Dienstag, 20. Mai 2014

Arbeitsschutz unter Erdogan per Gesetz abgeschafft*


Die Trauer der Hinterbliebenen ist unermesslich, die Wut über die Regierung wächst, denn diese Bergwerkskatastrophe ist nicht zuletzt ein Produkt der Türkei als Labor des Neoliberalismus.
Die Katastrophe von Soma hat der Weltöffentlichkeit die elendige Realität der türkischen Arbeitswelt auf fatale Weise vor Augen geführt. Das Grubenunglück ist, auch wenn es durch einen explodierenden Trafo ausgelöst wurde, ein Ergebnis des neoliberalen Umbaus der Türkei, welcher seit 2002 von der Regierung mit aller Wucht fortgeführt wird. Die Türkei ist nicht mehr »nur« ein Labor des Neoliberalismus, sondern ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen par excellence.

Als die heute regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 die Regierung übernahm, hob sie als eine ihrer ersten wirtschaftlichen Maßnahmen die sogenannten Arbeitsschutzgesetze auf. Mit dem neuen Arbeitsgesetz Nr. 4857 vom 22. Mai 2003 wurden der Arbeitsmarkt flexibilisiert, die Rechte der Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, eine Beschäftigung »auf Abruf« eingeführt, befristete Arbeitsverhältnisse und der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet. Fortan konnten die Arbeitgeber ihre Beschäftigten untereinander so oft verleihen, wie sie es für notwendig hielten. Das war übrigens der Startschuss für das heute in der Türkei ausufernde Subunternehmertum.
Die Subunternehmen wurden in nahezu allen Bereichen eingesetzt – auch im öffentlichen Dienst. Die Zahlen der türkischen Statistikbehörde (TUIK) sprechen für sich: Während rund 16,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und nur knapp 700 000 Beschäftigte nach einem – wie auch immer gearteten – Tarif bezahlt werden, arbeiten rund elf Millionen Menschen im informellen Sektor ohne Absicherung.

Durch die Privatisierungen, die übrigens schon 1980 unter der damaligen Militärjunta begannen, wurden vor allem die Bergwerke zu Todesfallen für die Arbeiter. Laut TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10 600 Beschäftigte bei Arbeitsunfällen ums Leben. Alleine in den ersten vier Monaten dieses Jahres starben 396 Beschäftigte – darunter 23 Arbeiterinnen. Gewerkschaften und zahlreiche Initiativen bemängeln seit Jahren die völlige Vernachlässigung der Sicherheitsbestimmungen und des Arbeitsschutzes. Seit 19 Jahren verweigern die türkischen Regierungen zum Beispiel internationalen Verträgen zum Schutz in den Bergwerken ihre Unterschrift.
Nach dem Verfassungsreferendum von 2010 konzentrierte die AKP-Regierung, nachdem sie die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgehöhlt hat, sämtliche Entscheidungen über Lizenzvergabe und Bergwerkskontrollen bei einer bestimmten Abteilung des Ministeriums für Naturressourcen und Energie. Die Folge war, dass die Kontrollen über Sicherheitsbestimmungen in den Bergwerken vernachlässigt wurden und – wie von verschiedenen türkischen Zeitungen berichtet wird – die Kohle fördernden Unternehmen mit Gefälligkeitsberichten versorgt wurden.

Zudem ermöglichte die Regierung den Einsatz von zahlreichen Subunternehmen, deren Beschäftigungspraxis undurchsichtig war. Dieser Missstand ist übrigens einer der Gründe, warum die genaue Zahl der eingeschlossenen Kumpel in der Unglückszeche Soma nicht genannt werden kann.
Eine wesentliche Begründung für die Privatisierung der Kohleförderung war, dass die privaten Firmen Kostensenkungen besser umsetzen können. In Soma wurden jährlich 2,5 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Der zuständige Minister und der Firmenchef strahlten, als sie bekanntgaben, dass jetzt »eine Tonne Kohle anstatt 135 Dollar nur noch 24 Dollar kostet«. Den eigentlichen Preis bezahlten die Bergleute mit ihrer Gesundheit oder gar wie jetzt mit ihrem Leben. Für den Ministerpräsidenten ist das »ein Risiko des Berufes«. Eine zynische Feststellung. Was die Angehörigen der Opfer davon halten, haben sie ihm ins Gesicht geschrien: »Mörder Erdogan!« Das ist wohl dem Schmerz geschuldet. Wahr ist, dass Erdogan mit seiner Politik eine Hauptverantwortung für diese Grubenkatastrophe trägt.

Erdogan hatte nichts Besseres zu tun, als die Opfer zu verhöhnen. Am Katastrophenort erklärte er: »Solche Unfälle passieren ständig. Ich schaue zurück in die englische Vergangenheit, wo 1862 in einem Bergwerk 204 Menschen starben.«
* Aus: neues deutschland, Freitag 16. Mai 2014