Donnerstag, 19. Mai 2016

Die Metamorphose des kemalistischen Laizismus

Über die herrschaftssichernde Laizismus-Debatte in der Türkei
Es war kein Geringerer als der Parlamentspräsident Ismail Kahraman, der mit seinem Vorschlag, »den Laizismus aus der Verfassung zu streichen und den Bezug zu Allah zu verankern« den Paukenschlag setzte. Immerhin ist Kahraman eines der AKP-Schwergewichte, den Erdogan sogar ehrenvoll »älterer Bruder« nennt. Kahraman gehört seit seiner Jugend dem politischen Islam an und war einer der Führer der antikommunistisch-faschistischen Studentenorganisation »Milli Türk Talebe Birligi MTTB« (Nationaler Türkische Studentenunion), die während der 68’er Studentenaufstände mit Morden an linken Studenten auf sich aufmerksam machte. Heute ist bekannt, dass diese Organisation mit CIA-Unterstützung gegründet wurde. Viele der heutigen AKP-Abgeordneten waren ehemalige MTTB-Mitglieder. Insofern hat die türkische Öffentlichkeit Kahramans Vorschlag als einen offiziellen AKP-Vorstoß verstanden und der Aufschrei war dementsprechend groß. Kemalisten und andere, oppositionelle Nationalisten fühlten sich bestätigt: Die Islamisten waren dabei, die Grundpfeiler der modernen Republik endgültig abzureißen.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Die »getürkte« Kandidatur

Über den Flüchtlingspakt mit dem EU-Beitrittskandidaten Türkei
Ende April besuchten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Ratspräsident Donald Tusk ein Flüchtlingslager nahe der türkisch-syrischen Grenze. Was Merkel und Tusk bei diesem Besuch sagten, mag vielleicht den diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet sein, aber ob sie den Wahrheiten entsprechen, ist sehr zweifelhaft. Während Merkel »die Anstrengungen der Türkei in der Flüchtlingskrise« in hohen Tönen lobte und sich für »den allergrößten Beitrag bei der Bewältigung der Krise« bedankte, würdigte Tusk »die Leistungen der türkischen Regierung«. Die Türkei sei »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«. Und keiner habe daher »das Recht, belehrend auf die  Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe erhielten sie einen Tag später vom Bundespräsidenten Joachim Gauck: es müsse »auch die Tatsache betrachtet werden, dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben«.

Montag, 2. Mai 2016

Das HDK-Europa Projekt: Exilvertretung oder basisdemokratische Bündnisse?

Über die Bemühungen türkeistämmige und kurdische Organisationen unter einem Kongressdach zusammenzubringen, Murat Çakır
Seit Jahrzehnten versuchen Vereine und Verbände von linken, sozialistischen und kommunistischen Migrant*innen aus der Türkei und Kurdistan in Europa themenbezogene Bündnisse aufzubauen. Es sind i. d. R. aktuelle Entwicklungen in der Türkei und in Kurdistan, die zu solchen, meist befristeten Bündnissen und gemeinsamen Aktionen führen. Für die beteiligten Organisationen haben diese Aktionsbündnisse Vorteile in doppelter Hinsicht: Zum einen werden durch konkrete gemeinsame Aktivitäten die Kommunikation zwischen den Verbänden verbessert und das gegenseitige Vertrauen ausgebaut. Zum anderen führen die massenhaften Aktionen und gemeinsam formulierte Forderungen zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung und ziehen die Aufmerksamkeit der Medien, politischen Parteien, Parlamenten und Regierungen auf diese Forderungen. Dennoch kann bilanziert konstatiert werden, dass weder eine nachhaltige öffentliche Wahrnehmung, noch ein nachhaltiger Einfluss auf politische Entscheidungsmechanismen erreicht werden konnte. Das hat verschiedene Gründe.

Freitag, 12. Februar 2016

Angewiesen auf Zusammenarbeit mit Despoten?

Über die Türkeipolitik der EU und die Rolle der BRD
Just in den Tagen, in denen vor den Augen der Weltöffentlichkeit kurdische Ortschaften vom türkischen Militär und Spezialeinheiten der Polizei umlagert, dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten – vor allem Kinder und Frauen auf offener Straße hingerichtet wurden und der schmutzige Krieg der Herrschenden in der Türkei eine neue Eskalationsstufe erreichte, fanden in Berlin und Brüssel zwei wichtige Ereignisse statt.

Dienstag, 1. Dezember 2015

Grenzen des linken Populismus in der Türkei


Von Errol Babacan und Murat Çakır

Nach den Neuwahlen am 1. November 2015 ist die Enttäuschung in der linken und kurdischen Opposition der Türkei groß. Die AKP erzielte ein Ergebnis nahe an 50 Prozent, womit sie erneut über eine absolute Mehrheit verfügt. Die größte Oppositionspartei CHP erreichte das Ergebnis vom Juni, während die beiden anderen Oppositionsparteien MHP und HDP Verluste verzeichneten. Sie verloren jeweils einen Teil ihrer Wählerschaft an die AKP, schafften jedoch den Sprung über die Zehnprozenthürde.

Donnerstag, 19. November 2015

Die Pistole an der Schläfe

Journalismus in der Türkei ist vor allem für Linke riskant. Seit einiger Zeit aber auch für Kreise, die zuvor das Geschäft der AKP-Regierung betrieben
Aus: »junge Welt« vom 19.11.2015
Repressionen gegen Journalisten und Redaktionen in der Türkei sind derart alltäglich, dass Meldungen über Razzien bei regierungskritischen Medien – wie etwa vor einer Woche – kaum noch Skandalwert haben. Betroffen waren diesmal Redaktionsräume der Zeitung Zaman, ihrer englischsprachigen Ausgabe Today's Zaman und der zur selben Gruppe gehörenden Zeitschrift Aksiyon, die noch nicht lange zu den »üblichen Verdächtigen« zählen.

Montag, 2. November 2015

Angst hat gesiegt – AKP weiter an der Macht

Parlamentswahlen in der Türkei – Eine Wahlnachtanalyse
Die Parlamentswahlen vom gestrigen Sonntag haben alle Beobachter*innen überrascht. Erdoğans Angst- und Eskalationsstrategie ging auf: Die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 wurden zugunsten der AKP »korrigiert«. Am 1. November 2015 holte die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Hoffnung) ihre Parlamentsmehrheit zurück. CHP (Republikanische Volkspartei) konnte ihre Position nicht ausbauen und bleibt die größte Oppositionspartei. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) wurde trotz Verluste die drittstärkste Kraft im Parlament und konnte die hohe Wahlhürde wieder überwinden. Die neofaschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ist schwer angeschlagen und bleibt die größte Wahlverliererin.