Sonntag, 27. Oktober 2013

Der »Juni-Aufstand« in der Türkei*

Das Aufbegehren gegen die Hegemonie der neoliberal-islamistischen AKP-Regierung
*)Vorab Veröffentlichung aus der Zeitschrift Emanzipation
Es war sicherlich kein Zufall, dass sich die Massenproteste außerhalb der kurdischen Gebiete gegen die autoritäre Herrschaft der neoliberal-islamistischen AKP-Regierung gerade in einer Metropole wie Istanbul entzündet haben. Immerhin ist Istanbul, die »Global-City«, die laut MasterCard Index of Global Destination Cities (2011) die fünfte Großstadt mit den meisten Dollar-Milliardären ist, zu einem Synonym für neoliberale Gentrifizierungsprozesse geworden.

Auch wenn westliche Medien gerne die Transformation von Istanbul zum »Global City des 21. Jahrhunderts« als ein Ergebnis des sogenannten »türkischen Wirtschaftswunders« darstellen mögen, so werden auch in Istanbul die klassischen neoliberalen Stadt(um)baupolitiken mitsamt der »Quartiers-Veredelungen«, Entkernungen, Privatisierungen, Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und sozialen Verdrängungsprozessen deutlich sichtbar, die überall in der Welt anzutreffen sind. Große Einkaufzentren, Gated Communities, Technoparks, Banken- und Börsenviertel, Luxusresidenzen, Yachthäfen, Megaprojekte – kurzum alles, womit die Stadt zu Inseln der größtmöglichen Renditen für das globalisierte Kapital aufgeteilt wird, ist in Istanbul zu finden. Zwangsräumungen von Stadtteilen, Zwangsverstaatlichungen als Vorbereitung für große Privatisierungswellen, Nutzungsverbote sowie das gesamte Arsenal der staatlichen wie kommunalen Maßnahmen zeugen von der »meisterhaften« Umsetzung einer eiskalt vollzogenen Gentrifizierungsstrategie.
Die städtebaulichen und planerischen Entscheidungsmechanismen in den türkischen Städten sind mit Gesetzesveränderungen, Gleichschaltung der Justiz und insbesondere durch die Entmachtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit weitgehend entdemokratisiert worden. Kommunalverwaltungen, die an sich als Erfüllungsgehilfen insbesondere der Bauwirtschaft gesehen werden müssen, sind nur noch Befehlsempfänger zentralisierter Ministerialbürokratie. Selbst der Oberbürgermeister der Stadt Istanbul gab in einem Interview zu, dass die Umgestaltung des Gezi-Parks am Rande des Taksim-Platzes auf Befehl des Ministerpräsidenten vorgenommen wurde.
Das kommt nicht von Ungefähr: Seit 2002, den letzten drei Legislaturperioden unter der AKP-Parlamentsmehrheit, wurden kontinuierlich gesetzliche Schranken abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter im Wege standen. Insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010 bekam die AKP-Regierung Instrumente an die Hand, mit denen sie die örtlichen Verwaltungsgerichte handlungsunfähig machen konnte, die zuvor auf Anrufung von Bürger_inneninitiativen zum größten Teil solche Privatisierungsmaßnahmen stoppen konnten. Mit Dekreten in Gesetzeskraft verfügte die Regierung die Privatisierung von Wald- und Weideflächen, Flüssen und Bächen sowie größerer Areale im Staatsbesitz, womit zusätzlich die Binnenmigration der ländlichen Bevölkerung verschärft wurde. Dies hatte auch zur Folge, dass die früheren Binnenmigrant_innen, die seit Jahren am Rande der Großstädte in verarmten Stadtteilen leben und sich über ihre Familienangehörigen in den Dörfern mit Lebensmittel versorgten, diese Möglichkeit – was auch als eventueller Rückzugsraum in Krisenzeiten gedacht wurde – nach und nach verloren.
Diese Entwicklung stößt seit längerem in Stadt und Land auf Gegenwehr. Jedoch, die Proteste waren fragmentiert und jedes Aufbegehren wurde seitens der AKP-Regierung mit massiven polizeistaatlichen Mitteln bekämpft. Fast überall regte sich Protest und Widerstand – sei es gegen Zwangsvertreibung der Sinti und Roma aus ihrem seit Jahrhunderten angestammten Stadtteil Sulukule, sei es gegen die ökologische Zerstörung durch zahlreiche private Wasserkraftwerke im Schwarzmeergebiet oder Goldabbau an der Ägäis; sei es gegen Nutzungsumwandlung von Parks und Plätzen in den Großstädten oder gegen die paternalistische Bevormundung durch die autoritäre Islamisierung des Alltäglichen. Von dem Kampf der kurdischen Bevölkerung um Gleichberechtigung und demokratische Rechte ganz zu schweigen. Aber all diese Proteste und Widerstände waren von einander isoliert und hatten keine landesweite Dynamik entfalten können. [1]
Ein Funke, die Besetzung des Gezi-Parks und dessen anschließende gewaltsame Räumung, reichte aus um zu zeigen, was passieren kann, wenn die voneinander isolierten Protestbewegungen sich vereinen würden: Politikverdrossene und traditionelle Linke, Laizisten und »antikapitalistische Muslime«, LBGT*-Aktivist_innen, Feministinnen unterschiedlicher Couleur und (ansonsten verfeindete) Fußballfans, Kemalisten und die kurdische Bewegung bildeten gemeinsam den Protest gegen die Repression und Polizeigewalt. Die lange aufgestaute Wut hatte sich entladen und insbesondere das urbane Prekariat hatte seine Angststarre überwunden. Der »Juni-Aufstand«, welcher dann im September völlig neue Formen annahm, war wie »ein Weckruf für die oppositionellen Parteien« (Candeias-Bechstein) und zeigte, welche Bündnispotentiale brach liegen. Noch ist es zu früh, um voraussagen zu können, welche neuen Wege der »Juni-Aufstand« eröffnen wird. Doch eine nähere Betrachtung der Hintergründe könnte helfen, mögliche Perspektiven aufzuzeigen.
Der Lack ist ab – Die Hegemoniekrise der AKP
Es wäre sicherlich eine verkürzte Darstellung, würde man die neoliberale Politik nur auf die Ära der AKP begrenzen. Der neoliberale Umbau in der Türkei begann mit den berüchtigten Regierungsbeschlüssen vom 24. Januar 1980, die dann durch den Putsch vom 12. September 1980 mit militärischen Mitteln umgesetzt wurden. Aushöhlung von Kollektivrechten, massiver Sozialabbau, Deregulierungen, Flexibilisierungen, Privatisierungen, rigorose Sparmaßnahmen und IWF-Diktate wurden zu Konstanten türkischer Wirtschaftspolitik.
Die AKP, die nach der großen Krise von 2001 an die Macht kam und schon in der ersten Legislaturperiode die »Früchte« der Konsolidierungsmaßnahmen der Vorgängerregierung ernten konnte, steht in dieser Traditionslinie. Im Unterschied zu den anderen bürgerlichen, aber auch den früheren islamistischen Parteien schaffte es die AKP neben der Unterstützung der anatolischen Bourgeoisie, dem traditionell konservativ-islamisch orientierten Kapital, auch die Unterstützung der anderen Kapitalfraktionen, insbesondere des laizistisch orientierten Großkapitals zu erhalten. Hierbei spielte die Tatsache, dass die AKP derzeit die einzige politische Formation ist, die für einen stetigen Zufluss von ausländischem Kapital – besonders von Petro-Dollars – sorgen kann, eine gewichtige Rolle.
Die AKP konnte sich die Unterstützung der türkischen Bourgeoisie insbesondere durch ihre massiven Eingriffe in die Bauwirtschaft sicherstellen. Erdoğan holte die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI in die Verantwortung seines Amtes und stattete sie mit weitgehenden Befugnissen aus. Die Investitionen von TOKI lösten einen Bauboom aus. Seit 2002 hat die TOKI mehr als 500.000 Wohneinheiten im Wert von über 35 Milliarden US-Dollar gebaut und verkauft. Während die Bauaufträge an Subunternehmern aus der Privatwirtschaft vergeben wurden, konnte TOKI die staatlichen Grundstücke und Immobilien weit unter dem Marktwert erwerben. TOKI erhält auch staatliche Bauaufträge, die sie an private Bauunternehmen weiterleitet: So ist sie z.B. das einzige Unternehmen, das Militärwachen (sog. »Wachburgen«) bauen darf. Auch Großprojekte wie Fußballstadien o. ä. werden von TOKI gebaut.
Die Bauwirtschaft ist eines der wichtigsten Elemente des türkischen Wirtschaftswachstums und des Akkumulationsregimes. Aufgrund der starken Verflechtungen der Bauwirtschaft mit anderen Wirtschaftszweigen wie Transport, verarbeitender Industrie, Zement- und Keramikproduktion, Bergbau etc. und größten Renditemöglichkeiten, ist die Bauwirtschaft nicht nur für die konservativ-islamische Bourgeoisie, sondern auch für alle anderen Kapitalfraktionen sehr lukrativ. Die Tatsache, dass der Anteil der Bauwirtschaft am Bruttosozialprodukt (BSP) der Türkei in der AKP-Ära nie unter 5 Prozent gefallen ist, [2] zeigt die enge Beziehung zwischen dem allgemeinen Wirtschaftswachstum und dem Wachstum der Bauwirtschaft. Alle Kapitalfraktionen, die sich in der Bauwirtschaft engagieren, spielen inzwischen im AKP-Apparat eine große Rolle. So hat Ministerpräsident Erdoğan auch eine Möglichkeit gefunden, durch Investitionsentscheidungen der TOKI unmittelbar Kapitalfraktionen zu fördern oder ggf. durch Ausschluss »abzustrafen«.
Auf der anderen Seite gelang es der AKP, die mit ihrem Demokratisierungsversprechen und ihrem scheinbaren Kampf gegen die kemalistische Generalität die Sympathien unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gewann, auch die Verlierer des neoliberalen Umbaus auf ihre Seiten zu ziehen. Der türkische Soziologe Cihan Tuğal spricht in diesem Zusammenhang von einer »passiven Revolution«, welche die AKP-Hegemonie sicherstellte. [3]
Zum einen gaukelte die AKP der Bevölkerung vor, dass ihre Akteure »Leute wie sie« seien. Ministerpräsident Erdoğan und seine Minister setzten auf religiöse Symbolik und nutzten den sunnitischen Konservatismus der türkischen Mehrheitsgesellschaft, um den scheinbaren Unterschied zwischen ihnen und der verhassten laizistischen Eliten zu unterstreichen. Kopftuchtragende Ministerfrauen, gemeinsames Fastenbrechen, das traditionelle Freitagsgebet des Ministerpräsidenten in einem gutbesuchten Stadtmoschee oder seine Friseurtermine in einem armen Stadtteil sowie die fortwährende Benutzung von religiös-kulturellen Codes in öffentlichen Ansprachen führte dazu, dass breite Teile der Bevölkerung die AKP als eine Art »Volksregierung« ansahen. Damit konnten die neoliberal-islamistischen Parteikader die Klassenunterschiede zwischen ihnen und den verarmten Bevölkerungsgruppen erfolgreich kaschieren.
Obwohl die Türkei laut OECD-Angaben eines der Länder mit den höchsten Einkommensungerechtigkeiten ist, konnte sich die AKP 2011 mit knapp 50 Prozent zum zweiten Mal die Wiederwahl sichern. Einige Studien zeigen, dass die AKP die meisten Stimmen von den Hausfrauen, der ländlichen Bevölkerung, vom urbanen Prekariat, den Arbeitslosen und vor allem aus den verarmten Randbezirken der Großstädte erhalten hatte.
Diesem Erfolg liegt nicht nur die »passive Revolution« zugrunde. Die AKP-Regierung hat kurz nach dem sie an die Macht kam, den 1986 gegründeten »Staatlichen Fond zur Förderung der sozialen Hilfe und Solidarität« zu plündern begonnen. Laut den Angaben der staatlichen Statistikbehörde TUIK wurden alleine zwischen 2003 und 2007 rund 54 Prozent dieses Fonds für Sachhilfen wie Lebensmittel- und Kohlebeschaffung ausgegeben. 23 Prozent der Fondsmittel wurden monatlich als Schulkostenzuschuss an arme Familien ausgezahlt. Die als »soziale Hilfe« deklarierten Auszahlungen wurden nur an Frauen überwiesen. Zudem wurden die Kommunalverwaltungen hinzugezogen, um die private Wohltätigkeit zu koordinieren und mit kostenlosem Essen in den Fastenmonaten die Bevölkerung zu verköstigen. So wurde eine dem islamischen Spenden- bzw. Wohltätigkeitsgebot entsprechende soziale »Hilfe« organisiert, die jedoch nichts mit einer verfassungsmäßig verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun hatte.
Ein wesentlicher Grund, warum diese Strategie erfolgreich war, liegt an der Tatsache, dass rund 11 Millionen von etwas mehr als 25 Millionen Erwerbstätigen im informellen Sektor beschäftigt sind und ein Großteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach dem gesetzlichen Mindestlohn (2013: Netto ca. 290,00 Euro) entlohnt werden. Künstlich niedrige gehaltene Wechselkurse, Förderung der Kreditkartennutzung und Erleichterungen bei Immobilienfinanzierungen führten zum Anstieg des privaten Konsums. Durch den Anstieg des privaten Konsums erhöhte sich das Niveau des gefühlten Wohlstands. Der Preis dafür war aber sehr hoch: die Verschuldung der privaten Haushalte hat sich in der AKP-Ära auf rund die Hälfte der verfügbaren Einkommen verdoppelt.
Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass die türkische Wirtschaft unter der AKP-Regierung schnell gewachsen ist. Als die AKP an die Macht kam, steckte das Land in einer tiefen ökonomischen Krise. Die Inflation galoppierte: zwischen 1995 und 2001 rund 70 Prozent pro Jahr! Die AKP setzte den neoliberalen Umbau und die Marktorientierung stärker als ihre Vorgänger durch und schaffte das, was die bisherigen Regierungen nicht durchsetzen konnten: Während zwischen den Jahren 1985 und 2002 durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen gerade mal 8 Mrd. US-Dollar eingenommen werden konnte, konnte die AKP von 2003 bis 2010 fast 48 Mrd. US-Dollar Privatisierungseinnahmen realisieren. So konnte sich die Türkei für die internationalen Finanzmärkte als ein aufstrebendes Schwellenland präsentieren.
Aber nach den kräftigen Wachstumsschüben der Vorjahre (2010: 9,2 Prozent und 2011: 8,8 Prozent) lag das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in 2012 mit 2,2 Prozent deutlich unter den Erwartungen.[4] Jetzt zeigt sich, wie brüchig das »türkische Wirtschaftswunder« ist. Laut Schätzungen braucht das Land jedes Jahr 200 Mrd. US-Dollar Auslandskapital, um das chronische Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Die Netto-Auslandsverschuldung liegt bei 413 Mrd. US-Dollar und der IWF erwartet für das Jahr 2013 ein Wachstum von 3,4 Prozent.
Das jedoch könnte sich als Wunschvorstellung ausweisen. Zum einen fließt das ausländische Kapital langsam, aber stetig wieder zurück. Daran mag die US-Geldpolitik auch einen Anteil haben, vor allem aber scheint sich die Türkei für die ängstlichen Finanzmärkte zu einem Risikoland zu verwandeln. Zum anderen vermochte es die türkische Zentralbank trotz Zinspolitik und verstärktem Devisenverkauf nicht zu verhindern, dass die türkische Lira (TL) gegenüber Euro und US-Dollar massiv an Wert verloren hat. Anfang des Jahres rechnete die Regierung mit einem TL / US-Dollar-Wechselkurs von 1:1,73, aber schon Ende Juni kletterte der US-Dollar auf 1,95 (Inzwischen kostet 1 US-Dollar 1,985 TL und 1 Euro 2,678 TL]). [5
Diese Entwicklung hat für unterschiedliche Kreise negative Auswirkungen. So müssen beispielsweise in den nächsten 12 Monaten rund 190 Mrd. US-Dollar zurückgezahlt werden. Für die Schuldner bedeutet das zusätzliche Kosten in TL. Für die Industrie, die ihre Investitionsplanungen gemäß den Vorgaben der Regierung mit einem Wechselkursrisiko von 1:1.83 vorgenommen hat, wird jede Verteuerung des US-Dollars die Produktionskapazitäten verringern und Arbeitsplatzverluste verursachen. Unabhängige Ökonomen wie Mustafa Sönmez erwarten daher bis Ende 2013 die Erhöhung der Arbeitslosenquote auf 11 Prozent. [6]
Für ein Land wie die Türkei, die jedes Jahr mehr als 60 Mrd. US-Dollar für Energieimporte aufbringen muss, bedeutet jede Teuerung in den Wechselkursen eine neue Inflationsgefahr. Gerade wo jetzt der teuerste Spritpreis weltweit in der Türkei bezahlt werden muss, werden zusätzliche Kursverluste die türkische Wirtschaft noch mehr belasten.
Auch die Exportwirtschaft gerät ins stocken. In 2013 sollte nach Regierungsplänen ein Exportvolumen von rund 150 Mrd. US-Dollar realisiert werden. Dieses Ziel wird wohl nicht erreicht werden können, zumal die türkische Exportwirtschaft von Importen abhängig ist, wofür sie wiederum Devisen benötigt. Ähnliche Probleme erlebt inzwischen auch der türkische Bankensektor, da sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen erhöht hat und auch zunehmend private Kreditnehmer immer mehr Schwierigkeiten mit der Rückzahlung bekommen.
Türkische Medien berichteten am 26. September 2013, dass die Ratingagentur Fitch eine »Rezessionsgefahr« für die Türkei sieht und die internationalen Anleger vor »gestiegenen politischen Risiken wie innere[n] Unruhen« gewarnt hat. [7] In Zusammenhang mit der aktuellen US-Geldpolitik erwartet die Agentur weiteren Rückfluss vom ausländischen Kapital aus der Türkei. Ohne Frage: das »türkische Wirtschaftswunder« gleicht einer Seifenblase.
Sowohl das brüchige türkische Wirtschaftswachstum, als auch das autoritäre und antidemokratische Gebaren der Regierung weisen daraufhin, dass die AKP-Hegemonie in einer ernsthaften Krise steckt. In dem Bündnis aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen und den verschiedenen Kapitalfraktionen werden Risse sichtbar. Auch wenn die AKP weiterhin über einen gewissen Rückhalt in der türkischen Mehrheitsgesellschaft verfügt, so ist durchaus davon auszugehen, dass ein Prozess, welcher zum Ende der AKP-Hegemonie führen kann, unlängst begonnen hat.
Der Protest und die Perspektiven
Der »Juni-Aufstand« hat aufgrund seiner landesweiten Verbreitung innerhalb weniger Tage, der Spontaneität und Zusammensetzung der Bewegung sowie ihrer Fähigkeit, politikverdrossene wie verängstigte Kreise auf die Straße zu bringen, längst einen historischen Platz in der Geschichte der gesellschaftlichen Kämpfe in der Türkei eingenommen. Der »Juni-Aufstand« hat einen Geist losgelassen – viele sprechen von einem »Spirit of Gezi« –, der hunderttausende Menschen erfasst hat.
Sicher, dieser Geist beschreibt das Bestreben der Frauen um ihre Rechte, der Alewiten um die Erhaltung ihrer Kultur, der kurdischen Bevölkerung um ihre Existenz; kurz den gemeinsamen Kampf um die Stadt und öffentliche Räume, für soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung der Geschlechter und sexueller Orientierungen, für ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und für Demokratisierung. Dieser Geist ist imstande, unterschiedliche Bewegungen zu vereinen. Doch die eigentliche Frage bleibt: wie lange wird sie Bestand haben? Wie werden die Akteure der Protestbewegung es schaffen, dass dieser Geist zu einem »Schmelztiegel« verwandelt wird, aus dem eine politische Alternative mit Mehrheitspotentialen herauswachsen kann?
Die »Global City« mit all ihren Entwicklungsproblemen scheint sich als ein Ort darzustellen, in der neue politische Konstellationen möglich werden. Die Kämpfe um den öffentlichen Raum, gegen die soziale Verdrängung, um bessere Arbeits- und Entlohnungsverhältnisse sowie um eine freie, demokratische Gesellschaft finden hier Anknüpfungsmomente.
Das beste Beispiel dafür, wie aus der Spontaneität der Massen neue Bündnisse entwachsen können, zeigen die zahlreichen Foren in den Stadtteilparks von Istanbul und anderen Städten. Schon nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks am 15. Juni 2013 war es zu beobachten, wie in den Abbasağa und Yoğurtçu Parks Foren organisiert wurden. Alleine in Istanbul fanden allabendlich in fast 40 Stadtteilen »Park-Foren« statt. Dieses Beispiel machte Schule: inzwischen gibt es auch in Ankara 10, in Izmir 2 und weitere Foren in Antalya, Bodrum, Izmit und Eskişehir.
Überall ist das gleiche Phänomen zu beobachten: Hunderte – in manchen Istanbuler Foren sogar tausende – Menschen kommen nach 21 Uhr zusammen, diskutieren, verabreden neue Themen, machen die Parks sauber und gehen wieder nach Hause. Es wird über alles mögliche diskutiert: von Platzumgestaltung über Stadtteilprobleme, von Gewalt gegen Frauen und LGBT*-Aktivist_innen über ökologische Nachhaltigkeit bis zur friedlichen Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts.
Sowohl die Themenfindung als auch die Diskussionsformen zeigen lebendige Formen der Basisdemokratie. Auf jedem Forum wird penibel darauf geachtet, dass Jede und Jeder, die was zu sagen haben, das Wort erhalten, die umliegende Nachbarschaft nicht durch Lärm belästigt wird (deshalb wird nicht applaudiert, sondern nur die Hände werden bewegt), der Park nach dem Forum sauber gemacht wird und die Diskussionen ergebnisorientiert geführt werden. Inzwischen haben sich die Foren zu Orten entwickelt, wo sich die Menschen nach dem Feierabend treffen, Selbsthilfegruppen oder Stadtteilinitiativen gründen und – das ist ein Novum – wo keine politische Partei oder Organisation dominant sein kann.
Mit den Foren ist auch das Politik-Monopol der Regierung geschwächt worden. In den letzten Jahren wurden politische Diskussionen quasi nur von der AKP-Regierung angestoßen. Sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische Opposition war in einer Ablehnungssituation gefangen. Auch die Gewerkschaften und soziale Bewegungen konnten sich von dem ständigen Abwehrkampf nicht befreien. Nur die kurdische Bewegung war in der Lage, der Regierung Paroli zu bieten und Politikalternativen aufzuzeigen, die jedoch – auch aufgrund der Gleichschaltung der bürgerlichen Medien – im Westen kaum wahrgenommen wurde.
Der »Juni-Aufstand« hat dem Politik-Monopol der AKP-Regierung erheblichen Schaden zugefügt. Mit Hilfe der sozialen Medien konnten Gegenpropaganda und Regierungslügen binnen Minuten als solche entlarvt werden. Innerhalb weniger Tage wurde die Regierungsrhetorik, dass die Türkei »nur mit der AKP demokratisiert werden kann« ad absurdum geführt. Die Tatsache, dass der Ministerpräsident Erdoğan heute noch alle seine öffentlichen Auftritte und Reden dazu nutzt, um »von der Zinslobby und ausländischen Mächten gesteuerte Marodierer, Terroristen und Putschisten, die sich gegen den Willen der Nation stellen«, anzuprangern, beweist, wie schwer die AKP-Regierung durch den »Juni-Aufstand« angeschlagen worden ist. Bis Juni 2013 wurde die politische Tagesordnung der Türkei von Erdoğan und seiner AKP bestimmt. Heute bestimmt die politische Agenda der Protestbewegung das Handeln der AKP.
Jedoch: die AKP verfügt weiterhin auf einen Rückhalt in der türkischen Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn in der AKP-Regierung Machtverschiebungen zu erwarten sind und Erdoğan, dessen autoritäres Präsidialsystem nicht mehr durchzusetzen ist, im nächsten Jahr auf das Amt des Staatspräsidenten abgeschoben wird, so bedeutet dies nicht das Ende der AKP-Regierung.
Für die Zukunft der Protestbewegung und die Entstehung einer möglichen alternativen politischen Formation werden in den nächsten Monaten drei politische Felder bestimmend sein: die Kommunalwahlen, der Friedensprozess in der kurdischen Frage und die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Alle drei sind untrennbar mit einander verbunden.
In allen drei Feldern liegen Potentiale für demokratische Bündnisse brach. Denn die Regierungspläne in diesen Feldern bilden zugleich die Gegenkräfte aus. Um einige dieser Pläne zu nennen: Die Regierung beabsichtigt, mit dem Bau der dritten Bosporus-Brücke in Istanbul die als »Nordwälder« genannten Waldareale auszuroden. Staatspräsident Abdullah Gül erklärte bei der Grundsteinlegung, dass die dritte Brücke den Namen »Yavuz Sultan Selim« tragen werde, gerade von dem Sultan, der massenhaft Alewiten abgeschlachtet hat. Gegen dieses Projekt hat sich eine breite Opposition aufgestellt, dem auch – aus verständlichen Gründen – alewitische Organisationen angehören. Gleichzeitig ist geplant, auf der europäischen Seite Istanbuls einen Mega-Flughafen (»der größte Flughafen der Welt«, so die Verheißung) zu bauen. Dieses Projekt wird von einem riesigen Bebauungsprojekt in den Naturgebieten begleitet. Ein weiteres Mega-Projekt ist das sog. »Kanal-Istanbul«, das als »der zweite Bosporus« bezeichnet wird und das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden soll. Natur- und Umweltschützer_innen sowie zahlreiche Wissenschaftler_innen laufen Sturm gegen dieses Projekt, weil durch verschiedene Studien nachgewiesen wurde, dass durch den Bau des »Kanal-Istanbul« das Marmarameer in ein totes Meer verwandelt wird. Alleine diese drei Mega-Projekte haben genügend Konfliktpotential, um unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren.
Die für März 2014 geplanten Kommunalwahlen bieten für die Vernetzung unterschiedlichster Initiativen, Widerstandsgruppen, Bewegungen sowie Oppositionsparteien eine gute Möglichkeit. Für die AKP würde der Verlust der Stadtregierungen in Istanbul und Ankara eine große Niederlage bedeuten und die Koalition innerhalb der AKP in eine Krise stürzen. Es gibt zwar Bestrebungen von linken Parteien und Teilen der Protestbewegung, so z.B. in der von linken Parteien und der prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) getragenen HDK (Demokratischer Kongress der Völker), eine Kandidatur aufzustellen, die von breiten Teilen getragen wird. Aber noch konnten sich die unterschiedlichen Gruppen darüber nicht einigen und aufgrund des Festhaltens an einer eigener Kandidatur der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) könnte es dazu kommen, dass der AKP-Kandidat sich gegen die zersplitterte Opposition wieder behaupten kann. Eine ähnliche Situation wird auch aus Ankara berichtet.
Der ins Stocken geratene Friedensprozess in der kurdischen Frage birgt auch weitere Zersplitterungsgefahren für die Protestbewegung. Zwar positioniert sich die prokurdische BDP eindeutig im linken Spektrum und setzt auf die Zusammenarbeit mit links-sozialistischen Gruppen und Parteien, aber es gibt innerhalb der kurdischen Bewegung und auch der BDP (die man auch als eine Art Koalition ansehen sollte) kurdische Nationalisten und Liberale, die eher mit der AKP zusammen agieren würden. Insbesondere die kurdische Bourgeoisie in der Türkei hegt Hoffnungen, gemeinsam mit dem türkischen und internationalem Kapital am Wirtschaftswachstum und von der Ausbeutung der Erdölfelder in den kurdischen Autonomiebehörde in Südkurdistan (Nordirak) profitieren zu können. Zu dem ist die Lage in Syrien, im Besonderen in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien, völlig unklar. Die türkische Regierung unterstützt offen islamistische Terrorgruppen wie die Al-Nusra-Front, die gegen kurdische Autonomiekräfte in Syrien verbittert kämpfen.
Dabei ist auch innerhalb der türkischen Mehrheitsgesellschaft die Ablehnung gegen einen Krieg in Syrien weit verbreitet. Eine Friedensbewegung hätte hier gute Voraussetzungen. Und wenn die Protestbewegung im Westen die Forderungen der kurdischen Bewegung offen anerkennen und die Verbindung beider Bewegungen gewährleisten könnte, würde das dem Friedensprozess eine große Dynamik verleihen und somit die Regierungspläne in den kurdischen Gebieten vereiteln.
Das dritte politische Feld ist die Verfassungsdiskussion. Innerhalb der Gesellschaft ist die Meinung, dass die Junta-Verfassung nun endgültig von einer demokratischen Verfassung abgelöst werden muss, weit verbreitet. Gleichzeitig ist aber die Öffentlichkeit von der Arbeit der Verfassungskommission des Parlaments und vom Regierungshandeln, alles in die Länge zu schieben, völlig enttäuscht. Es sind Zurzeit sowohl der EU-Heranführungsprozess als auch die versprochenen Demokratisierungsmaßnahmen in einer Sackgasse gelandet. Große Ankündigungen der Regierung stellen sich entweder als Wahlkampfmanöver dar oder laufen ins Leere. So auch das vor Monaten großmündig angekündigte »Demokratisierungspaket« der Regierung. Am 30. September 2013 stellte Erdoğan das Paket höchstpersönlich vor, konnte aber noch nicht mal regierungsnahe Kommentatoren überzeugen – geschweige denn die kritische Öffentlichkeit.
Ein großer Teil der Bevölkerung ist z. B. für die Abschaffung der 10-Prozent-Hürde bei den Wahlen, für mehr Presse- und Meinungsfreiheit, für mehr Demokratie. Dennoch haben die demokratischen Kräfte es versäumt, in der Gesellschaft eine offene Verfassungsdiskussion zu organisieren und sich alleine auf die Arbeit der Parlamentskommission verlassen. Dabei wäre gerade eine solche offene Debatte mehr als hilfreich, um unterschiedliche Themen – von der Dezentralisierung der Kommunalverwaltung, über Stadtentwicklungspolitik, Naturschutz und ökologisches Wirtschaften bis individuelle und kollektive Rechte, soziale und kulturelle Gerechtigkeit sowie Frieden und Rechtsstaatlichkeit unter der Überschrift einer demokratischen Verfassung in Zusammenhang zu bringen.
Die anstehenden Kommunalwahlen, das Schicksal des Friedensprozesses in der kurdischen Frage und die Notwendigkeit einer neuen, demokratischen Verfassung sind nicht nur für die Protestbewegung, sondern für die Zukunft des Landes von immenser Bedeutung. Demokratische Kräfte, die unterschiedlichen Teile der Protestbewegung, die linken und sozialistischen Organisationen sowie die kurdische Bewegung stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Die eigenen Organisationsegoismen beiseite zu legen und zu versuchen, durch die Verbindung der Kämpfe in der Kommune, der Region und landesweit eine von breiten Teilen der Gesellschaft getragene Oppositionsbewegung aufzubauen. Der »Juni-Aufstand« hat auf beeindruckende Weise bewiesen, dass genau dies möglich ist. Gelänge ihnen das nicht, so ist zu befürchten, dass die neoliberalen Islamisten ihre autoritäre Herrschaft weiter ausbauen werden.
Die jungen Protestierenden auf dem Taksim-Platz riefen immer wieder: »Das ist der Anfang. Der Kampf geht weiter!« Noch geht der Geist von Gezi-Park weiter umher. Noch ist also die Hoffnung nicht verloren.
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[1] Siehe auch: Errol Babacan, »Shoppen, Beten, Kinderkriegen – Aufstand in der Türkei«, in: www.links-netz.de August 2013.
[2] Siehe: http://tuikapp.tuik.gov.tr/insaatapp/insaat.zul oder http://www.turkstat.gov.tr/PreTabloArama.do?metod=search&araType=vt
[3] Siehe auch: http://www.sup.org/pages.cgi?isbn=0804761450&item=Introduction_pages&page=1
[4] Zu den Wirtschaftsdaten siehe auch: Murat Çakır, »Wut und Widerstand – Über die Hintergründe des Aufstands gegen Recep TayyipErdoğan«, in: Zeitschrift Sozialismus, Heft Nr. Juli / August 2013, S. 8-12.
[5] Aktuelle Kurse am 23. September 2013. Quelle: http://www.doviz.com.
[6] Mustafa Sönmez in der Tageszeitung »Yurt« vom 27. August 2013.

[7] Siehe: http://t24.com.tr/fitchten-gelen-uyarilari-nasil-okumak-lazim/7502