Über das Grubenunglück von Soma und die
Politik der Erdoğan-Regierung
Eigentlich
bedarf es keiner Katastrophe um zu beweisen, dass Kohleabbau für
Bergbauarbeiter, Anwohner_innen, Klima und Umwelt äußerst gefährlich ist –
insbesondere wenn Grubenbetreiber aus Profitgründen den Arbeitsschutz
systematisch vernachlässigen. Das Grubenunglück von Soma, bei dem über 300
Arbeiter ums Leben kamen, hat diese Binsenweisheit auf fatale Weise bestätigt.
Aber nicht nur das: Soma offenbarte auch die Auswirkungen des weitgediehenen
neoliberalen Umbaus in der Türkei und zum wiederholten Male die der
kapitalistischen Profitlogik.
Die
Reaktion der AKP-Regierung, die mit aller Macht die kritische Öffentlichkeit
und Anwälte aus dem Unglücksort auszusperren versuchte, dient vor allem der
Verhinderung einer Ursachenbestimmung. Selbst eine nur sachlich-technische
Untersuchung würde offenlegen, was Gewerkschaften und oppositionelle Kräfte
seit Jahren behaupten: dass für die systematische Vernachlässigung von
Arbeitsschutz und Sicherheitsstandards das Profitstreben der Grubenbetreiber
ebenso verantwortlich ist, wie die bewusste Verhinderung wirksamer
Kontrollmechanismen durch politische Verantwortliche. Insofern hat einer der geretteten
Kumpeln recht, als er in einem Interview feststellte, dass das Grubenunglück
»kein Schicksal, sondern Mord mit Ansage« war.
So
war es auch kein Zufall, dass der Ministerpräsident Erdoğan bei seinem Besuch
im Unglücksort von Bergbauarbeitern und den Angehörigen der Opfer ausgebuht
wurde – gerade in einem Ort, wo seine Partei noch bei den Kommunalwahlen am 30.
März 2014 Erfolge gebucht hatte. Völlig irritiert von dem unerwarteten Protest
wurden Erdoğan und seine Begleiter handgreiflich: ein Foto seines Beraters, wie
er einen protestierenden Arbeiter mit Tritten attackierte, ging um die Welt.
Dadurch demonstrierte die Erdoğan-Regierung, dass sie nicht nur gewillt ist,
jede Form von Kontrolle und Protest zu unterdrücken, sondern dass sie bereits
den Gedanken an jeglicher Kritik gegenüber ihrer autoritärer Politik für
illegitim hält.
Aber
Soma unterstrich auf tragische Weise auch die Dringlichkeit, die Verbindung
zwischen der antiautoritären und kapitalismuskritischen Stoßrichtung des sich
jährenden Juni-Aufstandes und dem Tod der Bergbauarbeiter auf breiter,
solidarischer Basis herzustellen – was vor allem für die linke in der Türkei
eine große Herausforderung darstellt.
Die Realität der türkischen Arbeitswelt
Lange
Zeit galt die Türkei als ein erfolgreiches »Labor« des Neoliberalismus –
immerhin ist sie, nach Chile, das zweite Land weltweit, in der das neoliberale
Programm mit einem Militärputsch (1980) durchgesetzt wurde. Nach 2002, in der
AKP-Ära, wurden bürgerliche Medien im Westen ob des »türkischen
Wirtschaftswunders« nicht müde, Erdoğan zu loben. Doch hinter dieser Fassade
stand ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Flexibilisierungen
par excellence, dessen hässliche Fratze sich immer wieder in Autoritarismus und
ungeheuren Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen offenbarte.
Eine
der ersten wirtschaftlichen Maßnahmen der neoliberalen Konvertiten von der AKP
war, als sie 2002 an die Macht kamen, die Aufhebung der sog.
Arbeitsschutzgesetze. Mit dem Gesetz Nr. 4857 vom 22. Mai 2003 wurden die
Rechte der Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, Gewerkschaften weiter
geschwächt, eine »Beschäftigung auf Abruf« eingeführt, befristete
Arbeitsverhältnisse sowie der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet und so der
Arbeitsmarkt weitgehend flexibilisiert. Mit der Vereinfachung der Leiharbeit
begann das heute in der Türkei ausufernde Subunternehmertum.
Welche
Ausmaße das Subunternehmertum inzwischen angenommen hat, zeigen die Daten des
Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit: demnach werden von insgesamt
33.788 Privatfirmen Subunternehmer eingesetzt. Auch der öffentliche Dienst: 275
Institutionen und öffentliche Unternehmen beschäftigen Subunternehmer. Während
2002 insgesamt 387.000 Beschäftigte von Subunternehmern eingesetzt wurden, wuchs
diese Zahl in 2013 auf mehr als 2,5 Millionen.
Das
Subunternehmen-System ist für deren Beschäftigte besonders perfide. Es ist ein
System, das in einer Kette von Großunternehmen, auf Subunternehmen, davon auf
Sub-Subunternehmen, scheinselbständigen Vorarbeitern und letztendlich auf die
einfachen Beschäftigten das Risiko und die Lasten der Beschäftigung aufbürdet.
Während Großunternehmen oder die öffentlichen Institutionen das
Beschäftigungsrisiko in all ihren üblichen Formen den Subunternehmen auflasten,
setzt das Subunternehmen auf Akkordarbeit und minimiert so den Anteil der
Lohnarbeit an den Produktionskosten. Die Arbeiter_innen müssen Akkordarbeit und
Pauschalbezahlung akzeptieren, da sie ansonsten bei einem weiteren »Auftrag«
nicht mehr wieder berücksichtigt würden.
Aber
auch die Situation der übrigen Beschäftigten sieht nicht rosig aus. Eine
oberflächliche Betrachtung von offiziellen Zahlen der staatlichen
Statistikbehörde TUIK belegt dies: Zwischen den Jahren 2005 und 2013 wuchs die
türkische Wirtschaft durchschnittlich um 4,4 Prozent. In gleichem Zeitraum
jedoch hatten Beschäftigte in öffentlichen Unternehmen durchschnittlich einen
reellen Lohnverlust von -0,2 Prozent zu beklagen – im privaten Sektor -0,1
Prozent. Laut TUIK sind rund 16,3 Millionen Menschen
sozialversicherungspflichtig beschäftigt, wobei die Zahl derjenigen, die nach
einem – wie auch gearteten – Tarif bezahlt werden, gerade mal 700.000 ausmacht.
Die TUIK-Daten weisen daraufhin, dass rund 5 Millionen Menschen nach dem
gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden und dieser in den Jahren 2005 bis 2013
durchschnittlich um 2,6 Prozent gewachsen ist, Doch während der gesetzliche
Mindestlohn in 2014 bei 297,00 Euro pro Monat lag, meldeten die Gewerkschaften,
dass die Armutsgrenze für eine 4-köpfige Familie 2014 bei rund 1.161,00 Euro
und die Hungergrenze bei rund 367,00 Euro liege. So viel zum »türkischen
Wirtschaftswunder« und zur »Erhöhung« des Pro-Kopf-Einkommens, die von den
bürgerlichen Medien in Europa so hoch gelobt werden.
In
der AKP-Ära verschärften sich die Ausbeutungsverhältnisse zusätzlich durch die
erhöhte Steuerungerechtigkeit. Laut TUIK betrugen die Staatseinnahmen in 2013
rund 367 Milliarden TL (128 Milliarden Euro), was 23,5 Prozent des BSP ausmacht
– Übrigens: die AKP erhöhte diesen Anteil von 20 (2003) auf 23,5 Prozent
(2013). Neuesten Berechnungen nach beträgt der Privatisierungserlös der letzten
Dekade rund 60 Milliarden Dollar.
Doch,
was sich als eine relative solide Einnahmesituation anhört, stellt sich beim
näheren Hinsehen als eine ungeheure Ungerechtigkeit dar: indirekte Steuern und
Gebühren machen rund 70 Prozent der Staatseinnahmen aus. Während der Anteil der
Körperschaftssteuern gerade mal 9 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht, beträgt
der Anteil der Einkommenssteuer rund 21 Prozent, wobei zwei Drittel dieser
Steuer von den Lohnabhängigen bezahlt werden. Laut TUIK verfügt 20 Prozent der
Bevölkerung auf über 50 Prozent des gesamten erwirtschafteten Reichtums und
bekommt dazu noch Steuererleichterungen sowie Steuergeschenke vom Staat.
Soma: das neue Symbol des türkischen
Kapitalismus
Der
Bergbau ist ein besonderes Beispiel dafür, wie die AKP den neoliberalen Umbau
vorantrieb und mit Sonderfördermaßnahmen unterschiedliche Kapitalfraktionen an
sich bindet. Nehmen wir die Unglücksgrube Eynez in Soma: das staatseigene
Betrieb »Türkische Kohleförderung« (TKI) ist Eigentümerin der Grube. Das
Privatunternehmen »Soma Kömür Madeni A. Ş.« ist die alleinige Grubenbetreiberin
– also quasi ein Subunternehmen. Viele staatseigene Gruben wurden so an
Subunternehmen vergeben. Das ist eine besondere Form der Privatisierung ohne
Eigentumsüberschreibung, weil die TKI sich vertraglich verpflichtet, jede Tonne
der geförderten Kohle zu einem festgelegten Preis zu kaufen.
Die
Kohle ist ein wichtiger Bestandteil der türkischen Energiewirtschaft und wird
seit der Gründung der Republik vom Staat als »strategisches Gut« angesehen.
Laut TUIK wurden 2011 in der Türkei insgesamt 228,4 Milliarden kWh Strom
produziert. Der Anteil von Kohle an dieser Produktion lag bei 28,1 Prozent. Gerade
in der Kohleproduktion wurde die Privatisierung mit aller Wucht vorangetrieben:
während 2002 die staatlichen Investitionen in diesem Sektor bei 82 Prozent und
die privaten Investitionen bei 18 Prozent lagen, änderte sich das in 2013 und
die staatlichen Investitionen gingen auf 36 Prozent zurück, aber die Privaten
erhöhten sich auf 64 Prozent.
Eine
wesentliche Begründung für eine derartige Privatisierung der Kohleförderung war
die zu erwarteten Kostensenkungen. Anfang 2014 strahlten der zuständige
Minister Taner Yıldız und der Firmeninhaber Alp Gürkan, als sie gemeinsam
bekanntgaben, dass nun eine Tonne Kohle aus der Grube in Soma, »anstatt 135,00
Dollar nur noch 24,00 Dollar« koste. Doch trotz dieser »Verbilligung« ist die Kohleförderung
für Gürkan besonders profitträchtig. Da die TKI die gesamte Förderung kaufen
muss, versucht das Unternehmen viel zu fördern. Dafür werden weitere
Subunternehmer und scheinselbständige Vorarbeiter angeheuert, die die Arbeiter
unter hohem Förderungsdruck arbeiten lassen. Die Arbeiter haben keine anderen
Beschäftigungsalternativen, da die Landwirtschaft, wo sie vorher eine
Beschäftigung fanden, in den letzten Jahren völlig aufgelöst wurde. Der Anteil
der Beschäftigung in der Landwirtschaft ist von 45 Prozent (2001) auf 21,8
Prozent (2014) zurückgegangen.
In
der AKP-Ära wurden die Subventionen für die Landwirtschaft (u. a. verbilligter
Diesel für Landmaschinen) aufgehoben und die Bauern dem Marktdruck überlassen.
Großeinkäufer drückten die Preise, so dass Bauern nur noch Verlustgeschäfte
machten und sich immens verschuldeten. Diese Verschuldung hatte zur Folge, dass
viele türkische Bauer zur Schuldentilgung ihre Äcker und weiteres Eigentum
verkaufen mussten. Dadurch wurden sie entweder in die Binnenmigration gedrängt
oder standen nun als Billigstkräfte für den Bergbau zur Verfügung.
Die
Arbeiter der Unglücksgrube müssen durchschnittlich 12 oder mehr Stunden
arbeiten, um den vorgegebenen Soll zu erfüllen. Dafür erhalten sie zwischen
455,00 Euro (Anfangsgehalt) und 561,00 Euro Lohn. In den Zeitungen wurde nach
dem Grubenunglück Berichte veröffentlicht, in denen die Arbeiter angaben, dass
sie »sogar Steine in die Körbe gelegt hätten«, um ihren Soll zu erfüllen. Dem
Unternehmen wäre das »egal gewesen«, weil die TKI jede Tonne ungeprüft bezahlt
habe. Da aber die Arbeit in der Grube schwer ist, ist es den Arbeitern nicht
möglich, durchgehend einen Monat lang zu arbeiten. Um nicht völlig ausgelaugt
zu werden, legen sie mehrere Tage Pausen ein, in denen sie aber andere
Tätigkeiten im informellen Sektor verrichten.
Doch
damit nicht genug: die AKP-Regierung hat nicht nur die Privatisierung der
Bergwerke vorangetrieben, sondern auch die Sicherheitskontrollen der Gruben
Privatfirmen überlassen. In Soma z.B. kam heraus, dass der Inhaber derjenigen
Firma, welche für die Sicherheitskontrollen zuständig war, mit dem
Grubenbetreiber verschwägert war. Landesweit sind solche privaten
»Sicherheitsunternehmen« tätig, so dass die Bergwerke zu regelrechten
Todesfallen für die Arbeiter wurden: Laut einer Studie, die im Auftrag von
»TEPAV – Türkische Stiftung für wirtschaftspolitische Untersuchungen« von Selin
Arslanhan und Hüseyin E. Cündioğlu durchgeführt wurde, kamen zwischen 1998 und
2008 insgesamt 2.554 Bergbauarbeiter durch Unfälle und Berufskrankheiten ums
Leben. Alleine zwischen 2003 und 2014 starben bei Grubenunfällen 405 Kumpel.
Rund 13.000 Arbeiter sind aufgrund solcher Grubenunfälle Erwerbsunfähig
geworden.
In
der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle besetzt die Türkei seit langem den Platz
1 in Europa und ist somit Weltspitze(!). Laut TUIK kamen zwischen 2002 und 2012
rund 10.600 Beschäftigte ums Leben. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres
über 700! Das ist das Ergebnis der völligen Vernachlässigung der Sicherheitsbestimmungen
und des Arbeitsschutzes durch die AKP-Regierung. Die AKP hält an der unseligen
Tradition ihrer Vorgängerregierungen fest: Seit 19 Jahren verweigern die
türkischen Regierungen internationalen Verträgen zum Schutz in den Bergwerken
ihre Unterschrift. Demgegenüber wird mit neuen flexiblen Gesetzen, die den
Unternehmen völlige Freiheiten einräumen, die Kapitalakkumulation gefördert.
Deshalb sprechen viele davon, dass Soma so zu einem lebhaften Symbol des
türkischen Kapitalismus geworden ist.
Nach dem Grubenunglück: Zurück zur
Tagesordnung?
Das
Grubenunglück in Soma hat zwar überall in der Türkei eine breite
Solidarisierungswelle ausgelöst und es fanden zahlreiche Proteste statt. Sogar
in den regierungsnahen Medien wurde die kapitalistische Profitlogik angeprangert
und die zuständige Gewerkschaft kritisiert. Mit der Unterstützung der
Unternehmensführung hatte die Gewerkschaft Maden-İŞ, Mitglied im
regierungsnahen Gewerkschaftskonföderation Türk-İŞ, das Tarifaushandlungsrecht
erhalten. Einige Tage später musste die Gewerkschaftsleitung in Soma nach
Protesten von Opferangehörigen und Gewerkschaftsmitgliedern zurücktreten.
Inzwischen
ist Soma nicht mehr im Focus der Öffentlichkeit. Natürlich wurde während den
Demonstrationen aus Anlass des Jahrestages des Juni-Aufstandes an die
Soma-Arbeiter erinnert, aber die massive Polizeigewalt lies die Aufmerksamkeit
auf Soma schwinden. Hier ist auch das größte Problem der gesellschaftlichen und
politischen Opposition zu sehen.
Sowohl
während des Juni-Aufstandes in 2013, den öffentlichen Diskussionen um den
Korruptionsskandal als auch in den zahlreichen Kämpfen danach gelang es der
gesellschaftlichen und politischen Opposition nicht, ein politisches Zentrum zu
bilden, die als Alternative unterschiedliche Kräfte einen hätte können. Die
Kommunalwahlen vom 30. März 2014 haben gezeigt, dass die AKP mit der
Polarisierungsrhetorik von Erdoğan ihre Hegemonie innerhalb der armen
Bevölkerungsteile ausgebaut hat und weder die Korruptionsvorwürfe, noch das
berechtigte Aufbegehren des urbanen Prekariats keinen Einfluss auf die
ökonomische Situation der Bevölkerung, somit keinen Einfluss auf die
Entscheidung an der Wahlurne hatten.
Die
AKP hat es geschafft, zum einen sich als »die« einzige Vertreterin der
einfachen Leute darzustellen und zum anderen mit der sog. »sozialen Hilfe«, die
nichts mit einer rechtlich verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun hat und eher
ein islamisch orientiertes Wohltätigkeitssystem ist, die Armen an sich zu
binden. Diesem Bild, in der sich eine »Fahnenträgerin des Neoliberalismus« als
Wohltäterin für die unterdrückten Klassen darstellt, hat die zersplitterte
Opposition nichts entgegenbringen können.
Dabei
offenbarte Soma, dass das ein konstruiertes Bild ist. Für eine geeinte
politische Opposition wäre die Offenbarung dieser Illusion eine Steilvorlage
gewesen. Ohne Frage: als eine islamistisch-nationalistische Kraft, die ihre
Fähigkeit sowohl nationalistisch-konservative türkische als auch konservative
kurdische Wähler_innen anzusprechen wieder unter Beweis gestellt hat, ist die
AKP eine starke Gegnerin. Dennoch kann eine politische Alternative, die es
schafft, unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, oppositionelle Gruppen
und soziale Bewegungen unter einem gemeinsamen Programm zusammenzubringen, die
AKP-Hegemonie brechen. Unabdingbar dafür ist aber die Verbindung der sozialen
Frage und der Nationalitätenfrage auf der Grundlage einer Klassenperspektive.
Dies ist und bleibt wohl die größte Herausforderung für die linken in der
Türkei und in Kurdistan.
*)Veröffentlich in Marxistischen Blättern