Donnerstag, 19. Mai 2016

Die Metamorphose des kemalistischen Laizismus

Über die herrschaftssichernde Laizismus-Debatte in der Türkei
Es war kein Geringerer als der Parlamentspräsident Ismail Kahraman, der mit seinem Vorschlag, »den Laizismus aus der Verfassung zu streichen und den Bezug zu Allah zu verankern« den Paukenschlag setzte. Immerhin ist Kahraman eines der AKP-Schwergewichte, den Erdogan sogar ehrenvoll »älterer Bruder« nennt. Kahraman gehört seit seiner Jugend dem politischen Islam an und war einer der Führer der antikommunistisch-faschistischen Studentenorganisation »Milli Türk Talebe Birligi MTTB« (Nationaler Türkische Studentenunion), die während der 68’er Studentenaufstände mit Morden an linken Studenten auf sich aufmerksam machte. Heute ist bekannt, dass diese Organisation mit CIA-Unterstützung gegründet wurde. Viele der heutigen AKP-Abgeordneten waren ehemalige MTTB-Mitglieder. Insofern hat die türkische Öffentlichkeit Kahramans Vorschlag als einen offiziellen AKP-Vorstoß verstanden und der Aufschrei war dementsprechend groß. Kemalisten und andere, oppositionelle Nationalisten fühlten sich bestätigt: Die Islamisten waren dabei, die Grundpfeiler der modernen Republik endgültig abzureißen.

In den bürgerlichen Medien des Westens wurde diese Entwicklung mit besorgten Kommentaren begleitet. War die Türkei, das letzte Bollwerk gegen die Flüchtlingsströme und das »Modellland« (C. Wulff), welches »den Islam und die Demokratie mit einander Kompatibel gemacht und so für Wohlstand und Freiheiten gesorgt hat«, dabei, sich vom Westen zu entfernen? Würde jetzt die Scharia gelten und nicht mehr die bürgerliche Gesetzgebung?
Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Es ist eine, auch von kapitalistischen Zentralstaaten gern genutzte Legende, dass die türkische Republik laizistisch sei – i. S. der bürgerlichen Revolutionen. Der »Laizismus alla turca« ist jedoch nichts anderes als ein Herrschaftsinstrument der kemalistischen Bourgeoisie. Ein kurzer Rückblick kann das bestätigen:
Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Die erste Verfassung trat 1924 in Kraft. Damit wurde das Kalifat nebst dessen bürokratischem Apparat abgeschafft. 1926 wurde das Bürgerliche Gesetz erlassen und 1928 wurde die Bestimmung »Islam ist die Staatsreligion und das Nationalparlament ist zuständig für die Umsetzung der Scharia-Bestimmungen« aus der Verfassung gestrichen. 1937 wurde das Prinzip des Laizismus in die Verfassung aufgenommen.
Vom Laizismus wurde aber nicht die Trennung vom Staat und Religion verstanden, im Gegenteil: der kemalistische Laizismus war der Hauptinstrument für die Formung der »neuen türkischen Nation« auf der Grundlage des sunnitischen Islams und diente für die staatlichen Interventionen in das religiöse Alltagsleben der mehrheitlich sunnitisch-konservativen Gesellschaft. Damit bekamen die kemalistische Bourgeoisie und die Staatsbürokratie die Möglichkeit, ihre originären Interessen religiös zu untermauern.
Nach 1946 war es das erklärte Ziel der türkischen Regierung, »durch die Einführung des Religionsunterrichts in allen Schulen, die moralische Widerstandskraft der Bevölkerung gegen die kommunistische Propaganda zu stärken«. Damit begann nicht nur die staatliche Ausbildung der Imame, sondern auch die Förderung von antikommunistisch-faschistischen Organisationen wie »Verein zur Bekämpfung des Kommunismus« oder später MTTB.
Im Oktober 1950 hatten die Imame den Auftrag, die Kriegsbeteiligung der Türkei an der Seite der USA gegen Korea religiös zu unterstützen. Auch die NATO-Mitgliedschaft in 1952 wurde in den Moscheen als »notwendiger Schritt zum Schutze des Islams« dargestellt. 1965 wurde das 1924 gegründete »Amt für Religiöse Angelegenheiten« (Diyanet) direkt dem Nationalen Sicherheitsrat unterstellt und fortan wurden die Freitagspredigte, die an allen Moscheen des Landes vorgetragen wurden, vom Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates genehmigt.
Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verstärkte sich die Unterordnung des sunnitischen Islams unter die Staatsideologie. In der Juntaverfassung von 1982 wurde dem »Diyanet« weitere Aufgaben zugeteilt, die bis heute gültig sind. So hat »Diyanet« die Aufgabe, »die gesellschaftliche Integration und Einheit gegen Kommunismus, gegen Separatismus und gegen den Terror zu stärken«. Dem entsprechend sind alle Imame gehalten, in den Moscheen für »Zustimmung der Gemeinden für Regierungspolitik zu werben« und »den Kampf gegen den Terrorismus sowie gegen kommunistische und separatistische Umtriebe zu unterstützen«.
Entgegen der in den bürgerlichen Medien verbreiteten Meinung, dass die Armee »Beschützerin des Laizismus« sei, war es stets die kemalistische Generalität, die die sunnitisch-konservative Religionsauffassung gefördert hat. So hat sich die Zahl der Predigerschulen gerade nach dem Militärputsch von 1980 verzehnfacht. So konnte der neoliberale Umbau, welche mit dem Putsch durchgesetzt wurde, eine religiös-gesellschaftliche Legitimität erlangen.
Aber umgekehrt hat der staatlich unterstützte politische Islam den kemalistischen Laizismus als »paternalistische Unterdrückung der religiösen Bevölkerung« darstellen und die sunnitisch-konservative Hegemonie für ihre Organisierung nutzen können. Insbesondere die AKP konnte mit dieser Erzählung – und natürlich mit ihrem Versprechen, durch Demokratisierung und Wohlstand die kurdische Frage lösen zu wollen – binnen kurzer Zeit die Unterstützung der armen, sunnitisch-konservativen Bevölkerungsmehrheit gewinnen. Nun waren »Leute, wie du und ich«, deren Frauen Kopftuch trugen, an der Macht und hatten scheinbar die kemalistischen Eliten zurückgedrängt.
Was Jahrzehnte lang der Herrschaftssicherung der kemalistischen Eliten diente, transformiert sich nun zu einem Instrument, mit dessen Hilfe jene »islamischen« Kapitalfraktionen, deren neoliberale Politik sich in der AKP manifestiert, ihre Herrschaft absichern wollen. Das stärkste politische Zentrum des Konservatismus, die AKP, ist dabei, in jacobinischer Manier ihr reaktionäres Gesellschaftsbild über die Islamisierung des Alltags durchzusetzen und ein autoritär-neoliberales Sicherheitsregime zu installieren. Ihre scheinbare Kritik an dem kemalistischen Laizismus dient ihr dabei als herrschaftssichernde Debatte und zur Konsolidierung ihrer gesellschaftlichen Basis.

In ihrem Bemühen, ein autoritäres Präsidialsystem durchzusetzen – was im Grunde ein Protektoratsversprechen an die sunnitisch-konservativen Kapitalfraktionen ist –, macht die AKP keinen Hehl daraus, die traditionellen Strukturen des kemalistischen Laizismus für eine Diktatur des sunnitischen Islams nutzen zu wollen – für eine Staatsreligion, die keine anderen Glaubensgrundsätze neben sich duldet und der den Neoliberalismus und eine aggressive Außenpolitik zu ihrem Heiligtum erklärt hat. Die einzigen Kräfte, die diese Entwicklung stoppen könnten, sind die säkularen Kräfte der Türkei: die Arbeiterbewegung, die türkische Linke und die kurdische Bewegung. Die Zukunft der modernen Türkei wird davon abhängen, ob diese Kräfte die große Herausforderung des gemeinsamen Kampfes meistern können.