Während linke Bewegungen in
aller Welt darüber debattieren, ob die Aufstandsbewegungen in der arabischen
Welt, in Griechenland, Italien, Portugal, Spanien sowie jetzt in Brasilien und
der Türkei eine »transnationalisierte Schule« der Protestbewegungen werden könnten,
werden die Herrschenden in den kapitalistischen Zentren zunehmend nervöser.
In Deutschland z.B. streiten
neoliberale Eliten über das »wie« ihrer Einflussnahme auf die aktuelle
Entwicklung in der Türkei. Immerhin geht es um langfristige strategische und
wirtschaftliche Interessen; im Besonderen um die Sicherung der
Energieversorgung Europas. Aus guter Erfahrung wissen wir, dass der in diesem
Zusammenhang auf »Demokratie« und »Menschenrechte« genommene Bezug nur
kosmetisches Beiwerk ist.
Dennoch scheinen viele in
Europa irritiert zu sein. CSU-Chef Seehofer, erfreut über sein wiedergefundenes
klassisches Wahlkampfthema, spricht sich gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei
aus. Aber der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagt,
»wir brauchen das Land als Mittler«. Während der Vorsitzende der TGD, Kolat,
und die Bundestagsabgeordnete Dağdelen den Stopp der Beitrittsgespräche fordern,
sehen EU-Außenbeauftragte Ashton, Grünen-Chef Özdemir und der
EU-Erweiterungskommissar Füle hier »den letzten Hebel zur Unterstützung der
Demokratie in der Türkei«. Washington, Berlin und Brüssel reagieren verschnupft
auf die Polizeigewalt der Erdoğan-Regierung.
Doch das, was die »Leader« der Welt so
nervös macht, ist keineswegs die Sorge um die Menschen, sondern die entfachte
Veränderungsdynamik der Proteste im Land. Zum einen sehen sie das mögliche
Abhandenkommen ihres Modells einer gemäßigt »islamischen Demokratie«, zum
anderen müssen sie auf die Ängste der internationalen Finanzmärkte reagieren.
Denn die Gefährdung der Stabilität bedroht die Sicherheit derer Kapitalanlagen
und die »Neuordnung des Nahen-Ostens«.
Sie sehen, dass das vielgelobte
»türkische Wirtschaftswunder« auf sehr wackeligen Beinen steht. Internationale
Ratingagenturen warnen vor einer schweren Finanz- und Verwertungskrise, die
sowohl auf die regionale, als auch auf die globale Ökonomie fatale Auswirkungen
haben könnte. Die Reaktion der türkischen Wirtschaft zeugt davon: die Börse in
Istanbul sackte ab und die türkische Lira musste Kursverluste hinnehmen. Der
Rückgang des Wirtschaftswachstums von über 8 Prozent (2010 und 2011) auf 2,6
Prozent in 2012, das große Leistungsbilanzdefizit, die hohe
Auslandsverschuldung und die exorbitant gestiegene Verschuldung der privaten
Haushalte senden Alarmsignale aus. Und die Entwicklung in Syrien erfordert das
Eingreifen, um eine katastrophale Kettenreaktion zu verhindern.
Die gut gemeinte Forderung von Kolat und
Dağdelen
mal ausgenommen: Die Debatte über Beitrittsgespräche zeugt vom Doppelmoral. Für
EU-Eliten sind diese ein Faustpfand, um die strategischen und wirtschaftlichen
Interessen gegenüber der Türkei zu wahren. Dabei weißt man in Brüssel zu gut:
auch eine EU-Mitgliedschaft kann Entdemokratisierungstendenzen in einzelnen
Länder nicht verhindern – siehe Ungarn. Abgesehen davon ist die EU
selbst dabei, die Union und die bürgerlichen Demokratien Europas zu entkernen.
Neoliberaler Umbau, Militarisierung der Außenpolitik, Delegitimierung von politischen
Entscheidungsmechanismen und die Entmachtung der Parlamente – all dies ist
weitgehend vollzogen.
Die Demokratisierung der
Türkei ist keine Frage der EU-Mitgliedschaft, sondern eine Notwendigkeit.
Sowohl in Kurdistan, als auch im Westen der Türkei haben unterschiedliche
Bevölkerungsschichten mit diesen Protesten ihren Willen für einen
Demokratisierungs- und Friedensprozess kundgetan. Was sie benötigen ist unsere
Solidarität.
Die gesellschaftliche und
politische Linke in Europa wäre gut beraten, anstatt sich an Scheindebatten
über das Für und Wider einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu beteiligen, vor
allem die eigenen Hausaufgaben zu erledigen. Eine demokratische Türkei, die
ihre Nationalitätenfragen gelöst hat, sollte in einem Europa der weitgehenden Demokratie,
des Friedens und EU-weit gleichen sozialen Standards willkommen geheißt werden.
Dafür ist es notwendig, sich endlich vom Last des Eurozentrismus zu befreien
und für ein solches Europa zu kämpfen. Denn Frieden und Demokratie in aller
Welt beginnt vor unsrer eigener Türe. Denn; Taksim ist überall!