Freitag, 1. November 2013

Antikapitalismus und Islam

Über die junge Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime«
Im Zeitalter der globalisierten Finanzmärkte, der Kriege um Sicherung der Energielieferungen und um die Beherrschung der fossilen Ressourcen wäre es sicherlich keine Binsenweisheit zu behaupten, dass »der Islam« zum globalen Feindbild der kapitalistischen Welt erhoben wurde. Keine Frage; die Fernsehbilder von islamistischen Terrorbanden, die Nichtmuslime oder Menschen, die sie als »nichtmuslimisch« titulieren abschlachten, schrecken auf und machen die Versuche, »ein Feindbild zu konstruieren« (Werner Ruf [1]) einfach.

Und doch ist es ein widersprüchliches Bild: während selbsternannte »Islamkämpfer« in Syrien als »bewaffnete Opposition« von den sog. »Freunden Syriens« im Westen offen unterstützt werden, werden islamistische Gruppen in Mali, die den Islam in derselben Weise wie ihre Gesinnungsgenossen in Syrien (oder in Pakistan... oder in Afghanistan...) interpretieren, als »Terroristen« bekämpft. Selbst konservative Politiker wie der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet weisen auf diesen Widerspruch hin. [2]
Um nicht missverstanden zu werden: weder die Al-Qaida, noch die Al-Nusra-Front oder die Taliban – keine der islamistischen Terrorgruppen können als »Befreiungsbewegungen« angesehen werden. Auch die zahlreichen Vertreter unterschiedlicher sunnitischer wie schiitischer Rechtsschulen, sowie die Despoten der arabischen Welt sind keine »unschuldigen Lämmer«, die einfach nur nach freien Religionsausübung trachten. Im Gegenteil; das herrschende Religionsverständnis in den jeweiligen islamischen Ländern ist das Religionsverständnis der Herrschenden und somit ein Herrschaftsinstrument.
Dennoch wäre es ein fataler Fehler, wenn man gläubige Muslime in der islamischen Welt im Rahmen des herrschenden Religionsverständnisses oder als Anhänger von islamistischen Terrorgruppen betrachten würde. Auch wenn Aberglaube und teilweise rückständiges Gesellschaftsverständnis in vielen Teilen der muslimischen Welt weit verbreitet sind, so ist – wie verschiedene empirische Untersuchungen belegen – festzustellen, das die überwiegende Mehrheit der Muslime nur daran interessiert sind, friedlich ihre Religion auszuüben und ihrem Glauben nach fromm zu leben. Eine Verallgemeinerung wäre zudem Wasser auf die Mühlen derjenigen, die mit ihrer Islamhetze rechtspopulistische Tendenzen in den bürgerlichen Gesellschaften Europas schüren und davon politisches Kapital schlagen wollen.
In Zusammenhang mit den linken Debatten um Islamophobie und Rechtspopulismus gibt es jedoch auch Positionen, die vor linker Religionskritik zurückschrecken, weil sie befürchten, dass damit möglicherweise die »falschen Kräfte« gestützt werden könnten. Dabei lässt eine Religionskritik aus der Perspektive des historischen Materialismus immer Raum für differenzierte Betrachtungsweisen. Trotz der Islamfeindlichkeit, trotz der in den bürgerlichen Gesellschaften weit verbreiteten Phobien sowie in deren Mitte verankerten Rassismen und insbesondere wegen der Doppelmoral der bürgerlichen Parteien ist eine linke Religionskritik sowie eine an die Wurzeln gehende differenzierte Betrachtung mehr als notwendig. Und genau das darf und sollte vor dem »politischen Islam« keinen Halt machen. Eine falsch verstandene Solidarisierung ist unpolitisch und führt in die Irre.
»Widerspruch im Namen Allahs«
Dabei sind in der islamischen Welt längst Rufe unüberhörbar, die das jeweils herrschende Religionsverständnis scharf kritisieren, deren Koraninterpretationen hinterfragen und neue, durchaus als fortschrittlich zu bezeichnende theologisch-philosophische Diskussionen anstoßen. Es ist zu verfolgen, dass in diesen Diskussionen, die immer wieder von der sozialen Frage dominiert sind, nach Antworten in den Ursprüngen des Islams und jenseits der »offiziellen« Überlieferungen, d.h. den sog. »Hadiths« gesucht werden. Diese Diskussionen finden in mehreren islamischen Ländern statt, wobei sie teilweise – auch aufgrund der aktuellen Umwälzungen in der arabischen Welt – entweder innerhalb von geschlossenen Gruppen (wie bei den Intellektuellen, die sich um die ägyptische Zeitschrift »Islamische Linke« versammelt haben) oder zahlenmäßig kleineren Kreisen stattfinden.
Trotzdem machen diese Diskussionen die Herrschenden in den islamischen Ländern zunehmend nervöser, weil diese Gruppen immer lauter unangenehme Fragen stellen und somit das Interesse der Öffentlichkeit wecken. Eine dieser gegen den Strom schwimmenden Gruppen ist ohne Zweifel die junge Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime« in der Türkei. Ihr »Manifest« [3] erhebt »Widerspruch im Namen des vergebenden und barmherzigen Allahs«.
Die »Antikapitalistischen Muslime« sind der Auffassung, dass jeder Prophet zugleich als eine »Widerstandsposition gegen das herrschende System seiner Zeit« zu verstehen sei und begründen damit ihre Betonung auf »Antikapitalismus«. Gleichzeitig erklären sie »alle antikapitalistische Haltungen, ohne Rücksicht auf ihr Glauben oder Glaubenslosigkeit, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, Sprache oder Ideologie zu natürlichen Bündnispartnern« mit denen sie die »gleichen Plattforme und Kämpfe teilen« wollen. [4] Ihren Platz sehen sie daher auf der Seite der »Unterdrückten und Ausgebeuteten«.
Nach ihrer Auffassung muss der Staat frei sein von jeglicher Ideologie, frei von rassischen, nationalen, religiösen oder konfessionellen Bindungen. Das »gemeinsame Gute«, nämlich »das Recht, die Gerechtigkeit, Freiheit und Geschwisterlichkeit« reiche vollkommen aus. Auch im internationalen Recht beziehen sie sich auf die Werte der UN-Charta. Sie erklären, dass sie für eine gerechte, auf gegenseitigen Respekt und Solidarität begründete Weltordnung stehen und jegliche Interventionskriege sowie Kriege um Ressourcen völlig ablehnen. Betonen aber gleichzeitig, dass das »niemals als Hinnahme oder Unterstützung von despotischen Regimen in der islamischen Welt verstanden werden« dürfe.
All das sind Aussagen, die sich auf einer Koraninterpretation begründen, welche jedoch im Westen kaum bekannt ist. Diese Aussagen finden sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in Ägypten, im Iran oder in Tunesien. Das Herausstechende an den »Antikapitalistischen Muslimen« ist, dass sie die Religion und die Welt aus einer klaren Klassenperspektive betrachten und das »Paradiesversprechen des Islams« in der realen Welt suchen: »Das Paradies ist eine grenzen- und klassenlose, freie Welt, die im hier und jetzt verwirklichbar ist«.
Beeindruckend ist ihre Bereitschaft zu Aufarbeitung der eigenen anatolisch-mesopotamischen Geschichte. In ihrem »Manifest« liest sich das wie folgend: »Die antikapitalistischen Muslime nehmen es nicht hin, (...) dass Menschen wegen ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe, ihren Gedanken, ihrem Glauben oder Glaubenslosigkeit Unrecht erfahren und erklären sich auf deren Seite. (...) In diesem Sinne unterstützen die antikapitalistischen Muslime die Forderungen des kurdischen Volkes nach Rechten und Freiheiten. Sie verurteilen die begangene Grausamkeit an dem armenischen Volk und sehen jedes Genozid und jede Assimilation als Grausamkeit und als ein Verbrechen gegen die Menschheit an«.
Öffentliches Aufsehen erregten die »Antikapitalistischen Muslime« erstmals mit ihren »öffentlichen Fastenbrechen auf dem Schoße der Welt« in 2011. In AKP-Ära wurde das Fastenbrechen in Luxushotels eine Modeerscheinung. Die »Antikapitalistischen Muslime« luden die arme Bevölkerung zu ihren Fastenbrechen vor diesen Luxushotels ein und protestierten so gegen die inszenierte »Fastenbrechen der Herrschenden«. Am 1. Mai 2013 riefen sie die Muslime auf, in den Moscheen für die Rechte der Arbeiter_innen zu beten und nach dem Gebet an den 1. Maifeiern teilzunehmen. In Istanbul nahmen 1.100 antikapitalistische Muslime an der Kundgebung teil.
Durch ihre Teilnahme an den Protesten für den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul wurden sie im Juni 2013 nun im ganzen Land bekannt und machten insbesondere den Ministerpräsidenten Erdoğan wütend. Erstmals in der Geschichte der Türkei beteiligte sich eine muslimische Organisation gemeinsam mit Linken, Umweltschützer_innen, Feministinnen und Aktivist_innen der Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen- und Trans*-Bewegungen an einem regierungskritischen Protest.
Ohne Frage, die »Antikapitalistischen Muslime« sind noch auf der Suche. Noch befinden sie sich in einem Diskussionsprozess, aber ihre antikapitalistische Haltung scheint sich gefestigt zuhaben. So sind auf ihrer Internetseite u. a. folgende Aussagen hervorgehoben: »Gebe dem Arbeiter von dem, was du selber isst, was du selbst anziehst und lebe dort, wo der Arbeiter lebt« [5]; »Nicht die Arbeiter, sondern die Bosse werden [in der Hölle] schmoren«; »Die Akkumulation ist [zerstörerisch] wie Feuer«; »Ihr könnt zwei Herren, dem Gott und dem Geld, nicht gleichzeitig dienen«; »Für die Rechte der armenischen und alewitischen Bürger« oder »Ich erhebe mein Haupt, also bin ich!«.
Die soziale Stimme des Islams: Ihsan Eliaçık
Die »Antikapitalistischen Muslime« lassen sich von dem Theologen und Schriftsteller Recep İhsan Eliaçık inspirieren. Eliaçık, der wegen seiner Mitgliedschaft in der Jugendorganisation der »Milli-Görüş-Bewegung« [6] während des Militärputsch im September 1980 verhaftet und für Jahr im Gefängnis gehalten wurde, hält sich demonstrativ zurück. Er sagt, dass er die jungen Menschen in der Bewegung nicht dominieren wolle und deshalb keine Funktionen übernommen habe. Eliaçık: »Die jungen Menschen müssen ihren Weg selbst finden, mir reicht es, wenn sie sich von meinen Büchern inspirieren lassen«. Ministerpräsident Erdoğan scheint das nicht zu gefallen, er hat Eliaçık zum »Regierungsfeind« erklärt und eine Anklage gegen ihn auf den Weg gebracht. Falls Eliaçık verurteilt werden sollte, was aufgrund der Gleichschaltung der Justizverwaltung wahrscheinlich ist, wird er Erdoğan 50.000,00 Türkische Lira ( ca. 18.300,00 Euro) zahlen müssen. Gegen Eliaçık sind derzeit 30 Verfahren anhängig.
Eliaçıks Thesen begründen sich auf einer Koraninterpretation, die jegliche Überlieferungen außeracht lässt und sich von den gängigen Interpretationen der sunnitischen Rechtsschulen grundsätzlich unterscheidet. Der Koran sei ein »starrer Text«, der von 14 Jahrhunderten verfasst wurde und von den Muslimen immer nach ihren jeweiligen Kultur- und Verständniscodes interpretiert werde. Islamistische Gruppe wie Al-Qaida oder die Al-Nusra-Front würden den Koran »nach ihren stark totalitären, autoritären, archaischen und gewalttätigen Vorstellungen interpretieren«, ein freiheitlicher Mensch jedoch würde Koran als ein freiheitlicher Text verstehen, so Eliaçık. [7]
Eliaçık, der bisher 20 Bücher – darunter eine kommentierte Koranübersetzung und sein Hauptwerk »Der soziale Islam« - veröffentlicht hat, ist der Auffassung, dass der Koran über eine explizite Klassenperspektive verfüge, in ihrer Verfasstheit dem Sozialismus, gar dem Kommunismus sehr nah stehe. Laut Eliaçık wird in zahlreichen Koranversen auf die Eigentumsfrage und soziale Gerechtigkeit Bezug genommen.
So sei beispielsweise die Aussage, »das Eigentum gehört Allah« als ein Vergesellschaftungsverpflichtung des Eigentums zu verstehen. Eliaçık: »Zu sagen, dass das Eigentum einer nichtsichtbaren Kraft gehört, bedeutet im Grunde genommen, dass die ›Sichtbaren‹ kein Eigentum besitzen sollten bzw. alles der Allgemeinheit gehören sollte«. Außer alles, was der Mensch nötig hat, brauche nicht akkumuliert zu werden.
Eliaçık meint, dass alles Weltliche aus den Koranversen herausgelesen werden kann, so z.B. die Rolle des Staates. Da der Staat für die Konzentration von Autorität, Macht und Geld stehe, müssten diese »drei Götzen der Menschheit« in der Gesellschaft gerecht verteilt werden. Eliaçık: »Alle Aufgaben außer der Koordination muss der Staat der Gesellschaft überlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne Staat leben können. Aber da dies nicht möglich ist, müssen wir nach der Devise, ›die beste Regierung ist diejenige, die am wenigsten regiert‹ handeln und sollten dem Staat nur das überlassen, was ohne ihn nicht aufrecht zu erhalten wäre. Ansonsten wird der Staat zu einem Mittel der Autorität und Hegemonie«.
Was sich hier wie eine bürgerlich-liberale Forderung anhört ist eher libertär und radikal-demokratisch. Denn Eliaçık plädiert gleichzeitig für eine, die soziale Gerechtigkeit gewährleistende freiheitliche und demokratische Gesellschaftsform, in dessen Zentrum der Mensch und die Natur stehen müssten. In seinem Interview begründet Eliaçık dies wie folgend: »Die soziale Gerechtigkeit wird im Koran besonders hervorgehoben, so z.B. in den Versen 117 und 118 der ›Taha-Sure‹. Dort steht geschrieben: ›Hier ist für euch das Paradies. Hier werdet ihr nicht hungern, nicht nackt bleiben, nicht dürsten, unter der Sonne nicht verbrennen‹. Nach dem Koran ist das Paradies die Welt auf der wir leben. Paradies bedeutet ›natürliche, von Menschenhand nicht berührte Welt‹. Und die Hölle ist eine Welt, die von Menschenhand ruiniert wurde. Schauen wir uns doch das an, was die Menschenhand angefasst hat: wo Blut vergossen wurde, Kriege begonnen werden, der Mensch ausgebeutet und die Natur verschandelt wird, dort ist die Hölle. Ich interpretiere die Paradies-Hölle-Beschreibung im Koran auf diese Weise. ›Hier ist für euch das Paradies‹ wird gesagt. Hier muss niemand verhungern. Die Menschen dürfen nicht hungern, niemand sollte Hunger leiden. Das muss garantiert werden. Wer kann das garantieren? Die Gesellschaft, über die Staatsorganisation! Es muss eine Ordnung herrschen, in der kein Mensch hungert. Dann wird gesagt, ›hier werdet ihr nicht nackt bleiben‹. Das bedeutet sowohl Kleidung für Sommer und Winter, als auch ein Obdach. Dann heißt es, ›ihr werdet nicht dürsten‹. Das verstehe ich als die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse. Niemand sollte nach seinen Bedürfnissen dürsten. Hier sind Bildung und Gesundheit die wichtigsten Bedürfnisse. Jede Person soll ohne Behinderungen Bildung genießen und sollte nicht darüber nachdenken müssen, wo ihre oder seine Gesundheit wieder hergestellt wird. Viertens heißt es, ›ihr werdet nicht unter der Sonne verbrennen‹. Das bedeutet Sicherheit. Das sind symbolische Begriffe des Korans und beschreiben die soziale Gerechtigkeit. Wo die soziale Gerechtigkeit gewährleistet ist, sei es eine Kommune, ein Dorf, Stadt oder Land – dort ist fast das Paradies laut Koran. Fast, denn übrig bleibt das menschliche Verhalten. Die Menschen sollten wegen ihren Bedürfnissen nicht miteinander kämpfen oder konkurrieren. Jede Person sollte ein Obdach haben und jeden Morgen in der eigener Wohnung aufwachen. Die Grundbedürfnisse der Menschen, wie Nahrung, Wasser, Bildung, Gesundheit oder Strom müssen gewährleistet werden.
In einem anderen Vers steht geschrieben, ›Wir haben auf der Erde alle notwendigen Quellen geschaffen, damit die Menschen es untereinander zu gleichen Teilen bekommen sollen‹. Oder wo anders steht geschrieben, ›Die Waren sollten zwischen euch nicht zu einem Mittel des Staates oder der Unterdrückung werden‹. Oder in dem 25. Vers der ›Meala-Sure‹, ›Die Armen haben Rechte auf den Waren der Reichen‹. Auch das: ›Wenn jemand dich befragt, was du aus deinem Eigentum anderen geben willst, dann sage, alles außer das, was ich benötige‹. Hier wird z.B. das Steuerlimit beschrieben. Im Koran gibt es eine ganze Menge solcher Verse. All das habe ich in meinem Buch ›Der soziale Islam‹ ausführlich beschrieben und belegt. Hier sehe ich die Wurzeln des sozialen Gedankens«.
Starker Tobak, der von regierungsnahen Klerikern als Frevel bezeichnet wird. Für sie ist Eliaçık ein »Nestbeschmutzer«. Den Religionseiferern passt es überhaupt nicht in den Kram, dass ein belehrter Gläubiger mit solchen Ansichten von einer Fernsehsendung zum anderen gereicht wird und die offizielle Lesart des Korans offen kritisiert.
Es wäre vermessen in diesem Artikel die religiösen Ansichten von Eliaçık und den »Antikapitalistischen Muslime« theologisch zu bewerten. Darum geht es auch nicht. Es geht vielmehr darum, die Überschneidungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen den »Antikapitalistischen Muslimen« und linken, sozialistischen Grundvorstellungen hervorzuheben. Mit der Bewegung der »Antikapitalistischen Muslime« entsteht für die Oppositionskräfte in der Türkei, allen voran für die kurdische Bewegung und Sozialist_innen, ein neuer Bündnispartner, der die Sprache der türkischen Mehrheitsgesellschaft spricht und das Potential hat, als eine Brücke zwischen der religiös-konservativen Mehrheit und Linken zu fungieren.
Den »Praxistest« haben die »Antikapitalistischen Muslime« während des Juni-Aufstandes [8] mit Bravour bestanden. Ihre Aktivist_innen haben an den 19 Tagen der Okkupation des Gezi- Parks aktiv mitgewirkt und die Regierungslegende von den »gottlosen Marodierenden« binnen Tage als Lüge entlarvt. Ministerpräsident Erdoğan sprach bei jeder Gelegenheit davon, dass »die marodierenden Terroristen unsere kopftuchtragenden Schwestern angreifen« würden. Die Bilder von Muslimen im Freitagsgebet im Gezi-Park, wo sie von Feministinnen, Sozialist_innen und LGBT*-Aktivist_innen vor Polizeigewalt geschützt wurden, haben eine andere Sprache gesprochen.
Dabei blieb es nicht: Als sich der Protest auf die zahlreichen Parkforen verlagerte, waren die »Antikapitalistischen Muslime« dabei. Dis diskutieren und arbeiten mit anderen Initiativen zusammen. Sie sind Teil der von zahlreichen Gruppen getragenen »Taksim-Solidarität« und werden sowohl von feministischen Gruppen als auch von LGBT*-Initiativen eingeladen. So hat Eliaçık zu Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*-Menschen eine klare Position: »Ich bin der Auffassung, dass LGBT*-Individuen mehr Unrecht erfahren als kopftuchtragende Frauen. Sie benötigen unsere Unterstützung«.
Der Einfluss der »Antikapitalistischen Muslime« ist inzwischen auch innerhalb linker Parteien spürbar. Als am 26. Oktober 2013 in Ankara der erste Parteitag der HDP [9] stattfand, war auf dem Parteitagspräsidium neben einem Armenier, einer Feministin, einem Schwulen u.a. auch eine Frau mit Kopftuch vertreten.
Es mag sein, dass die »Antikapitalistischen Muslime« es nicht einfach haben werden, sich gegen die neoliberalen Konvertiten, die den Islam zum Instrument ihrer Herrschaft gemacht haben oder gegen die Macht der unterschiedlichen offiziellen Rechtsschulen zu behaupten. Aber selbst wenn sie zahlenmäßig klein bleiben sollten, so wird ihr Widerspruch in der islamischen Welt immer zu hören sein. İhsan Eliaçık sagte, dass die jungen Menschen im Gezi-Park einen wunderbaren Traum von Freiheit geträumt haben. »Das war aber keine Fiktion. (...) So ist es immer: irgendjemand träumt etwas, andere glauben daran und die Welt wird mit diesem Traum neugestaltet«.
Der Juni-Aufstand hat gezeigt, dass eine andere Gesellschaft, eine andere Welt möglich ist. Wir konnten sehen, dass es möglich ist, dass Menschen trotz unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen politischen Positionen gegen die Allmacht der Herrschenden Widerstand leisten können. Die »Antikapitalistischen Muslime« haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Auch wenn es sich vom Munde eines Sozialisten komisch anhören mag: der islamischen Welt und den Muslimen ist zu wünschen, dass sie den Weg zum Koran wieder zurückfinden mögen. Einem Koran, wie sie von Eliaçık und den »Antikapitalistischen Muslimen« verstanden wird. Sollte dies gelingen, wäre es eine wahrhafte Revolution, die das Gesicht der Erde verändern kann.
Ist das nicht ein schöner Traum?
***
[1] Werner Ruf: »Der Islam – Schrecken des Abendlandes«, PapyRossa Verlag Köln, 2012, ISBN 978-3-89438-484-5.
[2] Armin Laschet: »Winter statt Frühling für Syriens Christen«, in: FAZ vom 21. März 2013.
[3] http://www.antikapitalistmuslumanlar.org
[4] Siehe: ebenda.
[5] Im Türkischen gibt es keine Artikel, die Übersetzung ist wortwörtlich.
[6] »Milli Görüș«, also die »Nationale Sicht« war die Programmatik der von Necmettin Erbakan geführten islamistischen Parteien. Erbakan war mehrmals an Regierungen beteiligt und wurde 1996 für zwei Jahre Ministerpräsident, bevor er von Militärs vom Amt verdrängt wurde.
[7] Alle Zitate von Eliaçık in diesem Artikel stammen aus einem Interview mit der Zeitschrift LuXemburg der Rosa Luxemburg Stiftung. Das Interview wird in einer der nächsten Ausgaben veröffentlicht.
[8] Siehe: Murat Çakır, »Der Juni-Aufstand in der Türkei«, http://murat-cakir.blogspot.de/2013/10/der-juni-aufstand-in-der-turkei.html

[9] HDP: Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi) ist aus dem Demokratischen Kongress der Völker (HDK) hervorgegangen und ist eine Bündnispartei, in der die kurdische Bewegung, zahlreiche linke und sozialistische Gruppen, unterschiedliche Initiativen von LGBT*-Gruppen, Feministinnen, Umweltschützer_innen, Wissenschaftler_innen u.a. vertreten sind. Derzeit ist die HDP mit 4 Abgeordneten, die bei den letzten Wahlen als unabhängige Kandidat_innen gewählt worden sind, im türkischen Parlament vertreten – darunter auch der prominente Filmemacher Sırrı Süreyya Önder. Am 26. Oktober 2013 wurden Sebahat Tuncel und der ehem. Studentenführer Ertuğrul Kürkçü zu Co-Vorsitzenden gewählt. Inzwischen hat die kurdische Bewegung erklärt, dass sie bei den nächsten Parlamentswahlen die HDP unterstützen werden. Bei den Kommunalwahlen in 2014 wird in den kurdischen Gebieten die BDP (Partei de Friedens und der Demokratie) und im Westen die HDP antreten.