Die Protestbewegung in der Türkei ist vielschichtig. Auch
einige Gewerkschaften spielen eine Rolle in dem Protest gegen Gentrifizierung,
neoliberalen Gesellschaftsumbau und Erdogan.
Ein »Aufstand der Mittelschicht« sei es, ein »Kulturkampf der
weißen Türken gegen Islamisierung« – so der Tenor in den bürgerlichen Medien.
Als unbestritten gilt, dass der Protest städtisch ist und von gut Ausgebildeten
getragen wird. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn jüngste Untersuchungen
belegen die Klassenzugehörigkeiten: 58 Prozent der Protestierenden sind
abhängig Beschäftigte, zehn Prozent arbeitslos und 24 Prozent Studierende bzw.
Schüler. Teilgenommen haben auch zahlreiche prekäre Scheinselbständige wie
Rechtsanwälte oder Steuerberater.
Auch wenn die Demonstranten keine gemeinsame ideologische Basis
zu haben scheinen und obwohl tiefe Differenzen oder gar Feindschaften zwischen
den Gruppen existieren, bildet die Unzufriedenheit mit der Erdogan-Regierung
die Gemeinsamkeit. Und das hat vor allem soziale Gründe. Die sogenannten
»städtischen Mittelschichten«, also die gut ausgebildeten und über dem
Durchschnitt verdienenden laizistischen Gruppen sind seit Beginn der
Weltwirtschaftskrise in einer Verarmungsspirale gefangen oder laufen zumindest
Gefahr, in die Armut hinabzugleiten. Und mittlerweile werden die prekären
Arbeits- und Lebensverhältnisse und die Tendenz der Proletarisierung breiter
Bevölkerungsschichten zunehmend sichtbar. Das gilt trotz des gefühlten
Wohlstands, der durch die exorbitante Verschuldung privater Haushalte
finanziert wird. Eben diese realen Verschlechterungen, gepaart mit der
autoritär-islamistischen Einmischung in ihre Lebensweise staute die Wut, die
sich mit den Ereignissen um den Gezi-Park in Istanbul Ende Mai mit eruptiver
Kraft entlud.
Aber diese Gruppen haben ein gewaltiges Problem: Sie sind weder
politisch noch gewerkschaftlich organisiert, weil sie bisher ihre
Proletarisierung nicht wahr haben wollten. Die Ablehnung des neoliberalen
Umbaus im Allgemeinen und der Gentrifizierung ganzer Stadtteile im Besonderen
wird von allen getragen, aber der Protest dagegen artikuliert sich individuell.
Auch deshalb begnügen sie sich mit kurzfristigen Verbesserungsforderungen und
haben den Schulterschluss mit der organisierten Arbeiterbewegung noch nicht
gesucht. Das hat sicherlich auch mit der Kraftlosigkeit und der Zersplitterung
der Gewerkschaften zu tun. Seit dem Militärputsch von 1980 haben die erheblich
geschwächten Gewerkschaften es besonders schwer, sich zu organisieren. Eine
restriktive Gesetzgebung und eine gewerkschaftsfeindliche Regierungspolitik
sowie die Tatsache, dass rund elf Millionen Menschen im informellen Sektor
beschäftigt sind, bilden wesentliche Organisationshemmnisse. Hinzu kommen
hausgemachte Probleme wie etwa bürokratische Strukturen und ideologische Kämpfe
um Vorstandsposten. Das lässt die Gewerkschaften unattraktiv erscheinen. Da
keine Einheitsgewerkschaften existieren, stehen den regierungsnahen
Gewerkschaftsdachverbänden TÜRK-IS und HAK-IS sowie dem nationalistisch-islamischen
Beamtenbund Memur-Sen, die linken Konföderationen DISK (Konföderation der
Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei) und KESK (Konföderation der
im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) gegenüber.
DISK und KESK waren die einzigen Gewerkschaften, die gemeinsam
mit den Berufsverbänden der Ingenieure und Architekten (TMMOB), der Ärzte (TTB)
und Zahnärzte (TDB) die Proteste unterstützt haben. Sie leisteten logistische
Unterstützung und beteiligten sich an den Demonstrationen. Darüber hinaus hat
die KESK für den 4. und 5. Juni, die DISK lediglich für den 5. Juni und beide
gemeinsam mit TMMOB, TTB und TDB für den 17. Juni zu einem jeweils befristeten
Generalstreik aufgerufen. Der Wirkung blieb indes relativ gering. Gemessen an
den Mitgliederzahlen – DISK 100000, KESK 230000, TMMOB 430000, TTB 90000 und
TDB 24000 – war die Beteiligung am Generalstreik mit knapp 50000 in 15 Städten
sehr niedrig.
Dies zeigt, dass die Gewerkschaften und
die Taksim-Bewegung noch nicht zu einander gefunden haben. Letztlich wird es
darauf ankommen, ob es den Aktivisten gelingt, mit der kurdischen Bewegung wie
auch mit den Gewerkschaften ein breites Bündnis zu schmieden, um den Protest
zum Erfolg zu führen. Aber auch die Gewerkschaften müssen umdenken und die Chance
zur Erneuerung sehen. Denn wie in Brasilien, Bulgarien oder Griechenland, ist
auch in der Türkei der soziale Aspekt deutlich geworden. Ohne Frage: Taksim ist
das Symbol des sozialen Widerstandes.