Der syrische
Bürgerkrieg und Ankaras Spiel mit dem Feuer
Aus der Zeitschrift Sozialismus*
Syrien ist das schwierigste
Problem für die außenpolitischen Ambitionen der türkischen Regierung. Vor
diesem Hintergrund hatte Ministerpräsident Erdoğan die Gestaltung der
Beziehungen zum Assad-Regime zur »Chefsache« erklärt. In Manier eines
osmanischen Sultans bestimmte er kurzerhand den Assad-Clan zum Teil der
»türkischen Familie«.
Mit der
Machtübernahme von Baschar al-Assad im Jahre 2000 endete die Eiszeit in den
syrisch-türkischen Beziehungen. Die Normalisierung der syrisch-türkischen
Beziehungen hatte auch eine (quasi-)Normalisierung der syrischen
Außenbeziehungen mit dem Westen zur Folge.
Syrien war für die
Türkei das Tor zur sog. »arabischen Welt«, weswegen die Beziehungen
Modellcharakter haben sollten. Türkische Unternehmen waren auf der Suche nach neuen
Märkten [1] und gerade für jene Kapitalfraktionen, von denen die AKP-Regierung
die größte Unterstützung erhält, hatte Syrien eine besondere Bedeutung. Zudem
hoffte die Türkei auf syrische Unterstützung bei der »Überwindung« des
kurdischen »Problems«, von dem beide Länder betroffen waren.
So bemühte sich die
AKP-Regierung, kritische Punkte wie konfessionelle Unterschiede
(sunnitisch/alawitisch), die syrische Nähe zum Hauptkonkurrenten Iran oder die
frühere syrische Duldung von PKK-Stellungen im eigenen Land auszuklammern.
Erdoğan suchte enge Zusammenarbeit in den Bereichen der Rüstungsindustrie und
Hochtechnologie. In Ankara keimte die Hoffnung auf, den Einfluss der russischen
Konkurrenten zurückzudrängen – eine unrealistische zwar, aber türkische Think-Tanks
diskutierten schon über »Chancen für türkische Rüstungsfirmen«.
Bis Februar 2011 hatten
sich die syrischen und türkischen Kabinette mehrmals getroffen. Es wurden mehr
als 120 bilaterale Abkommen unterschrieben. 2004 hatten beide Regierungen ein
Freihandelsabkommen unterschrieben. Ankara und Damaskus reduzierten gegenseitig
die Zollgebühren, was jedoch nur der türkischen Ökonomie Vorteile brachte.
Fortan dominierten türkische Firmen den syrischen Markt. Zwar konnte durch die
neugebauten Fabriken in der Grenzregion zur Türkei der Druck auf den syrischen
Arbeitsmarkt etwas reduziert werden. Andererseits verlor insbesondere die im
syrischen Norden angesiedelte Möbelindustrie größere Marktanteile, viele
syrische Firmen mussten Konkurs anmelden. Während die Türkei noch in 2002 in
ihrem Außenhandel mit Syrien rund 320 Millionen Dollar Defizit notieren musste,
erreichte das türkische Exportvolumen in 2007 rund 800 Millionen Dollar und in
2010 über 1,8 Milliarden Dollar. [2]
Als im März 2011 das
Assad-Regime durch die Massendemonstrationen ins Bedrängnis geriet, verlieh Erdoğan
in einer Regierungserklärung seinem Glauben an seinen Intimus Baschar al-Assad
theatralisch Ausdruck. Außenminister Ahmet Davutoğlu erklärte dann im
türkischen Fernsehen, Assad werde die Probleme durch Reformen lösen. Auf diese
Weise offenbarte er die in der Türkei vielerorts medial geschürte Hoffnung, die
AKP-Regierung könne sich mit ihrem Einfluss in Syrien als »Problemlöserin« präsentieren.
Über Damaskus nach Teheran
Doch weder die familiäre
Verbundenheit Erdoğans
zu Assad, noch der vorhanden geglaubte türkische Einfluss konnten etwas
ausrichten. Die Aufstände und das Engagement des Westens für einen
Regimewechsel in Syrien ließen alle hochtragenden Pläne der AKP-Vorderen ins
Leere laufen. Sie wurden – wieder einmal – daran erinnert, dass ihre
Handlungsoptionen, die den strategischen Zielen der USA wiedersprechen, sehr
begrenzt sind.
So wandelte sich Assad
für die türkische Regierung kurzerhand vom Paulus zum Saulus. Erdoğan erklärte
Syrien zum »Innenproblem der Türkei« und forderte Assad auf, durch seinen
Rücktritt den Wandel im Land zu ermöglichen. Ankara begann, Teile der syrischen
Opposition zu unterstützen. Der »Syrische Nationalrat« konstituierte sich in
Istanbul. Während die Regierung nahe der syrischen Grenze Flüchtlingslager
errichten ließ, richtete die »Freie Syrische Armee« in Lagernähe ihren
Hauptstützpunkt ein. Als einziger NATO-Staat, der mit Syrien eine gemeinsame
Grenze hat, übernahm die Türkei die führende Rolle bei der Unterstützung der
syrischen »Rebellen«. Gemeinsam mit Saudi Arabien und den übrigen
Golf-Kooperationsstaaten nahm die »Sunnitische-Achse« ihre Arbeit auf.
Die AKP-Regierung ließ
sich auch nicht von Mahnungen regierungsnaher Kreise beeindrucken. Dr. İhsan
Çomak vom regierungsnahen Institut für strategische Studien (USAK) betonte noch
am 17. Februar 2012 die Gefahren: »Mit einer Intervention in Syrien wird die
Türkei in eine große Falle tappen. (...) Ein Krieg mit einem Land, das als
Bruderstaat angesehen wurde und mehrheitlich muslimisch ist, wird zum
Prestigeverlust in der muslimischen Welt führen. Zudem stellt die Regierung
aufgrund der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen sich selbst ein
Bein. Die möglichen Brüche in den türkisch-russischen Beziehungen können von
der türkischen Wirtschaft nicht lange getragen werden. (...) Ein Krieg mit
Syrien wird die ökonomische und politische Stabilität gefährden«. [3]
Doch diese Mahnungen, obschon von
regierungstreuer Seite, stießen auf taube Ohren. Auch die Tatsache, dass der
Export nach Syrien in 2011 auf 1,16 Milliarden Dollar zurückfiel (in den ersten
acht Monaten in 2012 waren es nur noch 360 Millionen Dollar) ließ die
türkischen Entscheidungsträger kalt. Mit ihren Geheimdiensten, Behörden und der
Armee konzentrierte sich die Regierung auf die militärische, politische,
organisatorische und finanzielle Stärkung der Assad-Gegner. Die Petro-Dollars
aus dem Golf halfen dabei, die rund 900 km lange türkische Grenze zu Syrien zum
Aktions- und Rückzugsgebiet der »Freien Syrischen Armee« sowie diversen
bewaffneten islamistischen Gruppen umzuwandeln.
Das Kalkül war klar: Da Syrien
nicht Libyen war und eine militärische Intervention von außen kaum durchführbar
erschien, erhoffte man sich den Sturz des Despoten Assad durch »innersyrische«
Kräfte. Denn, der Weg nach Teheran führte über Damaskus und Damaskus musste
»frei« werden.
Außenminister Davutoğlu
sprach nun von der »Notwendigkeit eines humanitären Korridors«, was in den
türkischen Medien als Vorbereitung für einen Einmarsch und die Errichtung einer
Pufferzone interpretiert wurde. Die Regierung unternahm alles, um die internationale
Öffentlichkeit von einem »humanitären Korridor« zu überzeugen.
Auch mit völkerrechtswidrigen
Mitteln: Die Anwesenheit türkischer »Militärberater« in Syrien ist inzwischen
ein ebenso offenes Geheimnis wie die Waffenlieferungen durch die Türkei. Aber
der Abschuss eines RF-4E Phantomjets im syrischen Luftraum offenbarte die
Stümperhaftigkeit türkischer Bemühungen. Der mit Spionagetechnik ausgestattete
Militärjet wurde offensichtlich billigend geopfert, um den NATO-Bündnisfall zu
konstruieren. Während Davutoğlu noch in der Tagesschau vom 24. Juni 2012 die
Verletzung des syrischen Luftraums durch den Jet kleinlaut zugeben musste,
tönte der stellvertretende AKP-Vorsitzende Ömer Çelik
am 25. Juni 2012 im türkischen Fernsehen: »Das ist keine rein türkisch-syrische
Angelegenheit. Mit dem Abschuss eines türkischen Jets hat Syrien die
internationale Gemeinschaft und die NATO angegriffen«.
Daraufhin begannen regierungsnahe Medien, mit scharfer Kriegsrhetorik die
öffentliche Meinung auf einen möglichen Militärchlag vorzubereiten. Doch obwohl
die NATO-Partner den Abschuss des türkischen Fliegers scharf verurteilten,
waren sie nicht bereit, den Bündnisfall nach Art. 5 auszurufen. Die Türkei
hatte sich an die NATO und die UN gewandt und den Vorfall als eine »ernste Bedrohung für
Frieden und Sicherheit in der Region« eingestuft. Hätte die UN diese
Einschätzung übernommen, wäre die formale Voraussetzung eines Mandates nach
Kapitel VII der UN-Charta erfüllt gewesen. Auch der Nordatlantikrat begnügte
sich damit, den Vorfall zur Kenntnis zu nehmen und seine »uneingeschränkte
Solidarität mit der Türkei« zu erklären.
Dies und die Bergung des
abgeschossenen Jets sowie der getöteten Piloten durch ein US-amerikanischen
Forschungsschiffs brachte der AKP-Regierung unangenehme Kritik aus dem eigenen
Lager ein. Dass ihre These vom »Abschuss im internationalen Luftraum« von der
eigenen Armeeführung am 10. Juli 2012 öffentlich revidiert werden musste, war
das i-Tüpfelchen des peinlichen Vorgehens. Einmischung in innere
Angelegenheiten eines souveränen Staates, die Unterstützung, Finanzierung,
Ausbildung von bewaffneten Gruppen, die in einem Nachbarland terroristische
Anschläge verüben sowie deren Duldung auf dem eigenen Territorium und die
Förderung von bewaffneten Auseinandersetzungen durch illegale Waffenlieferungen
– ermutigt von der »sunnitischen Achse« war die türkische Regierung dabei,
sämtliche Richtlinien der UN-Charta mit Füßen zu treten.
Nichts dazu gelernt
Dabei war es die Türkei selbst,
die seit Jahren die »ausländische Unterstützung« der PKK-Rebellen und die
Duldung von PKK-Stellungen im Irak und Syrien beklagte. Deshalb hatte sie 1998
Syrien mit dem Kriege bedroht und begründete zahlreiche militärische
Operationen in Nordirak mit internationalem Recht. Dass das türkische
Engagement im syrischen Bürgerkrieg nicht ohne Folgen bleiben würde, war nicht
nur Insidern bekannt.
Dennoch unternahm die AKP-Regierung
nichts um die Eskalation zu verhindern. Im Gegenteil: Mit einer, in Schärfe
ständig zunehmender Kriegsrhetorik griff Erdoğan das Assad-Regime an.
Währenddessen
berichteten türkische Medien von Flüchtlingslagern, die zur Kommandozentrale
der syrischen »Rebellen« geworden sind. Im türkischen Fernsehen erklärte ein
führender Offizier der »Freien Syrischen Armee«, dass die türkische Regierung
sie »großzügig unterstütze« und ihre Kämpfer im Flüchtlingslager Apaydın in Şanlıurfa
(nähe der syrischen Grenze) stationiert seien. Sie würden »jeden Tag die Grenze
überqueren« und mit »Erdoğans und Allahs Hilfe die Regierungstruppen
bekämpfen«. [4] Ein Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments, die kurz
danach das Lager besuchte widersprach dieser Darstellung. In der türkischen
Öffentlichkeit jedoch schenkte man den Aussagen des Ausschussvorsitzenden kaum
Beachtung, da den Vertretern der Oppositionsparteien der Zutritt ins Lager
vorher verwehrt war.
Kurz davor hatte die türkische
Öffentlichkeit auf fatale Weise erfahren, dass die AKP-Regierung in
Bombenattentate in Syrien verwickelt war. Als am 20. August 2012 in Gaziantep
eine Autobombe explodierte und 9 Zivilisten starben, versuchte die Regierung
diese Tat der kurdischen PKK zu unterschieben. Aber ein AKP-Abgeordneter
verplapperte sich: Şamil
Tayyar, Abgeordneter aus Gaziantep sagte nach dem Attentat der Presse, dass
»diese Bombe als Antwort auf ein Bombenattentat in Damaskus verstanden werden«
müsse. Türkische Kommentatoren mutmaßten, dass der türkische Geheimdienst den
Abschuss des Kampfjets mit einer geheimen Operation »gerächt« habe. Das
Attentat von Gaziantep ist bis heute nicht aufgeklärt.
Die türkische Regierung
verstärkte die Unterstützung der syrischen »Rebellen«. Führende AKP-Funktionäre
erklärten im türkischen Fernsehen, dass »die Regierung die Operation ›Vulkan in
Damaskus-Erdbeben in Syrien‹ unterstützt«. Mit dieser Operation versuchten
bewaffnete islamistische Gruppen durch mehrere Anschläge in Damaskus das Regime
zu destabilisieren. Doch die Operation endete mit einem Fiasko für die
»Rebellen«. Auch der Versuch, die Wirtschaftsmetropole Aleppo, wo die Türkei
traditionell Einflussreich ist, zu erobern scheiterte. Erfolgreich war jedoch
die Einnahme der Grenzstation Tel Abiad an der türkischen Grenze. Türkische
Fernsehsender lieferten live Nachrichtenbilder, wie von der türkischen Seite
aus die Grenzstation beschossen, erobert und syrische Soldaten gefangen
genommen wurden. Türkische Journalisten meldeten am nächsten Tag deren
Exekution durch die »Rebellen«.
Nachdem die syrische Armee die
»Rebellen« zurückdrängen konnte, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die
Auswirkungen der Kämpfe auch an der türkischen Grenze zu spüren waren. Als die
ersten Gewehrkugeln auf die Häuser der türkischen Grenzstadt Akçakale einschlugen, wandten sich
besorgte BürgerInnen an die staatlichen Stellen. Es gab auch einige
Demonstrationen von EinwohnerInnen Akçakales, wo sie von der Regierung
Schutzmaßnahmen forderten. Diese Demonstrationen wurden von den
Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst. Die AKP-Regierung ließ dann die Schulen
schließen und forderte die EinwohnerInnen auf, ihre Häuser nicht zu verlassen.
Es kam, was
kommen musste: Am 2. Oktober 2012 schlug in Akçakale eine Granate ein. 2 Frauen
und 3 Kinder starben. Das war der Anlass, auf den Erdoğan gewartet hatte.
Die Regierung bat das Parlament, ihr eine allgemeine Kriegsermächtigung zu
erteilen. Am 4. Oktober 2012 erteilte das türkische Parlament mit den Stimmen
der AKP-Fraktion und der neofaschistischen MHP diese Ermächtigung. Die
Oppositionsparteien CHP und BDP votierten dagegen.
Die
Hintergründe der türkischen Syrien-Politik
Es bedarf keiner großen
Erklärungsversuche, um zu beweisen, dass die Eskalationspolitik der Türkei von langer
Hand geplant war. Alle bisherigen Eskalationsstufen – von der Forderung nach
Einrichtung »sicherer Häfen« und »humanitärer Korridore« über die Unterstützung
und Bewaffnung einer Bürgerkriegspartei bis hin zum Aufmarsch schwerbewaffneten
türkischen Truppen an die syrische Grenze u.v.a.m. – kann präzise in einem
Bericht des US-amerikanischen Brookings Institution nachgelesen werden. Der
Brookings-Bericht »Assessing Options for Regime Change« [5] vom 15. März 2012 listet
alle Optionen für einen gewünschten Regimewechsel in Syrien auf. Dort ist auch
davon die Rede, dass »wenn die übrigen Optionen scheitern sollten«, darüber
nachgedacht werden müsste, entweder »den Sturz des Regimes durch eine Invasion
von US-geführten Truppen direkt zu betreiben« oder »mit multilateralen, von der
NATO geführten Bemühungen Assad zu verdrängen und den Wiederaufbau Syriens zu
beginnen«.
Ohne Frage, ein Regimewechsel in
Syrien deckt sich mit den langfristigen strategischen Zielen und Interessen
sowohl der USA, als auch der Türkei. Deshalb koordinieren beide NATO-Partner
ihr Handeln. Dennoch: es gibt Differenzen zwischen den USA und der Türkei.
Während die USA eher die Option, Sturz des Assad-Regimes durch »innersyrische«
Kräfte favorisieren, drängt die Türkei auf die Einrichtung einer Pufferzone und
somit auf die militärische Option.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum
einen will die Türkei, als »die« Regionalmacht schlechthin, in der Peripherie
des »Imperiums« ihr Einflussgebiet erweitern und von der erwarteten Neuordnung
der Region sich einen »großen Happen« sichern. Die Ausrichtung des türkischen
Kapitals im Nahen Osten und in Afrika sowie deren Investitionen erfordern die
militärische Absicherung.
Zum anderen steht Syrien mit den
innenpolitischen Problemen der Türkei, allem voran mit der kurdischen Frage, in
unmittelbaren Zusammenhang. Der türkische Staat ist nicht willens, in Syrien eine
Konstellation wie im Nordirak, also ein autonomes kurdisches Gebiet
hinzunehmen. Die Türkei hat deshalb schon bei der Konstituierung des »Syrischen
Nationalrats« darauf hingewirkt, dass kurdische Autonomieansprüche nicht in
dessen Gründungserklärung aufgenommen wurden.
Eigentlich eine
widersprüchliche Positionierung. Wenngleich die Regierung sich seinerzeit im
Irak gegen die Ausrufung des kurdischen Autonomiegebietes vehement gewehrt hat,
sind die türkischen Unternehmen heute wirtschaftlich die größten Nutznießer der
Entwicklung im Nordirak. Sie dominieren den dortigen Markt und profitieren von
dem rasanten Wirtschaftsaufschwung des Gebietes. Es wäre daher eine zumindest
in der Logik des Kapitals denkbare Schlussfolgerung, dass die Regierung in
Nordsyrien einen ähnlichen Entwicklungsweg unterstützen würde. Weit gefehlt.
Hierfür gibt es m. E.
zwei wesentliche Gründe: Im Irak hat die Türkei mit Talabani und Barsani zwei
starke Partner, die von Anfang an eine militärische Intervention des Westens im
Irak befürworteten und sich mit dem türkischen Staatsfeind Nr. 1, der PKK,
nicht verbündeten. Talabanis und Barsanis Parteien stehen für eine prowestliche
Politik, arbeiten eng mit den USA zusammen und kontrollieren die Erdölfelder in
Mossul und Kirkuk, auf welche die Türkei Ansprüche erhebt.
In Syrien hingegen
stellt sich die Situation völlig anders dar: Die syrischen KurdInnen sind
mehrheitlich gegen eine militärische Intervention von außen und im »Syrischen
Nationalrat« nicht mehr vertreten. In Westkurdistan, also Nordsyrien, übt die
PKK über die PYD, der größten kurdischen Partei mit führender Rolle innerhalb
der syrischen Kurden, großen Einfluss aus. Obwohl die kurdischen Parteien in
Opposition zum Assad-Regime stehen, machen sie sich für die territoriale
Unversehrtheit Syriens und für eine innersyrisch-demokratische Lösung stark. Im
Juni 2012 beschloss ein Kongress der kurdischen Parteien in Syrien die Losung:
»Keine Intervention, keine Gewalt. Das Problem in Syrien kann nur von Syrern,
friedlich und demokratisch gelöst werden«. [6] Somit stehen die Forderungen der
syrischen Kurden den Zielen der türkischen Regierung diametral entgegen.
Der zweite Grund ist die
Entschlossenheit der AKP, ihre eigene kurdische Frage militärisch zu lösen.
Eine militärische Intervention und ggf. die Errichtung einer türkischen
Pufferzone in Syrien würde, so die erklärten Pläne der türkischen Generalität,
den Weg einer Besatzungsoperation der Qandil-Berge im Nordirak erst ebnen. Vor
kurzem machte der als Kriegsverbrecher beschuldigte türkische Armeechef Necdet
Özel in einem Zeitungsinterview deutlich, was für die endgültige Zerschlagung
der PKK-Stellungen in den Qandil-Bergen notwendig ist. O-Ton Özel: »Die
türkische Bevölkerung müsste sich auf eine lange Besatzungszeit und zahlreiche
Gefallene bereitmachen«. [7]
Die aktuelle Syrien-Politik der
AKP-Regierung ist zugleich das Ergebnis des türkischen Handelns unter Zugzwang.
Im Stile
eines neo-osmanischen Regionalimperialismus hatte die AKP den Aufbau einer
»Sunnitischen Achse« forciert. Seit langem werden die sunnitischen Kräfte im
Irak unterstützt, Barsani und seine autonome Behörde hofiert, die Beziehungen
zu Hamas gestärkt, die Kooperation mit den sunnitischen Herrschern der
Golfkooperationsstaaten vertieft und bewaffnete sunnitische Gruppen in Syrien
finanziert. Die scharfe Anti-Israel-Rhetorik gehört ebenso dazu wie das Schüren
von anti-schiitischen Ressentiments. Nun aber gerät die türkische Regierung
zunehmend in die Rolle eines Subunternehmers auf der großen Baustelle der
Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens.
Zudem steht die AKP vor
einem konjunkturellen Problem: Die Verbraucherkredite werden teurer, die
Immobilienblase kommt an ihre Grenzen und die Arbeitslosigkeit besonders der
wenig qualifizierten Schichten wächst an. Gepaart mit den außergewöhnlich hohen
Bilanzdefiziten und der ungelösten »Kurdenfrage« führt diese Entwicklung zu
Vertrauensverlusten in der Bevölkerung. Die Türkei ist nach Ägypten weltweit
der zweitgrößte Nahrungsmittelimporteur und auf ausländischen Kapitalzufluss
angewiesen, was nach der Herabstufung durch die Rating-Agenturen immer teurer
wird. Das derzeitige Säbelrasseln mag als Ablenkungsmanöver dienlich sein,
könnte aber, wenn sich nichts Wesentliches in Syrien ändert, zum Eigentor
führen.
Weder ist eine
»innersyrische Lösung«, also ein Sieg der syrischen Oppositionellen, in Sicht,
noch steht die westliche »Wertegemeinschaft« bereit, militärisch zu
intervenieren. Zudem ist nicht sicher, ob das Assad-Regime mit einer
militärischen Intervention gestürzt werden könnte. Zugleich ist auch der Status
quo nicht im Interesse der türkischen Regierung. Zum einen würde das
Weiterbestehen des Assad-Regimes als Schwäche der Türkei verstanden werden und
den weiterreichenden Ansprüchen des »Möchtegern-Global-Players« schaden. Zum
anderen würde ein instabiler Machterhalt des Despoten Assads zu größeren
Instabilitäten in der Region führen.
Doch die AKP kann sich
weder einen militärischen Alleingang leisten noch geduldiges Abwarten. Je
länger der Syrien-Konflikt ungelöst bleibt, desto stärker verengen sich ihre
Bewegungsräume. Noch ist Erdoğan sich der Unterstützung
unterschiedlicher Fraktionen der Bourgeoisie sicher. Aber wenn deren Interessen
in Syrien nicht gewahrt oder durchgesetzt werden können und die
Handelsbeziehungen mit Russland, China und dem Iran darunter leiden, wird die
Alleinregierung der AKP nicht länger Bestand haben. Gleichzeitig riskiert die
AKP mit ihrer aggressiven antischiitischen Haltung einen konfessionellen
Konflikt zwischen Sunniten und Alewiten im eigenen Land. Übergriffe gegen
Alewiten zeigen, dass ein solcher Konflikt einem Pulverfass gleicht. Zusammen
mit der kurdischen Frage hätte sie das Potential, die territoriale Einheit der
Türkei zu zerstören. Insofern wären die Entscheidungsträger
der Türkei vor allem im Sinne der Bevölkerung gut beraten zu erkennen, dass der
Weg zu einer sicheren Zukunft nicht über Damaskus führt, sondern nur durch eine
tragfähige und demokratische Lösung der kurdischen Frage zu erreichen ist.
*)http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/eine-regionalmacht-eskaliert/
***
[1] Zwischen 2007 und 2011
hat sich das türkische Exportvolumen von 107 auf 135 Milliarden Dollar erhöht.
2011 lag der Anteil der »arabischen Welt« bei über 23 Prozent.
[2] Siehe: Seyfettin Gürsel
in der Tageszeitung »Radikal« vom 10. Oktober 2012.
[4] In: Nachrichtensendung
des Kanals IMC TV vom 29. August 2012, 19:00 Uhr - http://www.imc-tv.com/haber-apaydin-kampi-onunden-4282.html
[5] Siehe: http://www.brookings.edu/~/media/research/files/papers/2012/3/15%20syria%20saban/0315_syria_saban
[6] Siehe auch: http://www.diekurden.de/news/der-pyd-vorsitzende-salih-muslim-im-interview-bei-nc-tv-323266/
[7] Siehe: http://www.ntvmsnbc.com/id/25360184/