Freitag, 24. Dezember 2010

Ein offener Brief an Frau Böhmer....



Sehr geehrte Frau Böhmer,

beim Betrachten Ihrer Kampagne "Raus mit der Sprache – Rein ins Leben" springen die Ähnlichkeiten mit der von der Kunstwerkstatt errorist 2009 gestarteten Kampagne "qwx-show ur lingua" ins Auge. In letzter Zeit bekamen wir mehrere Hinweise auf die offensichtlichen Parallelen, und in der Tat könnte man meinen, dass die durch die Deutschlandstiftung Integration beauftragte Agentur DDB von unserer Kampagne "inspiriert" sei. Seien Sie unbesorgt – ein Plagiatsvorwurf soll nicht Gegenstand dieses Schreibens sein.

Viel mehr interessiert es uns, die brisanten politischen Aspekte zur Sprache zu bringen, die sich aus der Juxta-Position der beiden Kampagnen ergeben. Unsere Aktion „qwx-show ur lingua“ thematisiert die repressive Sprachpolitik eines Staates gegenüber seinen Minderheiten. Die türkische Republik ist seit ihrer Gründung bestrebt, zugunsten einer einheitlichen Nation innere kulturelle Differenzen auszulöschen. Zentrales Instrument dessen ist die Sprachpolitik. In Schulen und beim Militär wurden Minderheiten zur türkischen Sprache geprügelt. Als psychologisches Mittel zur Durchsetzung des Sprachverbotes bediente sich die türkische Obrigkeit fragwürdiger Überwachungsmethoden: Schulkindern wurde auf die Zunge geschaut, um zu kontrollieren, ob sie heimlich ihre Muttersprache gesprochen hatten. Diese bizarre Züchtigungstechnik war Anstoß unserer Kampagne. Wir haben eine Online-Galerie erstellt, auf der Menschen seit März 2009 Bilder von sich hochladen können – mit herausgestreckter Zunge. Durch das selbstbestimmte Zeigen der lingua als Verweigerung von Gehorsam wird oben beschriebene Disziplinierungstechnik bei uns subversiv umgedeutet. „qwx-show ur lingua“ spielt mit dem Homonym "lingua", das sowohl "Sprache" als auch "Zunge" bedeutet. Die Buchstaben q, w und x sind Symbole der repressiven Sprachpolitik der Türkei, da sie im türkischen Alphabet nicht vorkommen und ihr Gebrauch jahrzehntelang strafrechtlich verfolgt wurde. Politisches Ziel unserer Aktion ist es, sprach- und namenlosen Minderheiten Artikulationsraum für ihre Forderungen nach muttersprachlicher Bildung und institutioneller Anerkennung zu bieten. Dieser Raum wird nun durch Ihre Kampagne erheblich gestört. "Raus mit der Sprache. Rein ins Leben" verdreht nämlich mittels derselben Bildsprache die Anliegen von "qwx- show ur lingua":

Ihre Integrationskampagne hat die Assimilation von MigrantInnen zum Ziel, während sich unsere Kampagne exakt gegen eine nationalistische Negation kultureller Differenzen richtet. Unsere Kampagne kann partizipatorisch genutzt werden, indem Menschen Bilder mit IHRER eigenen lingua einsenden – als Akt emanzipatorischer Artikulation. Von Ihrer Kampagne hingegen werden den Vorstellungen der Deutschland-Stiftung entsprechende MigrantInnen vorgezeigt, deren Zunge mit den deutschen Nationalfarben angestrichen wurde. Was bei uns Züchtigungstechniken bewusst ad absurdum führt, erinnert bei Ihnen – vermutlich unfreiwillig – an ebensolche. Das Zeigen der Zunge, ein universelles Zeichen des Ungehorsams, das wir uns zunutze machen, wird bei Ihnen verwurstet: zum deutschtümelnden Gelübde. Zu alledem enthält ihre Kampagne mannigfache rassistische Implikationen. Durch die von Ihnen vorgenommene Auswahl von Menschen wird ein Anderssein markiert – und damit im Umkehrschluss und unausgesprochen auch ein Eigentliches: das Bild eines „Normalbürgers“ als weiß und des Deutschen mächtig. Das vermittelt die Bildsprache. Der Untertext „Rein ins Leben“ suggeriert, dass sich dieser Markierte, zum Anderen gewordene, außerhalb des Lebens befindet – mit infantilisierenden Anklängen an Verhör und Verdächtigung durch die flapsig vorangestellte Aufforderung „Raus mit der Sprache“. Durch das Hinzufügen der Nationalfarben als Eintrittskarte in dieses von Ihnen umrissene Leben wird damit im Umkehrschluss zugleich ein Defizit markiert. Die mitgelieferten Botschaften lauten: Wer hier nicht deutsch spricht sei mangelhaft und das Erlernen des Deutschen führe zu Chancengleichheit. Während die erste Implikation schlicht rassistisch ist, ist die zweite an Zynismus kaum zu überbieten. Ihre auf der Website der Stiftung noch ausgeführte Botschaft: "Wer gut Deutsch spricht, kann den sozialen Aufstieg schaffen!", lenkt ab von gesellschaftlichen Realitäten wie strukturellem Rassismus, institutioneller Diskriminierung und soziokulturellen Ausgrenzungsmechanismen. Als verantwortlich für die soziale Situation einer Person mit Migrationshintergrund erscheint, betrachtet man Ihre Kampagne, ausschließlich diese Person selbst und ihre individuelle Sprachkenntnis. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wem nützt eigentlich die Kampagne? Werfen wir einen Blick in die Hinterzimmer der Deutschlandstiftung Integration: die personellen Verknüpfungen, die wir dort sehen, stellen die Glaubwürdigkeit ihres vermeintlichen Anliegens stark in Frage. Was von einigen Köpfen der Stiftung sonst noch geschmiedet wird ist die rechtspopulistische Kehrseite der vermeintlich auf "Verständigung" abzielenden Integrationsbestrebungen – vorangetrieben von deutscher und türkischer Yellow-Press, die beide prominent im Vorstand vertreten sind: durch Kai Diekmann vom Axel Springer Verlag und Sevda Boduroglu von der entsprechenden türkischen Dogan-Gruppe. Beide Verlage sind bekannt für ihre systematische Stigmatisierung von Marginalisierten – und diese von ihnen erzeugte tagtägliche mediale Dämonisierung dient der Aufrechthaltung und Legitimation politischer, sozialer und rechtlicher Ausschlussmechanismen.

Unsere Kampagne ist gegen solche Dämonisierungmaschinen gerichtet. Die Veröffentlichung zungezeigender Menschen auf „qwx-show ur lingua“ macht Bilder zugänglich, die Stereotype aushebeln und typische herrschende Erwartungen an Minoritäten wie Gefälligkeit und zuvorkommende Höfflichkeit enttäuschen. Wir fragen noch einmal: Wem nützt Ihre Kampagne? Bei anstehenden staatlichen Sanktionen gegenüber Marginalisierten ist mediale Vorarbeit nötig, um ihre Legitimation in der Mehrheitsbevölkerung zu gewährleisten. Dies wird erledigt: von der Yellow-Press mittels Dämonisierung – aber auch von „Raus mit der Sprache - Rein ins Leben“ – der vermeintlich gut gemeinten „Integrationskampagne“ – die eine Unterscheidung zwischen „Integrationswilligen und –unwilligen“ möglich macht, die die Schuld an struktureller Benachteiligung auf Marginalisierte abwälzt und die damit den weiteren Ausschluss der so Markierten als legitim erscheinen lässt.

Fazit unserer Analyse: Ihre Kampagne ist ein verzweifelter Versuch, die Verantwortung für sozialpolitische Missstände von sich zu weisen. Zugleich dient sie der Aktualisierung des maroden deutschnationalen Selbstbildes durch rassistische Markierung von Defiziten an „Anderen“. Die Kunstwerkstatt errorist nimmt stets die als ungünstig erscheinende Position des Anderen ein. Sollte Ihre Kampagne also fortgesetzt werden, würden wir uns gezwungen sehen, den von „qwx-show ur lingua“ geschaffenen und von Ihnen beschädigten Raum mit erroristischen Aktionen zu verteidigen.

Take care, erroristNetwork