Wahlabendanalyse der türkischen
Staatspräsidentschaftswahlen
Nahezu
alle Kommentare sind in einem Punkt einig: »Es ist keine Überraschung. Der
Favorit hat gewonnen«. In der Tat: Ministerpräsident Erdoğan konnte die Präsidentschaftswahlen
mit 51,8 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang für sich entschieden. Natürlich
war es keine gerechte, geschweige denn gleichberechtigte Wahl: Erdoğan hat alle
Ressourcen seines Regierungsapparats rigoros ausgenutzt. Die überwiegend gleichgeschalteten
bürgerlichen Medien, das Staatsfernsehen und die durch große Spenden aus der
Wirtschaft finanzstarke Wahlkampagne taten ihr Bestes für seinen Sieg (Die
anderen beiden Kandidaten hatten kaum eine Chance, in den Medien angemessen
repräsentiert zu werden. Zudem wurde die Wahlkampagne der linken HDP massiv
behindert). Sicher, das Wahlergebnis ist keine Überraschung, doch bei näherer
Betrachtung kann man von einem »überragenden Sieg« Erdoğans aber kaum sprechen.
Zwar
bestätigen die Zahlen den Sieg Erdoğans, aber daraus sind auch die Risiken für
die AKP-Regierung zu lesen. Zuerst die Zahlen: Es war die niedrigste
Wahlbeteiligung seit dem Militärputsch von 1980. Von den 55.701.719 Wähler_innen
blieben 14.760.337 Zuhause. Während bei den Kommunalwahlen im März 2014 rund 89
Prozent Wahlbeteiligung notiert wurde, hat die Hohe Wahlkommission der Türkei
(YSK) für den 10. August 2014 eine Wahlbeteiligung von 73,7 Prozent bekanntgegeben.
Einigen Kommentatoren zufolge, sind viele enttäuschte CHP-Anhänger_innen nicht
zur Wahl gegangen – Aufgrund persönlicher Beobachtungen in dem Urlaubsort kann
ich das bestätigen.
Laut
einer ersten nichtamtlichen Bekanntmachung hat die YSK bestätigt, dass Erdoğan
mit 51,8 Prozent zum Staatspräsidenten gewählt worden ist. Erdoğan hatte
gehofft, dass bei den zum ersten Mal stattfindenden Präsidentschaftswahlen
einen überragenden Sieg davon zu tragen, doch er vermochte nicht die absolute
Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen gegenüber der Kommunalwahlen entscheidend
zu erhöhen. Bei den Kommunalwahlen hatte die AKP rund 20,5 Millionen Stimmen
geholt. Erdoğan bekam dagegen rund 20,8 Millionen – also ein Zuwachs von ca.
300.000 Stimmen. Auf der anderen Seite konnte Ekmelettin M. İhsanoğlu, der
konservative Kandidat der großen Oppositionsparteien CHP und MHP sowie einigen
Kleinstparteien, mit 38,4 Prozent (rund 15,4 Millionen Stimmen) noch nicht mal
das addierte Ergebnis der ihn aufstellenden Parteien von vor 5 Monaten erreichen.
Demgegenüber konnte jedoch Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der linken
HDP mit 9,8 Prozent (3,9 Millionen Stimmen) das Wahlergebnis seiner Partei bei
den Kommunalwahlen um die Hälfte steigern. Von daher wäre es nicht falsch zu
behaupten, dass Erdoğan der Sieger, İhsanoğlu der Besiegte, aber Demirtaş der
neue Hoffnungsträger geworden sind.
Strukturelle Hegemonie
Die
Kandidatenaufstellung und das Wahlergebnis bestätigten die Tatsache, dass eine
sunnitisch-konservative Mehrheit über eine strukturelle Hegemonie in der Türkei
verfügt. Türkeikenner_innen ist es bekannt, dass ein großer Teil der
Bevölkerung in der Türkei stets nationalistische bzw. konservative Parteien
gewählt hat. Derzeit spricht man davon, dass rund 70 Prozent der Bevölkerung
nationalistisch-konservative Vorstellungen hat (Der Journalist Can Gürses weist
darauf hin, dass zwischen 1983 und 2014 die nationalistisch-konservativen
Parteien durchschnittlich 68 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten.
Linksaffine Parteien – damit meint er vor allem die kemalistische CHP – jedoch
nur 27,5 Prozent. Siehe: www.radikal.com.tr).
Die
Zahlen der Statistikbehörde der Türkei (TUIK) bestätigen, dass die armen
Bevölkerungsteile wieder einmal wahlentscheidend waren. Laut TUIK haben von den
rund 55 Millionen Wähler_innen rund 33,5 Millionen einen niedrigen
Schulabschluss, wobei die Zahl der Analphabeten als relativ hoch angegeben
wird. Rund 75 Prozent der Erdoğan-Wähler_innen haben einen niedrigen
Bildungsstand. Von diesen 33,5 Millionen verfügt nur 28 Prozent, also 9,3
Millionen über einen Internetanschluss. Das ist übrigens auch ein wesentlicher
Grund dafür, warum die Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan und gegen die AKP
keinen Einfluss auf das Wahlverhalten hatten.
Aber
es wäre falsch alle Erdoğan-Wähler_innen nur als »islamistische Konservative«
zu bezeichnen. Natürlich sind darunter sehr viele sunnitisch-nationalistisch-konservativ
geprägte Personen, aber auch viele ideologieferne Pragmatisten. Der gemeinsame
Motivationspunkt für alle Erdoğan-Wähler_innen ist es, dass sie sich als
Profiteure des von Erdoğan repräsentierten
nationalistisch-sunnitisch-konservativ und neoliberalen Werte- und
Regierungssystems fühlen. Zwar sind die wahren Profiteure nur eine kleine
Minderheit, vor allem unterschiedliche Kapitalfraktionen, aber die überwiegende
Mehrheit fühlt sich durch niedrige Kreditzinsen, den scheinbaren
Wirtschaftsaufschwung und mehr Konsummöglichkeiten bessergestellt als in der
Vergangenheit. Die Tatsache, dass die Verschuldung der privaten Haushalte von
4,5 Milliarden Dollar (2003) auf über 145 Milliarden Dollar (2013) gestiegen
ist und 70 Prozent ihres verfügbaren Einkommens als Zins- und Tilgungszahlungen
bei den Banken verbleibt, ändert nichts an dem Gefühl der »Teilhabe«.
Erdoğans
»Stabilitätsrhetorik« und die offen zur Schau gestellten neo-osmanischen
Ambitionen der AKP korrespondieren mit den Sehnsüchten dieser verarmten und
hochverschuldeten Bevölkerungskreise, die sich eine größere Teilhabe vom
Reichtum des wiederwerdenden Imperiums erhoffen. Dieser ökonomisch-pragmatisch
handelnder und vom sunnitischen Konservatismus immer mehr beeinflusster Kreis
ist der größte Wähler_innenblock in der Türkei. Die Korruptionsvorwürfe, die
von Erdoğan geschickt als »Angriff auf den nationalen Willen« und »Versuche,
die neue, starke und große Türkei zu verhindern« deklariert wurden sowie seine
bewusste Polarisierungspolitik hatten daher zur Folge, dass sich dieser Block
stärker um Erdoğan und die AKP zusammengeschlossen hat.
Der
Soziologe Cihan Tuğal (siehe: www.sendika.org)
spricht davon, dass alle Wahlen seit dem Verfassungsreferendum von 2010 sich
»zu einem Plebiszit, nämlich zu einer stetigen Erneuerung des Treueschwurs
gegenüber der AKP-Regierung entwickelt« hätten. Erdoğan und die AKP hätten mit
ihrer gesellschaftlichen Polarisierung und sunnitisch-nationalistischen
Rhetorik diesen Treueschwur eingefordert und jeden Angriff der Opposition (bzw.
den ehemaligen Mitregierenden von der Gülen-Bewegung) für das Zusammenschweißen
ihres Wähler_innenblocks nutzen können.
Die
Reaktion der kemalistischen CHP, gemeinsam mit der neofaschistischen MHP und
anderen rechten Parteien einen ausgewiesenen Konservativen als Gegenkandidat zu
präsentieren, hatte fatale Folgen. Zum einen wurde mit der Kandidatur des
politisch unbekannten ehemaligen Generalsekretärs der Islamischen Konferenz,
İhsanoğlu die konfessionelle Regierungspraxis der AKP als alternativlos anerkannt,
womit auch die strukturelle Hegemonie des sunnitischen Konservatismus gestärkt
wurde. Die sunnitisch-konservative Mehrheit wählte daraufhin natürlich das
»Original« und nicht dessen Karikatur. Zum anderen aber verprellte die CHP
damit ihre eigenen modern-laizistischen, vor allem aber Alewitischen
Wähler_innen. Das Ergebnis war, dass ein kleiner Teil von ihnen Demirtaş
wählte, aber ein noch größerer Teil den Wahlurnen fern blieb. Hier sollte
ordnungshalber noch zugefügt werden, dass laut Umfragen ein großer Teil der
MHP-Anhänger_innen nicht ihren eigenen Kandidaten, sondern den »echteren
Nationalisten« Erdoğan gewählt hat.
Wie weiter?
Einer
der Regierungssprecher teilte mit, dass Erdoğan noch bevor er das Amt des
Staatspräsidenten offiziell übernimmt (und der jetzige Präsident und der
mögliche Gegenspieler Erdoğans in der AKP Abdullah Gül abdanken kann), den
Parteitag einberufen wird und einen neuen Parteivorsitzenden, der gleichzeitig
Ministerpräsident sein soll, vorschlagen wird. Den Beobachtern zufolge werden
keine größeren Debatten erwartet. Erdoğan will, so steht es fest, einen seinen
engen Mitstreitern als Nachfolger wählen lassen, doch will er weiterhin der
einzige Entscheidungsträger bleiben. Die heute noch gültige Junta-Verfassung
gibt ihm genügend Instrumente an die Hand. So sieht der Artikel 104 der
Verfassung vor, dass der »Staatspräsident jederzeit das Kabinett unter seinem
Vorsitz zur Sitzung einberufen kann«. Laut Verfassung hat der Staatspräsident
weitgehende Wirkungsmöglichkeiten, die in den letzten 12 Jahren wegen Erdoğan
kaum benutzt wurden. Erdoğan selbst hat noch am Wahlabend erklärt, dass er kein
»Staatspräsident sein wird, der nur zuschaut«. Er fühlt sich für »alles«, was
in der Türkei passiert verantwortlich und will in allen Bereichen sich
einmischen.
Dafür
jedoch benötigt er einen »Beamten« als Ministerpräsident. Ob die AKP, die immer
noch eine Koalition unterschiedlicher Kräfte ist, sich dem beugen wird oder der
neue Ministerpräsident »gestalterisch« handeln und somit innerparteiische
Konflikte erzeugen wird, ist noch nicht klar auszumachen. Aber insgesamt ist
festzustellen, dass die AKP ihren Zenit erreicht hat. Dafür sprechen
verschiedene Gründe.
Zum
einen ist die wirtschaftliche Situation sehr brüchig. Rund 400 Milliarden
Dollar Auslandsschulden, die Energie- und Lebensmittelabhängigkeit vom Import,
zurückgehende Produktionskapazitäten und die wieder steigende Inflation (August
2014: ca.10 Prozent) weisen auf Probleme hin. Die türkische Wirtschaft ist
stark von Auslandskapital abhängig, die derzeit stagnieren. Inzwischen steht
die Türkei in der CDS-Risikoprämienliste (Credit Default Swap) nach Russland,
Portugal und Südafrika auf vierter Stelle. Das EU-Mitglied Portugal sowie die
BRICS-Staaten Russland und Südafrika haben bessere Möglichkeiten als die
Türkei, sich zu konsolidieren, aber eine weitere globale Finanzkrise könnte die
türkische Wirtschaft in den Abgrund bringen.
Auch
die geopolitische Lage der Türkei ist nicht rosig. Die sog.
»Null-Probleme-Politik« der AKP wurde zu einem »Full-Problem-Situation« mit den
Nachbarstaaten. Die Unterstützung der islamistischen Terrorgruppen in Syrien
und dem Irak, das nichteingelöste Friedensversprechen in der kurdischen Frage
sowie die Gefahr eines Interventionskrieges sind akute Probleme der türkischen
Politik, welches in der Region immer weniger ernst genommen wird. Wenn in
dieser Situation ein Teil des ausländischen Kapitals aufgrund von ernster
werdenden Risiken abgezogen wird, die Inflation steigt, Devisenkurse sich
ungünstig entwickeln und die AKP-Wohltätigkeit nicht mehr zu finanzieren ist,
werden in der AKP-Hegemonie größere Risse deutlich.
Zum
anderen ist mit der Kandidatur von Demirtaş und seinen Wahlergebnis eine Chance
für den Aufbau einer starken und wählbaren Alternative deutlich geworden. 2015
werden die Parlamentswahlen stattfinden. Wenn die HDP, gemeinsam mit anderen
linken Parteien und Teilen der laizistischen Kreisen es schaffen könnte, einen
klassenbezogenen Strang zu den verarmten und hochverschuldeten
Bevölkerungsteile herzustellen, wäre eine Regierungsbeteiligung durchaus
möglich. Die gleichzeitige Stärkung der gesellschaftlichen Opposition, der
Proteste und Kämpfe um das Öffentliche könnten eine Wende schaffen. Aber dafür
muss die HDP und vor allem die kurdische Bewegung die soziale Komponente ihrer
Politik deutlich machen und über neue Bündnisse nachdenken.
Bis
dahin jedoch wird Erdoğan alles tun, um seine Macht und die AKP-Regierung zu
stärken. Das bedeutet, dass die autoritäre »Demokratie« türkischer Art weiter
fortgeführt und die neoliberale Wirtschaftspolitik stärker umgesetzt wird. Der
Alltag in der Türkei wird noch mehr islamisiert, undemokratische Gesetzgebung
weiter fortgeführt, autoritäre Strukturen werden noch mehr gefestigt. Dennoch;
für Hoffnungslosigkeit gibt es kein Grund.