Donnerstag, 20. Januar 2011

Tunesien: Eine echte Revolution?

Die aufregende Entwicklung in Tunesien hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Nord Afrika und die arabischen Länder gelenkt. So wie es scheint, sind die arabischen Regime in heller Aufregung und in den Herrscherhäusern blickt man mit Sorge nach Tunesien. Es ist keine Frage, die Entmachtung eines seit 23 Jahren sein Volk und das Land ausplündernden Tyrannen ist eine gute Nachricht und ein berechtigter Grund für die Angst der arabischen Herrscher. Aber ein bisschen Zweifel und einige Fragen scheinen mir trotzdem angebracht zu sein.

Doch vorab sollte ich darauf hinweisen, dass die arabischen Länder und insbesondere Nord Afrika nicht unbedingt mein Fachgebiet sind. Daher sollte dieser Artikel als ein Suchen nach richtigen Fragen bewertet werden.

Obwohl ich mich über die Flucht des ehemaligen Tyrannen Zine Abidin El Ben Ali, mitsamt seiner Verwandtschaft riesig gefreut habe, haben mich doch ein Foto in der FAZ und die scheinheiligen Begrüßungsrituale der westlichen Medien sowie der EU-Eliten etwas stutzig gemacht. Auf dem Foto sah man modern angezogene TunesierInnen vor einem Panzer, mit einem Soldaten lächelnd posieren. Und in den verschiedenen deutschen Blättern konnte man Berichte über die positiven Statements der EU-Eliten lesen. Die EU-Außenbeauftragte Lady Catherine Ashton ließ verlautbaren, dass »bei der EU derweil über ein Maßnahmenpaket beraten« werde, »um den demokratischen Wandel in Tunesien zu unterstützen«. Der Schweizer Bundesrat beschloss wiederum, das Vermögen Ben Alis im Land zu blockieren.

So weit, so gut. Doch da ich sehr argwöhnisch bin, wenn EU-Eliten von »Demokratisierung« eines Drittlandes sprechen, fragte ich mich: warum? Warum wollen die deutschen und europäischen AußenpolitikerInnen, die Jahrzehntelang dem diktatorischen Treiben des Tyrannen Ben Ali zugeschaut und ihn, wie Jan van Aken zu recht meint, »als einen verlässlichen Partner angesehen haben«, auf einmal »den demokratischen Wandel« unterstützen? Warum will eine EU, deren »Nachbarschaftspolitik« den »Regime Change« in Interessengebieten vorsieht, im Innern Demokratieabbau betreibt und ihre Außenpolitik militarisiert und zu Genüge bewiesen hat, dass Menschenrechte und Demokratie nur Lippenbekenntnisse sind, einem Volksaufstand »zur Hilfe eilen«?

Aber stellen wir doch die eigentliche Frage: kann man die Entwicklung in Tunesien als »eine echte Revolution« bezeichnen, so wie der Gründer der Arab European League und dessen früherer Präsident Dyab Abou Jahjah meint? Und stimmt die Feststellung der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, dass »die Armee in ihrer Gesamtheit vom Volk besteht«?

Ein früherer Genosse von mir und heutiger Kolumnist der türkischen Tageszeitung Taraf, Nabi Yagci meint in seinem Kommentar, dass »die entscheidende Kraft für den Wechsel in Tunesien die Mittelschichten« seien. Als Laie in Sachen Tunesien, der sich über Internetnachrichten informiert, muss ich dieser Feststellung zustimmen. Es ist in der Tat so, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, der wachsende Wohlstand der modernen Mittelschichten, aber vor allem ihr Willen, an politischen Entscheidungsprozessen des Regimes, in die sie durch die »Bestechungen« Ben Alis kooptiert waren, ein Katalysator der jüngsten Entwicklungen waren. Doch das ist nicht die Frage. Die eigentliche Frage ist, wo die Grenze ihres »Revolutionseifers« liegen wird.

Sicher hat auch die Armeeführung eine wichtige Rolle dabei gespielt. Aber die Auffassung der KP kann ich beim besten Willen nicht teilen. Denn die Armeeführung ist keineswegs der Garant einer wirklichen demokratischen Transformation. Es ist eher anzunehmen, dass die Armee bei der Verhinderung eines Ausuferns des Volkszorns tätig sein wird. Ich teile die Auffassung einiger türkischer Linken, dass der Grund für die Parteinahme der Armee zugunsten des Wechsels darin liegt, dass das Regime Ben Alis sich nicht der 35-tausend-köpfigen Armee, sondern dem Staatssicherheits- und Polizeiapparat mit 170 Tausend Mann stützte. Sowohl die Zahl der »zivilen« Staatsschützer, als auch deren Privilegien waren der Grund für die Unzufriedenheit tunesischer Generalität.

Die Weigerung der Armeeführung, die Befehle von Ben Ali gegen die Bevölkerung auszuführen, ist sicherlich der Grund für die Sympathien des Volkes, aber keinesfalls eine Garantie dafür, dass die Armee ihre Gewehrläufe »zum Schutze des Staates« irgendwann nicht gegen die eigene Bevölkerung richten könnte. Die hinnehmende Haltung der Generalität in den letzten zwei Jahrzehnten sollte doch zu denken geben. Hinzukommt noch die Tatsache, dass die alten Eliten immer noch die Schlüsselpositionen besetzen und Teile der Opposition durchaus geneigt sind, »die alten Minister« und somit ihr Apparat, die »mit ihrer Erfahrung in der schwierigen Übergangsphase gebraucht würden«, in der neuen Regierung zu halten. Zwar ebben die Proteste gegen diese Haltung nicht ab, aber man kann sicher sein, dass die bürgerlichen Kräfte auch in der Zukunft, aus »Staatsräson« freilich, an alten RCD-Kadern festhalten werden. Die Austritte von Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchi und einigen anderen Partei- und Staatsfunktionären aus der RCD Ben Alis ist ein sicheres Zeichen dafür.

Daher gibt es für die EU-Eliten keinen Grund zur Sorge. Sie wissen, dass sowohl die Armeeführung als auch die neuen (Mit-)Machthaber sowie die sie tragenden bürgerlichen Kräfte an einem kapitalistischen Entwicklungsweg unter den Diktaten des Westens festhalten werden. Sicher, ein Tyrann wurde entmachtet. Aber von einer Revolution kann noch keine Rede sein – eher von einer Veränderung, dessen Grenzen absehbar sind. Noch haben die Volksmassen, die Armen und abhängig Beschäftigten ihr letztes Wort nicht gesprochen. Doch würden sie sich nur mit dem derzeit Erreichten begnügen, würden sie nur der Fortführung ihrer Sklaverei unter einer neuen Herrschaftsform zustimmen. Der »alte Wein wäre in neuen Schläuchen«.

Karin Leukefeld hat recht. Es gibt eine »Lektion von Tunesien«. Aber diese Lektion ist eine Alte – nämlich die Lektion von der »Schwerkraft der Revolution« wie Rosa Luxemburg mal schrieb: »Entweder wird die Lokomotive mit Volldampf den geschichtlichen Anstieg bis zum äußersten Punkt vorangetrieben, oder sie rollt durch die eigene Schwerkraft wieder in die Ausgangsniederung zurück und reißt diejenigen, die sie auf halben Wege mit ihren schwachen Kräften aufhalten wollen, rettungslos in den Abgrund mit«. Kurzum, lassen wir die Volksmassen in Tunesien ihr letztes Wort sprechen. Dann werden wir mit Sicherheit wissen, womit wir es zu tun haben.