Sonntag, 12. September 2010

Referendum, Boykott und die »Demokratische Republik«

Heute Abend wurde klar: die Volksabstimmung endete mit einem knappen Ergebnis. Rund 58 Prozent der WählerInnen haben für das Verfassungsänderungspaket gestimmt, 42 Prozent dagegen. Doch, es gab ein weiteres Ergebnis, der das Bild vervollständigt: Ein Großteil der WählerInnen in den kurdischen Gebieten (mancher Ort mit bis zu 90 Prozent) sind dem Boykott-Aufruf der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) gefolgt. Diese bewusste Boykottbeteiligung muss für die kurdische Bewegung im Allgemeinen und für die BDP im Besonderen als ein großer Erfolg bewertet werden.

Generell betrachtet muss das knappe Ergebnis der Volksabstimmung als eine Niederlage für die beiden Seiten des herrschenden Blocks bewertet werden. Weder der eine Teil der türkischen Entscheidungsträger und des Kapitals, die sich mit der islamistischen AKP verbündet haben, noch der andere Teil, die die Achse der »Nein-Sager« CHP-MHP unterstützten, konnten ihre Referendumziele erreichen. Das knappe Ergebnis führt dazu, dass die Handlungsoptionen und der Bewegungsrahmen der AKP eingeengt werden und der von dem CHP-Führer Kemal Kilicdaroglu geführte Linie gegenüber der harten kemalistischen Elite gestärkt wird.

Als Ergebnis ist vorauszusagen, dass sowohl die kurdengegnerische politische Linie der AKP geschwächt, als auch die reformorientierte Linie von Kilicdaroglu gestärkt und somit, selbst wenn es nicht mehr als Lippenbekenntnisse werden, der Wille zur Demokratisierung stärker in der Öffentlichkeit artikuliert wird. Dies kann zu einer Atmosphäre der Deeskalation und des Dialoges beitragen. Gerade dies wird den radikalen Demokraten größeren Handlungsspielraum schaffen. Seit heute hat die Junta-Verfassung ihre Legitimität in den Augen der WählerInnen gänzlich verloren und die Notwendigkeit einer neuen, demokratischen Verfassung ist deutlich geworden. Diese Tatsache wird die Herrschenden und die türkischen Entscheidungsträger zu einem, wenn auch nur taktischen Politikwechsel zwingen und damit den radikalen Demokraten, die in dieser schwierigen Phase durch ihre Solidarität und eindeutige Parteinahme zugunsten der kurdischen Bevölkerung ein hohes Maß an Ansehen verschaffen hat, damit dienen, dass eine gesellschaftliche Atmosphäre entstehen kann, in der die Debatten um Demokratisierung und friedliche Lösung der Kurdenfrage fruchtbaren Boden finden werden.

Die Ergebnisse des Referendums deuten aber neben der Niederlage von beiden Teilen des herrschenden Blocks, auch auf eine politische Niederlage einiger Teile der linken und sozialistischen Kräfte der Türkei. Mit ihren Versuchen, die kurdische Bevölkerung auf eine paternalistische Weise auf ihre »Ja« oder »Nein« Positionen zu ziehen und dabei jeweils den einen oder anderen Teil der Herrschenden unterstützten, haben in dieser wichtigen Demokratieprüfung versagt. Leider konnten diese linken und sozialistischen Kräfte ihre politische Mündigkeit bei der Wahl des Grundsätzlichen und Nebensächlichen nicht unter Beweis stellen. Mit ihren Positionierung zugunsten der einen oder anderen Teil des herrschenden Blocks haben sie sich aus einer Demokratiebewegung, die in den kurdischen Gebieten von Millionen getragen wird, ausgeschlossen. Die nächsten Tage sollte von diesen Kräften dazu genutzt werden, um über ihre unsägliche Rolle während des Referendums und ihre Aufgaben bei der Gründung einer breiten, radikalen Demokratiebewegung nachzudenken. Doch auch dafür haben sie nur eine Woche Zeit. Denn nach dem 20. September 2010, an dem der einseitige Waffenstillstand der PKK endet, wird die Frage nach Krieg oder Frieden zu beantworten sein.

Wenn von einem Sieger im Referendum die Rede sein sollte, dann ist das kurdische Volk die einzige Siegerin. Das kurdische Volk und ihre Organisationen haben mit ihrer politischen Weitsicht, ihrem Willen gemeinsam mit dem Volk zu handeln und ihrer auf Demokratie und Frieden gerichteter Taktik die Legitimität ihrer Forderungen bewiesen. Wenn jetzt in den Medien über die sogenannte »Unterdrückung durch bewaffnete kurdische Organisationen« und »Verhinderung der Ausübung eines demokratischen Rechts« gesprochen wird, dann wird die Intensität der demagogischen Angriffe gegen die BDP in den nächsten Tagen schon heute deutlich. Die Versuche der liberalen Kreise, den Erfolg der BDP herunter zureden, ist Teil dieser medialen Demagogiebombardements. Damit haben die VertreterInnen der liberalen Kreise endgültig ihre Glaubwürdigkeit verloren und sich als Unfähig gezeigt, eine wesentliche Rolle bei der Demokratisierung des Landes zu übernehmen.

Obwohl nach diesem Referendum die Möglichkeit eines die Demokratisierungsversuche fördernde gesellschaftliche Atmosphäre entstehen könnte, existiert dennoch eine ernstzunehmende Bedrohung, die ein großes Hindernis für den Frieden im Land darstellt: die wieder deutlich gewordene Dreiteilung der Gesellschaft. Wie nach den Kommunalwahlen festzustellen war, ist die Gesellschaft der Türkei zwischen »Laizisten« und »Antilaizisten« sowie zwischen »KurdInnen« und »TürkInnen« gespalten. Diese gesellschaftliche Spaltung ist weiterhin eine ernste Gefahr für eine demokratische und friedliche Zukunft der Türkei.

Der erfolgreiche Boykott hat der demokratischen Autonomiebewegung in den kurdischen Gebieten einen neuen Impuls gegeben. Die Herrschenden werden gezwungen sein, den weiteren Schritten der kurdischen Bewegung angemessen zu reagieren. Der Boykott hat die BDP zu der einzigen parlamentarischen Kraft erhoben, der die Legitimität hat, im Namen der Mehrheit der kurdischen Bevölkerung zu sprechen. Jetzt sind die demokratischen Kräfte im Westen des Euphrats gehalten, ihre Positionierungen zu überdenken. Entweder werden sie in den Reihen der demokratischen Autonomiebewegung für das ganze Land und mit dem Ziel einer »Demokratischen Bewegung« ihren Platz einzunehmen oder in den politischen Gewässern der beiden Teile des herrschenden Blocks untergehen. Einen dritten Weg lässt das Ergebnis des Referendums nicht mehr zu.

Diese Volksabstimmung hat bewiesen, dass Bewegungen die von Volksmassen getragen und von diesen unmittelbar kontrolliert werden, trotz den Repressalien des Staatsapparates, der Nichtbeachtung durch internationale Gemeinschaft und trotz diskriminierenden, rassistischen und nationalistischen Maßnahmen erfolgreich sein können. Der Zug, dessen Ziel die demokratische Republik ist, hat sich in Bewegung gesetzt. Jene, die diesen Zug verpassen könnten, sollten gründlich darüber nachdenken, wie sie in den Annalen der Geschichte genannt werden wollen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, in der der Westen des Euphrats ihre endgültige Wahl treffen sollte. Die Tatsache, dass die Sonne im Osten aufgeht, kann nicht mehr weggedacht werden.