Freitag, 21. Juni 2013

Die Last des Eurozentrismus


Während linke Bewegungen in aller Welt darüber debattieren, ob die Aufstandsbewegungen in der arabischen Welt, in Griechenland, Italien, Portugal, Spanien sowie jetzt in Brasilien und der Türkei eine »transnationalisierte Schule« der Protestbewegungen werden könnten, werden die Herrschenden in den kapitalistischen Zentren zunehmend nervöser.

In Deutschland z.B. streiten neoliberale Eliten über das »wie« ihrer Einflussnahme auf die aktuelle Entwicklung in der Türkei. Immerhin geht es um langfristige strategische und wirtschaftliche Interessen; im Besonderen um die Sicherung der Energieversorgung Europas. Aus guter Erfahrung wissen wir, dass der in diesem Zusammenhang auf »Demokratie« und »Menschenrechte« genommene Bezug nur kosmetisches Beiwerk ist.
Dennoch scheinen viele in Europa irritiert zu sein. CSU-Chef Seehofer, erfreut über sein wiedergefundenes klassisches Wahlkampfthema, spricht sich gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei aus. Aber der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagt, »wir brauchen das Land als Mittler«. Während der Vorsitzende der TGD, Kolat, und die Bundestagsabgeordnete Dağdelen den Stopp der Beitrittsgespräche fordern, sehen EU-Außenbeauftragte Ashton, Grünen-Chef Özdemir und der EU-Erweiterungskommissar Füle hier »den letzten Hebel zur Unterstützung der Demokratie in der Türkei«. Washington, Berlin und Brüssel reagieren verschnupft auf die Polizeigewalt der Erdoğan-Regierung.
Doch das, was die »Leader« der Welt so nervös macht, ist keineswegs die Sorge um die Menschen, sondern die entfachte Veränderungsdynamik der Proteste im Land. Zum einen sehen sie das mögliche Abhandenkommen ihres Modells einer gemäßigt »islamischen Demokratie«, zum anderen müssen sie auf die Ängste der internationalen Finanzmärkte reagieren. Denn die Gefährdung der Stabilität bedroht die Sicherheit derer Kapitalanlagen und die »Neuordnung des Nahen-Ostens«.
Sie sehen, dass das vielgelobte »türkische Wirtschaftswunder« auf sehr wackeligen Beinen steht. Internationale Ratingagenturen warnen vor einer schweren Finanz- und Verwertungskrise, die sowohl auf die regionale, als auch auf die globale Ökonomie fatale Auswirkungen haben könnte. Die Reaktion der türkischen Wirtschaft zeugt davon: die Börse in Istanbul sackte ab und die türkische Lira musste Kursverluste hinnehmen. Der Rückgang des Wirtschaftswachstums von über 8 Prozent (2010 und 2011) auf 2,6 Prozent in 2012, das große Leistungsbilanzdefizit, die hohe Auslandsverschuldung und die exorbitant gestiegene Verschuldung der privaten Haushalte senden Alarmsignale aus. Und die Entwicklung in Syrien erfordert das Eingreifen, um eine katastrophale Kettenreaktion zu verhindern.
Die gut gemeinte Forderung von Kolat und Dağdelen mal ausgenommen: Die Debatte über Beitrittsgespräche zeugt vom Doppelmoral. Für EU-Eliten sind diese ein Faustpfand, um die strategischen und wirtschaftlichen Interessen gegenüber der Türkei zu wahren. Dabei weißt man in Brüssel zu gut: auch eine EU-Mitgliedschaft kann Entdemokratisierungstendenzen in einzelnen Länder nicht verhindern – siehe Ungarn. Abgesehen davon ist die EU selbst dabei, die Union und die bürgerlichen Demokratien Europas zu entkernen. Neoliberaler Umbau, Militarisierung der Außenpolitik, Delegitimierung von politischen Entscheidungsmechanismen und die Entmachtung der Parlamente – all dies ist weitgehend vollzogen.
Die Demokratisierung der Türkei ist keine Frage der EU-Mitgliedschaft, sondern eine Notwendigkeit. Sowohl in Kurdistan, als auch im Westen der Türkei haben unterschiedliche Bevölkerungsschichten mit diesen Protesten ihren Willen für einen Demokratisierungs- und Friedensprozess kundgetan. Was sie benötigen ist unsere Solidarität.
Die gesellschaftliche und politische Linke in Europa wäre gut beraten, anstatt sich an Scheindebatten über das Für und Wider einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu beteiligen, vor allem die eigenen Hausaufgaben zu erledigen. Eine demokratische Türkei, die ihre Nationalitätenfragen gelöst hat, sollte in einem Europa der weitgehenden Demokratie, des Friedens und EU-weit gleichen sozialen Standards willkommen geheißt werden. Dafür ist es notwendig, sich endlich vom Last des Eurozentrismus zu befreien und für ein solches Europa zu kämpfen. Denn Frieden und Demokratie in aller Welt beginnt vor unsrer eigener Türe. Denn; Taksim ist überall!