposition steht unter dem Einfluss von Öcalan. Im Gegenzug zu dem sog. »Syrischen Nationalrat« lehnen die kurdischen Parteien sowohl das Assad-Regime als auch eine internationale Intervention in Syrien ab. Die Aussage des PYD-Führers Müslüm, dass sie »für ein demokratisches Syrien in seinen jetzigen Grenzen und gegründet von allen SyrierInnen« streiten, hat für hohe Sympathien in der syrischen Bevölkerung gesorgt. Auch die demokratische Rätestruktur der kurdischen Koalition findet innerhalb anderen ethnischen und religiösen Gruppen immer mehr AnhängerInnen.
Für die Türkei ist diese Entwicklung sowohl eine innen- als auch eine außenpolitische Bedrohung. Die befreiten Gebiete der syrischen KurdInnen, die traditionell eher mit den türkischen Teilen verbunden sind als mit Damaskus, stellen eine Gefahr für die »Kurdische Frage« der Türkei dar. In der syrisch-türkischen Grenzregion leben auf beiden Seiten KurdInnen, die miteinander verwandt sind. KurdInnen in der Türkei sympathisieren offen mit der kurdischen Autonomie in Syrien und zeigen ihre Solidarität. Dies wiederum erschwert die von der Türkei präferierte militärische Lösung.
Inzwischen eskaliert die Lage in den kurdischen Gebieten der Türkei (Nordkurdistan). Die undemokratischen Maßnahmen, der de facto Kriegsrechtszustand in den kurdischen Gebieten, die massiven Menschenrechtsverletzungen sowie die administrative Inhaftierung von nahezu zehntausend Menschen werden von der hoch politisierten kurdischen Bevölkerung nicht mehr hingenommen. Aktionsformen des zivilen Ungehorsams weiten sich aus und Zehntausende gehen auf die Straßen. Die ständigen Bombardierungen und militärische Operationen konnten den Widerstand der PKK-Rebellen nicht zurückdrängen. Im Gegenteil; derzeit findet in Semdilli, eine Region im Südosten der Türkei, ein offener Krieg statt. Rund 700 Rebellen stehen 100.000 Soldaten gegenüber. Aber die Asymmetrie des Kriegs hat zur Folge, dass die türkische Armee kaum aus ihren Kasernen raus kann und den Transport nur noch auf dem Luftwege vornehmen muss. Trotz der verhängten Nachrichtensperre und der regierungsnahen Berichterstattung der gängigen Medien aus der Region kommende glaubhafte Nachrichten belegen dies.
Hintergrund dieser Eskalation ist die Entscheidung der türkischen AKP-Regierung, die kurdische Bewegung – wie die Tamilen in Sri Lanka – militärisch vernichten zu wollen. Aber sowohl Semdilli als Westkurdistan beweisen, dass weder Kurdistan Sri Lanka ähnelt, noch die kurdische Bewegung den Tamilen. So bleibt die »Kurdische Frage« als Mutter aller Probleme der Türkei weiter auf der Tagesordnung.
Während die türkische Regierung zu Israel als US-Brückenkopf im Nahen Osten ein sehr gespanntes Verhältnis hat, betätigt sich die türkische Regierung demgegenüber als Speerspitze in der von den USA provozierten Eskalation des Syrien-Konfliktes. Wie passt das zusammen? Wäre eine militärische Eskalation für die Türkei von irgendeinem Nutzen?
Das gespannte Verhältnis zu Israel ist der Ausdruck der türkischen Bestrebungen, der erste Partner des Westens sein zu wollen. Nachdem die AKP-Regierung ab 2007 ihre Macht im Innern festigen konnte, hat sie angefangen eine sog. »neo-osmanische Agenda« zu verfolgen, an dessen Ende sie sich als stärkste Regionalmacht im Nahen Osten präsentieren will.
Diese Ambitionen der Türkei korrespondieren mit den US-Interessen in der Region. Gleichzeitig ist die Türkei mit Saudi Arabien und den Golfkooperationsstaaten eng verbunden und hat sich für den Aufbau einer sunnitischen Achse entschieden.
Syrien wiederum gehört zu schiitischen Achse unter der Führung des Irans an und ist somit eine wichtige Bastion, die eingenommen werden muss. Aufgrund ihrer fast 900 km langen Grenze mit Syrien ist die Türkei das einzige Land, von der die bewaffneten Oppositionskräfte logistisch und ohne Probleme unterstützt werden können. Zudem liegt eines der wichtigsten US-Basen in der Türkei (Incirlik) und die gegen den Iran gerichteten Radaranlagen des NATO-Raketenschirms sind ebenfalls in der Türkei (Malatya-Kürecik) installiert.
Schon sehr früh hat sich die Türkei gegen Assad positioniert. Das Kalkül war klar: durch US-amerikanische und türkische Unterstützung sollte das Assad-Regime von »syrischen« Kräften selbst gestürzt werden. Die Türkei wurde, ermutigt durch saudische Despoten, zum Subunternehmer westlicher Interessen. Einmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates, Parteinahme in einem Bürgerkrieg, illegale Waffenlieferungen, u.v.a.m., die allesamt im krassen Widerspruch zur UN-Charta stehen, gehören nun zum Repertoire der türkischen Aktivitäten in Syrien.
Doch es hat sich erwiesen, dass Syrien nicht Libyen ist und Assad weiterhin Rückhalt in zahlenmäßig nicht zu unterschätzenden Teilen der syrischen Bevölkerung hat. Über Damaskus sollte der Weg nach Teheran geebnet werden und bei dieser »Neuordnung« wollte die Türkei einen großen Happen abbekommen. Jetzt steht sie vor den Trümmern der eigenen Außenpolitik. Selbst wenn Assad gestürzt wird, wird die Türkei nicht die maßgebliche Kraft sein können, die das Geschehen in dem Ruinenfeld Syrien bestimmen kann. Während Saudi Arabien und Qatar weit entfernt sind, wird die Türkei womöglich selbst Schauplatz ethnischer und religiöser Regionalkriege werden. So gesehen werden die neoliberalen Konvertiten der AKP von dieser subimperialistischer Politik keinen Nutzen ziehen können. Das ist schon jetzt absehbar.
In Deutschland leben viele Kurden, die sicherlich auch die Entwicklung in Syrien mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgen. Welche Positionierungen in Bezug auf die Konfliktlinien in Syrien – zwischen pro und contra Assad-Regime – sind hierzulande erkennbar?
Innerhalb der kurdischen Community gibt es keine einzige Organisation, die sich positiv auf das Assad-Regime bezieht. Auch die kurdischen MigrantInnen in Deutschland, insbesondere jene die aus Syrien stammen, haben die Jahrzehnte der Unterdrückung und Rechtlosigkeit nicht vergessen. Während Teile von kurdischen Organisationen zu Zeiten des Irak-Regimes eindeutig den Sturz von Saddam unterstützt haben, stehen heute alle maßgeblichen kurdischen Organisationen gegen eine militärische Intervention von außen. Sie unterstützen die gewaltfreien Teile der syrischen Opposition und solidarisieren sich mit den Autonomiebestrebungen im Norden des Landes. Unterschiede sind bei den Barsani nahestehenden KurdInnen zu sehen. Während sie sich für einen unabhängigen kurdischen Nationalstaat einsetzen, unterstützt der große Teil die politische Linie der PYD »für die Befreiung und Demokratisierung Syriens durch die Hand der Syrer selbst«.
Mögliche Konfliktlinien könnten nach dem eventuellen Sturz des Assad-Regimes im Bezug auf die Nationalstaatsfrage entstehen. Heute jedoch positionieren sich die kurdischen MigrantInnen eindeutig gegen das Assad-Regime.