Kriegsermächtigung
der türkischen Regierung verschärft die Spannungen
Erklärung
des Bundesausschusses Friedensratschlag
- NATO-Solidarität für Aggression?
- Türkische und deutsche Friedensbewegung sagen NEIN zu Krieg und Intervention
Kassel, 5. Oktober 2012 – Vor dem
Hintergrund einer drohenden Eskalation an der syrisch-türkischen Grenze
erklärten die Vertreter des Bundesausschusses Friedensratschlag, Murat Cakir
und Peter Strutynski, in einer ersten
Stellungnahme:
Der syrische
Granatbeschuss auf den türkischen Grenzort Akcakale hat zum Tod von Kindern und
Frauen geführt und ist unentschuldbar. Sollte der Beschuss vom syrischen
Militär ausgegangen sein (theoretisch möglich ist als Verursacher auch die
oppositionelle „Freie Syrisch Armee“, die in diesem Gebiet gegen die Regierungstruppen kämpft), dann geht die
Eskalation in den angespannten türkisch-syrischen Beziehungen auf ihr Konto. So
ist auch die Erklärung des syrischen Informationsministers Oumram Al-Zoubi zu
verstehen, der „im Namen der syrischen Regierung den Familien der Getöteten und
dem türkischen Volk tief empfundenes Beileid“ aussprach und eine Untersuchung
des Vorfalls ankündigte.
Die Reaktion
in Ankara auf den Vorfall ist mehr als
überzogen: Der Beschluss des türkischen Parlaments stellt eine
Kriegsermächtigung an die Regierung Erdogan dar. Nicht nur wurden die
bisherigen Reaktionen (noch in derselben Nacht flog die türkische Luftwaffe
„Vergeltungsangriffe“ auf grenznahe Ziele in Syrien) nachträglich gebilligt;
mit dem Blitzgesetz wurde auch künftigen Militärschlägen und Kriegsakten gegen
Syrien einen Freibrief ausgestellt.
Doch auch die
NATO gießt Öl ins Feuer. In einer Erklärung des NATO-Rats vom 3. Oktober wird
der Vorfall als ein „aggressiver Akt gegen einen Verbündeten“ gewertet und die syrische Regierung
aufgefordert, „alle flagranten Verletzungen des internationalen Rechts“ zu
beenden. Gleichzeitig stellt sich das
Militärbündnis voll hinter das NATO-Mitglied Türkei. Zwar wird in der Erklärung
ausdrücklich auf Art. 4 des NATO-Vertrags Bezug genommen (hier geht es um
Konsultationen); der nächste Schritt, die Erklärung des Bündnisfalls nach Art.
5, ist aber nicht mehr weit entfernt davon.
Die
internationale Friedensbewegung warnt vor einer weiteren Eskalation des
Konflikts. Es kann nicht darum gehen, der Türkei den Rücken zu stärken.
Immerhin ist sie selbst ja auch verantwortlich für zahlreiche Übergriffe im
türkisch-syrischen Grenzgebiet und befeuert den
syrischen Bürgerkrieg seit Monaten durch die Unterstützung islamistischer
Rebellengruppen und der der „Freien Syrischen
Armee“, die in der Türkei ihren Kommandostab aufbauen und
Ausbildungslager errichten konnte. Eine Blankovollmacht für Ankara birgt die
Gefahr, in einen automatischen Bündnisfall hineingezogen zu werden. Erklärungen
aus Washington, London und Berlin gehen
leider genau in diese Richtung; Originalton Merkel: „Wir stehen an der
Seite der Türkei.“
Auf der
Tagesordnung heute steht Mäßigung, nicht Anheizen des Konflikts. Für die
deutsche Außenpolitik, für die NATO insgesamt heißt das: Einwirken auf die
türkische Regierung, von weiteren Eskalationsschritten abzusehen und sich nicht
weiter in den innersyrischen Konflikt einzuschalten. Die Friedensbewegung
begrüßt die Aktivitäten in der Türkei, die sich eindeutig gegen eine
Intervention aussprechen und seit zwei Tagen auf die Straße geht mit der
einfachen, aber richtigen Parole: „Nein zum Krieg!“
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Murat Cakir
Peter Strutynski (Sprecher)
Dokumentiert:
Der
Beschluss des türkischen Parlaments im Wortlaut
(Übersetzung aus dem Türkischen)
„Die anhaltende Krise in Syrien gefährdet nicht nur die
regionale Stabilität und Sicherheit, sondern zunehmend auch unsere nationale
Sicherheit. Im Rahmen der militärischen Operationen der bewaffneten Kräfte der
Arabischen Republik Syrien haben sich ab dem 20. September 2012 aggressive
Handlungen auf das Gebiet unseres Landes gerichtet – trotz unserer Warnungen
und diplomatischen Initiativen. Diese aggressiven Handlungen gegen das
Territorium unseres Landes stehen am Rande eines bewaffneten Angriffs. Diese
Situation hat eine Stufe erreicht, die eine ernste Bedrohung für unsere
nationale Sicherheit bedeutet. In diesem Zusammenhang müssen zusätzliche
Risiken und Bedrohungen für unser Land zeitnah und schnell abgewendet und die
erforderlichen Maßnahmen getroffen werden. Daher bitte ich um die Zustimmung im
Rahmen des Artikels 92 der Verfassung für den einjährigen Einsatz der
türkischen Streitkräfte im Ausland, deren Rahmen, Zahl und Zeit von der
Regierung festgelegt werden.“
[Angenommen mit 320
Stimmen (Abgeordnete der Regierungspartei AKP und der neofaschistischen MHP)
gegen 129 Stimmen (Abgeordnete der linken BDP und der kemalistischen CHP).]