Sonntag, 8. Juni 2014

»Kein Schicksal, sondern Mord mit Ansage!«*

Über das Grubenunglück von Soma und die Politik der Erdoğan-Regierung
Eigentlich bedarf es keiner Katastrophe um zu beweisen, dass Kohleabbau für Bergbauarbeiter, Anwohner_innen, Klima und Umwelt äußerst gefährlich ist – insbesondere wenn Grubenbetreiber aus Profitgründen den Arbeitsschutz systematisch vernachlässigen. Das Grubenunglück von Soma, bei dem über 300 Arbeiter ums Leben kamen, hat diese Binsenweisheit auf fatale Weise bestätigt. Aber nicht nur das: Soma offenbarte auch die Auswirkungen des weitgediehenen neoliberalen Umbaus in der Türkei und zum wiederholten Male die der kapitalistischen Profitlogik.

Die Reaktion der AKP-Regierung, die mit aller Macht die kritische Öffentlichkeit und Anwälte aus dem Unglücksort auszusperren versuchte, dient vor allem der Verhinderung einer Ursachenbestimmung. Selbst eine nur sachlich-technische Untersuchung würde offenlegen, was Gewerkschaften und oppositionelle Kräfte seit Jahren behaupten: dass für die systematische Vernachlässigung von Arbeitsschutz und Sicherheitsstandards das Profitstreben der Grubenbetreiber ebenso verantwortlich ist, wie die bewusste Verhinderung wirksamer Kontrollmechanismen durch politische Verantwortliche. Insofern hat einer der geretteten Kumpeln recht, als er in einem Interview feststellte, dass das Grubenunglück »kein Schicksal, sondern Mord mit Ansage« war.
So war es auch kein Zufall, dass der Ministerpräsident Erdoğan bei seinem Besuch im Unglücksort von Bergbauarbeitern und den Angehörigen der Opfer ausgebuht wurde – gerade in einem Ort, wo seine Partei noch bei den Kommunalwahlen am 30. März 2014 Erfolge gebucht hatte. Völlig irritiert von dem unerwarteten Protest wurden Erdoğan und seine Begleiter handgreiflich: ein Foto seines Beraters, wie er einen protestierenden Arbeiter mit Tritten attackierte, ging um die Welt. Dadurch demonstrierte die Erdoğan-Regierung, dass sie nicht nur gewillt ist, jede Form von Kontrolle und Protest zu unterdrücken, sondern dass sie bereits den Gedanken an jeglicher Kritik gegenüber ihrer autoritärer Politik für illegitim hält.
Aber Soma unterstrich auf tragische Weise auch die Dringlichkeit, die Verbindung zwischen der antiautoritären und kapitalismuskritischen Stoßrichtung des sich jährenden Juni-Aufstandes und dem Tod der Bergbauarbeiter auf breiter, solidarischer Basis herzustellen – was vor allem für die linke in der Türkei eine große Herausforderung darstellt.
Die Realität der türkischen Arbeitswelt
Lange Zeit galt die Türkei als ein erfolgreiches »Labor« des Neoliberalismus – immerhin ist sie, nach Chile, das zweite Land weltweit, in der das neoliberale Programm mit einem Militärputsch (1980) durchgesetzt wurde. Nach 2002, in der AKP-Ära, wurden bürgerliche Medien im Westen ob des »türkischen Wirtschaftswunders« nicht müde, Erdoğan zu loben. Doch hinter dieser Fassade stand ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Flexibilisierungen par excellence, dessen hässliche Fratze sich immer wieder in Autoritarismus und ungeheuren Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen offenbarte.
Eine der ersten wirtschaftlichen Maßnahmen der neoliberalen Konvertiten von der AKP war, als sie 2002 an die Macht kamen, die Aufhebung der sog. Arbeitsschutzgesetze. Mit dem Gesetz Nr. 4857 vom 22. Mai 2003 wurden die Rechte der Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, Gewerkschaften weiter geschwächt, eine »Beschäftigung auf Abruf« eingeführt, befristete Arbeitsverhältnisse sowie der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet und so der Arbeitsmarkt weitgehend flexibilisiert. Mit der Vereinfachung der Leiharbeit begann das heute in der Türkei ausufernde Subunternehmertum.
Welche Ausmaße das Subunternehmertum inzwischen angenommen hat, zeigen die Daten des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit: demnach werden von insgesamt 33.788 Privatfirmen Subunternehmer eingesetzt. Auch der öffentliche Dienst: 275 Institutionen und öffentliche Unternehmen beschäftigen Subunternehmer. Während 2002 insgesamt 387.000 Beschäftigte von Subunternehmern eingesetzt wurden, wuchs diese Zahl in 2013 auf mehr als 2,5 Millionen.
Das Subunternehmen-System ist für deren Beschäftigte besonders perfide. Es ist ein System, das in einer Kette von Großunternehmen, auf Subunternehmen, davon auf Sub-Subunternehmen, scheinselbständigen Vorarbeitern und letztendlich auf die einfachen Beschäftigten das Risiko und die Lasten der Beschäftigung aufbürdet. Während Großunternehmen oder die öffentlichen Institutionen das Beschäftigungsrisiko in all ihren üblichen Formen den Subunternehmen auflasten, setzt das Subunternehmen auf Akkordarbeit und minimiert so den Anteil der Lohnarbeit an den Produktionskosten. Die Arbeiter_innen müssen Akkordarbeit und Pauschalbezahlung akzeptieren, da sie ansonsten bei einem weiteren »Auftrag« nicht mehr wieder berücksichtigt würden.
Aber auch die Situation der übrigen Beschäftigten sieht nicht rosig aus. Eine oberflächliche Betrachtung von offiziellen Zahlen der staatlichen Statistikbehörde TUIK belegt dies: Zwischen den Jahren 2005 und 2013 wuchs die türkische Wirtschaft durchschnittlich um 4,4 Prozent. In gleichem Zeitraum jedoch hatten Beschäftigte in öffentlichen Unternehmen durchschnittlich einen reellen Lohnverlust von -0,2 Prozent zu beklagen – im privaten Sektor -0,1 Prozent. Laut TUIK sind rund 16,3 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, wobei die Zahl derjenigen, die nach einem – wie auch gearteten – Tarif bezahlt werden, gerade mal 700.000 ausmacht. Die TUIK-Daten weisen daraufhin, dass rund 5 Millionen Menschen nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden und dieser in den Jahren 2005 bis 2013 durchschnittlich um 2,6 Prozent gewachsen ist, Doch während der gesetzliche Mindestlohn in 2014 bei 297,00 Euro pro Monat lag, meldeten die Gewerkschaften, dass die Armutsgrenze für eine 4-köpfige Familie 2014 bei rund 1.161,00 Euro und die Hungergrenze bei rund 367,00 Euro liege. So viel zum »türkischen Wirtschaftswunder« und zur »Erhöhung« des Pro-Kopf-Einkommens, die von den bürgerlichen Medien in Europa so hoch gelobt werden.
In der AKP-Ära verschärften sich die Ausbeutungsverhältnisse zusätzlich durch die erhöhte Steuerungerechtigkeit. Laut TUIK betrugen die Staatseinnahmen in 2013 rund 367 Milliarden TL (128 Milliarden Euro), was 23,5 Prozent des BSP ausmacht – Übrigens: die AKP erhöhte diesen Anteil von 20 (2003) auf 23,5 Prozent (2013). Neuesten Berechnungen nach beträgt der Privatisierungserlös der letzten Dekade rund 60 Milliarden Dollar.
Doch, was sich als eine relative solide Einnahmesituation anhört, stellt sich beim näheren Hinsehen als eine ungeheure Ungerechtigkeit dar: indirekte Steuern und Gebühren machen rund 70 Prozent der Staatseinnahmen aus. Während der Anteil der Körperschaftssteuern gerade mal 9 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht, beträgt der Anteil der Einkommenssteuer rund 21 Prozent, wobei zwei Drittel dieser Steuer von den Lohnabhängigen bezahlt werden. Laut TUIK verfügt 20 Prozent der Bevölkerung auf über 50 Prozent des gesamten erwirtschafteten Reichtums und bekommt dazu noch Steuererleichterungen sowie Steuergeschenke vom Staat.
Soma: das neue Symbol des türkischen Kapitalismus
Der Bergbau ist ein besonderes Beispiel dafür, wie die AKP den neoliberalen Umbau vorantrieb und mit Sonderfördermaßnahmen unterschiedliche Kapitalfraktionen an sich bindet. Nehmen wir die Unglücksgrube Eynez in Soma: das staatseigene Betrieb »Türkische Kohleförderung« (TKI) ist Eigentümerin der Grube. Das Privatunternehmen »Soma Kömür Madeni A. Ş.« ist die alleinige Grubenbetreiberin – also quasi ein Subunternehmen. Viele staatseigene Gruben wurden so an Subunternehmen vergeben. Das ist eine besondere Form der Privatisierung ohne Eigentumsüberschreibung, weil die TKI sich vertraglich verpflichtet, jede Tonne der geförderten Kohle zu einem festgelegten Preis zu kaufen.
Die Kohle ist ein wichtiger Bestandteil der türkischen Energiewirtschaft und wird seit der Gründung der Republik vom Staat als »strategisches Gut« angesehen. Laut TUIK wurden 2011 in der Türkei insgesamt 228,4 Milliarden kWh Strom produziert. Der Anteil von Kohle an dieser Produktion lag bei 28,1 Prozent. Gerade in der Kohleproduktion wurde die Privatisierung mit aller Wucht vorangetrieben: während 2002 die staatlichen Investitionen in diesem Sektor bei 82 Prozent und die privaten Investitionen bei 18 Prozent lagen, änderte sich das in 2013 und die staatlichen Investitionen gingen auf 36 Prozent zurück, aber die Privaten erhöhten sich auf 64 Prozent.
Eine wesentliche Begründung für eine derartige Privatisierung der Kohleförderung war die zu erwarteten Kostensenkungen. Anfang 2014 strahlten der zuständige Minister Taner Yıldız und der Firmeninhaber Alp Gürkan, als sie gemeinsam bekanntgaben, dass nun eine Tonne Kohle aus der Grube in Soma, »anstatt 135,00 Dollar nur noch 24,00 Dollar« koste. Doch trotz dieser »Verbilligung« ist die Kohleförderung für Gürkan besonders profitträchtig. Da die TKI die gesamte Förderung kaufen muss, versucht das Unternehmen viel zu fördern. Dafür werden weitere Subunternehmer und scheinselbständige Vorarbeiter angeheuert, die die Arbeiter unter hohem Förderungsdruck arbeiten lassen. Die Arbeiter haben keine anderen Beschäftigungsalternativen, da die Landwirtschaft, wo sie vorher eine Beschäftigung fanden, in den letzten Jahren völlig aufgelöst wurde. Der Anteil der Beschäftigung in der Landwirtschaft ist von 45 Prozent (2001) auf 21,8 Prozent (2014) zurückgegangen.
In der AKP-Ära wurden die Subventionen für die Landwirtschaft (u. a. verbilligter Diesel für Landmaschinen) aufgehoben und die Bauern dem Marktdruck überlassen. Großeinkäufer drückten die Preise, so dass Bauern nur noch Verlustgeschäfte machten und sich immens verschuldeten. Diese Verschuldung hatte zur Folge, dass viele türkische Bauer zur Schuldentilgung ihre Äcker und weiteres Eigentum verkaufen mussten. Dadurch wurden sie entweder in die Binnenmigration gedrängt oder standen nun als Billigstkräfte für den Bergbau zur Verfügung.
Die Arbeiter der Unglücksgrube müssen durchschnittlich 12 oder mehr Stunden arbeiten, um den vorgegebenen Soll zu erfüllen. Dafür erhalten sie zwischen 455,00 Euro (Anfangsgehalt) und 561,00 Euro Lohn. In den Zeitungen wurde nach dem Grubenunglück Berichte veröffentlicht, in denen die Arbeiter angaben, dass sie »sogar Steine in die Körbe gelegt hätten«, um ihren Soll zu erfüllen. Dem Unternehmen wäre das »egal gewesen«, weil die TKI jede Tonne ungeprüft bezahlt habe. Da aber die Arbeit in der Grube schwer ist, ist es den Arbeitern nicht möglich, durchgehend einen Monat lang zu arbeiten. Um nicht völlig ausgelaugt zu werden, legen sie mehrere Tage Pausen ein, in denen sie aber andere Tätigkeiten im informellen Sektor verrichten.
Doch damit nicht genug: die AKP-Regierung hat nicht nur die Privatisierung der Bergwerke vorangetrieben, sondern auch die Sicherheitskontrollen der Gruben Privatfirmen überlassen. In Soma z.B. kam heraus, dass der Inhaber derjenigen Firma, welche für die Sicherheitskontrollen zuständig war, mit dem Grubenbetreiber verschwägert war. Landesweit sind solche privaten »Sicherheitsunternehmen« tätig, so dass die Bergwerke zu regelrechten Todesfallen für die Arbeiter wurden: Laut einer Studie, die im Auftrag von »TEPAV – Türkische Stiftung für wirtschaftspolitische Untersuchungen« von Selin Arslanhan und Hüseyin E. Cündioğlu durchgeführt wurde, kamen zwischen 1998 und 2008 insgesamt 2.554 Bergbauarbeiter durch Unfälle und Berufskrankheiten ums Leben. Alleine zwischen 2003 und 2014 starben bei Grubenunfällen 405 Kumpel. Rund 13.000 Arbeiter sind aufgrund solcher Grubenunfälle Erwerbsunfähig geworden.
In der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle besetzt die Türkei seit langem den Platz 1 in Europa und ist somit Weltspitze(!). Laut TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10.600 Beschäftigte ums Leben. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres über 700! Das ist das Ergebnis der völligen Vernachlässigung der Sicherheitsbestimmungen und des Arbeitsschutzes durch die AKP-Regierung. Die AKP hält an der unseligen Tradition ihrer Vorgängerregierungen fest: Seit 19 Jahren verweigern die türkischen Regierungen internationalen Verträgen zum Schutz in den Bergwerken ihre Unterschrift. Demgegenüber wird mit neuen flexiblen Gesetzen, die den Unternehmen völlige Freiheiten einräumen, die Kapitalakkumulation gefördert. Deshalb sprechen viele davon, dass Soma so zu einem lebhaften Symbol des türkischen Kapitalismus geworden ist.
Nach dem Grubenunglück: Zurück zur Tagesordnung?
Das Grubenunglück in Soma hat zwar überall in der Türkei eine breite Solidarisierungswelle ausgelöst und es fanden zahlreiche Proteste statt. Sogar in den regierungsnahen Medien wurde die kapitalistische Profitlogik angeprangert und die zuständige Gewerkschaft kritisiert. Mit der Unterstützung der Unternehmensführung hatte die Gewerkschaft Maden-İŞ, Mitglied im regierungsnahen Gewerkschaftskonföderation Türk-İŞ, das Tarifaushandlungsrecht erhalten. Einige Tage später musste die Gewerkschaftsleitung in Soma nach Protesten von Opferangehörigen und Gewerkschaftsmitgliedern zurücktreten.
Inzwischen ist Soma nicht mehr im Focus der Öffentlichkeit. Natürlich wurde während den Demonstrationen aus Anlass des Jahrestages des Juni-Aufstandes an die Soma-Arbeiter erinnert, aber die massive Polizeigewalt lies die Aufmerksamkeit auf Soma schwinden. Hier ist auch das größte Problem der gesellschaftlichen und politischen Opposition zu sehen.
Sowohl während des Juni-Aufstandes in 2013, den öffentlichen Diskussionen um den Korruptionsskandal als auch in den zahlreichen Kämpfen danach gelang es der gesellschaftlichen und politischen Opposition nicht, ein politisches Zentrum zu bilden, die als Alternative unterschiedliche Kräfte einen hätte können. Die Kommunalwahlen vom 30. März 2014 haben gezeigt, dass die AKP mit der Polarisierungsrhetorik von Erdoğan ihre Hegemonie innerhalb der armen Bevölkerungsteile ausgebaut hat und weder die Korruptionsvorwürfe, noch das berechtigte Aufbegehren des urbanen Prekariats keinen Einfluss auf die ökonomische Situation der Bevölkerung, somit keinen Einfluss auf die Entscheidung an der Wahlurne hatten.
Die AKP hat es geschafft, zum einen sich als »die« einzige Vertreterin der einfachen Leute darzustellen und zum anderen mit der sog. »sozialen Hilfe«, die nichts mit einer rechtlich verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun hat und eher ein islamisch orientiertes Wohltätigkeitssystem ist, die Armen an sich zu binden. Diesem Bild, in der sich eine »Fahnenträgerin des Neoliberalismus« als Wohltäterin für die unterdrückten Klassen darstellt, hat die zersplitterte Opposition nichts entgegenbringen können.

Dabei offenbarte Soma, dass das ein konstruiertes Bild ist. Für eine geeinte politische Opposition wäre die Offenbarung dieser Illusion eine Steilvorlage gewesen. Ohne Frage: als eine islamistisch-nationalistische Kraft, die ihre Fähigkeit sowohl nationalistisch-konservative türkische als auch konservative kurdische Wähler_innen anzusprechen wieder unter Beweis gestellt hat, ist die AKP eine starke Gegnerin. Dennoch kann eine politische Alternative, die es schafft, unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, oppositionelle Gruppen und soziale Bewegungen unter einem gemeinsamen Programm zusammenzubringen, die AKP-Hegemonie brechen. Unabdingbar dafür ist aber die Verbindung der sozialen Frage und der Nationalitätenfrage auf der Grundlage einer Klassenperspektive. Dies ist und bleibt wohl die größte Herausforderung für die linken in der Türkei und in Kurdistan.
*)Veröffentlich in Marxistischen Blättern