Am
10. August 2014 fanden in der Türkei die ersten Staatspräsidentschaftswahlen in
der Geschichte der Republik statt. Bis dahin wurden alle Staatspräsidenten vom
Parlament gewählt. Recep Tayyip Erdoğan konnte nach fast 12-jähriger Amtszeit
als Ministerpräsident diese Wahlen mit 51,8 Prozent der Stimmen im ersten
Wahlgang für sich entscheiden. Das war keine Überraschung, aber – wenn man die
enormen Möglichkeiten des Regierungsapparates, die Unterstützung der
gleichgeschalteten bürgerlichen Medien sowie den mit großen Spenden aus der
Wirtschaft finanzierte Wahlkampagne bedenkt – auch kein »überragender Sieg«.
Dennoch,
Erdoğan ist an seinem Ziel angekommen: Er ist Staatspräsident und hat in seinem
Nachfolger, dem ehemaligen Außenminister und heutigen Ministerpräsidenten Ahmet
Davutoğlu einen loyalen Statthalter gefunden. Dem Anschein nach folgt ihm seine
AKP (Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung), doch erste Risse sind
bemerkbar und in Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in 2015 sind
parteiinterne Konflikte nicht auszuschließen.
Zwar
konnte Erdoğan seinen Widersacher in der AKP, Abdullah Gül mit dem vorgezogenen
Parteitag aus dem Rennen werfen, da Gül noch amtierender Staatspräsident war
und deshalb nicht als Parteivorsitzender kandidieren durfte. Aber inzwischen
wird erwartet, dass Gül Anspruch auf die Führung erhebt und 2015 als
Parteivorsitzender für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren will – ob
jedoch dies in der AKP oder in einem noch zugründenden neuen konservativen
Partei sein wird, steht offen. Feststeht aber, dass für Erdoğan das »Problem
Gül« noch nicht ausgestanden ist.
Das
Gül-Lager formiert sich. Gül rechnet wohl damit, dass er gegen Davutoğlu, dem
Erdoğans charismatische Führungsqualitäten gänzlich fehlen, bei einer
Gegenkandidatur gute Chancen hätte. In diesem Fall wäre der Richtungskampf in
der AKP unausweichlich. Erdoğan und Davutoğlu stehen für eine (sunnitische)
konfessionell-konservative Politik, die zum einen durch Neo-Osmanismus geprägte
regionalimperialistische Ambitionen hegt und zum anderen mit Hilfe des
autoritären Konservatismus eine neoliberale Wirtschaftspolitik durchzusetzen
versucht. Gül und ihn unterstützende Kreise, solche wie die Bewegung des
Predigers Fetullah Gülen wiederum, stehen weiterhin für einen »gemäßigten«, scheinbar
liberalen Islam neoliberaler Prägung, welcher zeitweise als »Modell« für die
gesamte arabische Welt angepriesen wurde. Dieses Modell sollte als Beispiel
dafür dienen, wie der muslimische Konservatismus mit der kapitalistischen
Moderne im Einklang gebracht und damit ein wirtschaftlicher Aufschwung samt
Gewährung von bürgerlichen Freiheiten erreicht werden kann. Doch mit der
zunehmenden Islamisierung des alltäglichen Lebens in der Türkei und spätestens
nach der Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten war klar: der
sunnitisch-konservative politische Islam ist mit der bürgerlichen Demokratie
nicht kompatibel. Daher war die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten auch
nur eine Frage der Zeit.
Saudi
Arabien und die Golfkooperationsstaaten haben dabei eine gewichtige Rolle
gespielt. Insbesondere für Saudi Arabien stellten die Muslimbrüder eine Gefahr
für die innere »Stabilität« und die eigenen Machtverhältnisse dar.
Aufgeschreckt von den Umwälzungen in der arabischen Welt nach 2011 und im
Bemühen, die »schiitische Achse« zu brechen, um den Einfluss Irans
zurückzudrängen, wurde die Annäherung an Israel gesucht und der scheinbar
säkulare ägyptische Putschisten-General Sisi unterstützt. Die Förderung
salafistischer Terrorbanden in der islamischen Welt wurde verstärkt. Inzwischen
ist sogar in den bürgerlichen Medien des Westens zu lesen, dass Saudi Arabien,
die Türkei und die Golf-Despoten in Syrien und im Irak die Terrorbanden des
sog. »Islamischen Staates« (IS) tatkräftig unterstützen.
Erdoğan
und Davutoğlu haben sich sehr früh neben Saudi Arabien, Katar und den anderen
Golf-Despoten positioniert. Die Türkei wurde binnen weniger Monate zum
Logistikzentrum der IS-Terroristen, aus der sie militärische, finanzielle und
personelle Ressourcen nach Syrien und in den Irak einschleusen können. Das
Ergebnis war, dass die als »strategische Tiefe« (Davutoğlu) beschriebenen und
als »Null-Probleme-Politik mit den Nachbarstaaten« bezeichneten
außenpolitischen Ziele nun in Trümmern liegen. Erschwerend hinzu kommt die, durch
die »pazifische Orientierung« der USA verursachten Bündnisveränderungen in der
Region (us-iranische Annäherung, mögliche Einbeziehung Assads in den Kampf
gegen die IS, kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen im Nordirak, kurdische
Autonomieversuche in Nordsyrien, Neuformierung der irakischen Zentralregierung,
schiitisch-sunnitische Zweckbündnisse gegen die IS usw.). Heute wird die Türkei
von bürgerlichen Medien des Westens als »das schwächste Glied in der Kette«
bezeichnet. [1] Davutoğlu lehnte eine Beteiligung in der US-geführten
»Koalition der Willigen« gegen die IS ab und gerät zunehmend ins Bedrängnis.
Gül
dagegen wartet ab. Er weiß, dass Davutoğlu sich außen- wie innenpolitisch auf
einem sehr glatten Terrain bewegt und den Herausforderungen nicht gewachsen
ist. Die Tatsache, dass die neue AKP-Regierung die Zerschlagung der
Gülen-Bewegung als »neuen Unabhängigkeitskrieg« bezeichnet und zur obersten
Priorität erklärt hat, zeigt, dass Erdoğan und Davutoğlu Gül durchaus Chancen
einräumen. Noch sitzen Erdoğan und Davutoğlu fest im Sattel, doch schon die
nächsten Monate werden beweisen, wie trügerisch das sein kann.
In der Wirtschaft läuten die
Alarmglocken
Ein
kurzer Blick in die Wirtschaft bestätigt dies. Selbst regierungsnahe Medien
problematisieren die Schuldenentwicklung. So gesehen bricht die Türkei alle
ihre eigenen Rekorde: innerhalb der letzten Dekade hat sich die Verschuldung
der öffentlichen Haushalte von 49 auf 111 Milliarden Dollar erhöht. Das
Handelsbilanzdefizit betrug nach Angaben der türkischen Zentralbank im Juni
rund 8 Prozent des BIPs.
Für
die Bevölkerung hat aber die Verschuldung der privaten Haushalte fatale Folgen:
in der letzten Dekade hat sich deren Verschuldung auf 151,6 Milliarden Dollar
erhöht (2003: 4,5 Milliarden Dollar). Im März 2014 wiesen türkische Medien
daraufhin, dass sich die Konsumentenkredite auf 113,4 Milliarden Dollar und die
Kreditkartenschulden auf 38,2 Milliarden Dollar erhöht hätten. [2] Sie
berichteten zudem, dass rund 3 Millionen Personen, die ihre Schulden nicht mehr
begleichen können, auf die »schwarze Listen« der Banken aufgenommen wurden. Mit
denjenigen, die in den sog. »grauen Listen« geführt werden, wären (incl. der
Familienangehörigen) rund 30 Millionen Menschen von der Überschuldung
betroffen. [3]
Die
Bauwirtschaft – in der AKP-Ära mit durchschnittlich 5 Prozent des BIPs zum
Flaggschiff der türkischen Wirtschaft aufgestiegen [4] – ist inzwischen auch
ins Bedrängnis geraten. Der türkische Ökonom Mustafa Sönmez stellt fest, dass
in den ersten 7 Monaten des Jahres 2014 der fremdfinanzierte Wohnungsverkauf um
48 Prozent und die PKW-Verkäufe um rund 30 Prozent zurückgegangen sind. [5]
Diese
Tatsachen, die immense Auslandsverschuldung, die Energie- und
Lebensmittelabhängigkeit vom Import (die Türkei zahlt jedes Jahr über 60
Milliarden Dollar für Energielieferungen), zurückgehende Produktionskapazitäten
und die steigende Inflation (August 2014: ca. 10 Prozent) zeigen die
Brüchigkeit der wirtschaftlichen Situation. Die türkische Wirtschaft,
insbesondere die Exportwirtschaft, ist stark vom Auslandskapital abhängig, die
derzeit stagniert. Inzwischen steht die Türkei in der CDS-Risikoprämienliste
(Credit Default Swap) auf vierter Stelle. Wenn man bedenkt, dass die
internationalen Finanzmärkte derzeit massiv auf den Dollar setzen und auf
mögliche Zinsschritte der US-Notenbank spekulieren, dann wird es deutlich, dass
der Dollar-Run den Abzugstrend des ausländischen Kapitals aus der Türkei
erhöhen wird und damit zusätzliche massive Probleme für die türkische
Wirtschaft entstehen werden.
Erdoğans
Druck auf die türkische Zentralbank zur Senkung der Leitzinsen wird von den
internationalen Finanzjongleuren argwöhnisch beobachtet. Erdoğan und die
AKP-Regierung haben jetzt wieder den Druck auf den Zentralbankchef Erdem Başçı
erhöht. Doch Başçı beugte sich nicht und erklärte am 10. September 2014, dass
»eine Zinssenkung aufgrund der aktuellen Inflation ausgeschlossen« sei. [6] Gleichzeitig
wurde bekannt, dass die Wachstumsprognosen von 4,7 Prozent korrigiert werden
müssen und das reale Wachstum nur 2,1 Prozent beträgt.
Der »Geist von Gezi« ist noch lebendig
Diese
wirtschaftliche Entwicklung ist eines der wesentlichen Gründe, weshalb in
verschiedenen Regionen wieder Unmut bemerkbar wird. Zwar hat der Juni-Aufstand
um den Gezi Park in Istanbul vom letzten Jahr nicht vermocht, fokussiert auf
die soziale Frage »entlang der Klassenlinien in den Block der ›schwarzen
Türken‹ eine Bresche zu schlagen«, [7] doch der Schock der Protesttage sitzt
Erdoğan und seinen Mannen heute noch tief in den Knochen. Trotz massiver
Polizeigewalt und mehreren Toten konnte die AKP den Protest nicht ganz
verstummen lassen. Auch wenn die unorganisierten Massen der Proteste aufgrund
der Ergebnisse der Kommunal- und Staatspräsidentschaftswahlen gewisse
Resignationstendenzen zeigen, ist das Protestpotential weiter vorhanden.
In
den letzten Wochen gingen wieder Menschen auf die Straßen – so z.B. wegen dem
Tod von 10 Bauarbeitern am 8. September 2014. Auf einer Hochhausbaustelle, in
denen Luxusresidenzen für mehrere Millionen Dollar verkauft wurden, waren die
Arbeiter bei einem Aufzugunfall ums Leben gekommen. Es stellte sich heraus,
dass der Bauträger die Sicherheit vernachlässigt hatte. Aziz Torun, Chef der
Bauholding und ehemaliger Schulkamerad von Erdoğan wird seit mehreren Jahren
mit solchen tödlichen Arbeitsunfällen in Verbindung gebracht. Torun ist einer der
vielen Baulöwen, die in der AKP-Ära große Profite eingefahren und Erdoğan
finanziell unterstützt haben. Dieser »Arbeitsunfall« ist symptomatisch für die
unsäglichen Zustände in der türkischen Arbeitswelt, weshalb Oppositionelle
diese Unfälle als »Mord mit Ansage« bezeichnen.
Zu
Recht, wie die Zahlen es beweisen: In der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle
besetzt die Türkei seit langem den 1. Platz in Europa und ist somit Weltspitze.
Laut der türkischen Statistikbehörde TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund
10.600 Beschäftigte bei »Arbeitsunfällen« ums Leben. [8] Alleine im August
2014starben 158 Arbeiter, 10 davon waren Kinder. Somit hat sich die Zahl der
tödlichen »Arbeitsunfällen« in 2014 auf 1.270 erhöht. Das ist die Bilanz der
AKP als Fahnenträgerin des ungehemmten Neoliberalismus.
Trotzdem
kann von einer breiten gesellschaftlichen Protestbewegung nicht gesprochen
werden. Ohne Frage, der »Geist von Gezi« ist noch lebendig und das Wahlergebnis
des Co-Vorsitzenden der HDP (Demokratische Partei der Völker) Selahattin
Demirtaş bei den Staatspräsidentschaftswahlen mit 9,8 Prozent (3,9 Millionen
Stimmen) zeigt, dass die HDP, als vereinigte Partei der kurdischen Bewegung und
verschiedenen sozialistischen Parteien durchaus in der Lage ist,
unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Für die Parlamentswahlen in
2015 macht das, Hoffnung. Aber um den Aufbau einer starken Wahlalternative,
welche z.B. die rund 14 Millionen Wahlverweigerer gewinnen könnte, vorantreiben
zu können, müssten die HDP, aber auch die kurdische Bewegung die soziale Frage
in den Mittelpunkt ihrer politischen Aktivitäten bringen; durch eine stärkere
Verbindung der außerparlamentarischen Kämpfe mit der parlamentarischen
Tätigkeit als deren Interessenvertretung sichtbarer werden und die
Herausforderung meistern, einerseits laizistisch-moderne urbane Schichten anzusprechen
und andererseits einen klassenbezogenen Strang zu den – noch die AKP wählenden
– verarmten und hochverschuldeten religiös-konservativen Massen herstellen, um
so neue Bündnisse zu schmieden. Sicherlich ist das eine Herkulesaufgabe, für
dessen Bewältigung jedoch aufgrund der verschärften Klassenwidersprüche, der
anhaltenden Mehrfachkrisensituation (ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich
sowie friedenspolitisch) und der geopolitischen Großwetterlage sich reale
Chancen ergeben haben.
Strukturelle Hegemonie
Das
größte Hindernis vor der Nutzung dieser Chancen stellt immer noch die
strukturelle Hegemonie des sunnitischen Konservatismus dar. Seit der Gründung
der Republik in 1923 ist die Mehrheitsbevölkerung der Türkei – unabhängig von
den ethnischen Abstammungen – sunnitisch-konservativ eingestellt. Die von den
kemalistischen Eliten von oben oktroyierte türkische Moderne war von der
Mehrheitsbevölkerung nie verinnerlicht worden. Der Laizismus á la turc wurde
als paternalistische Bevormundung des Staates verstanden und die bürgerliche
Rechtsprechung bekam nie ihr Vertrauen. Die Tatsache, dass heute noch neben dem
bürgerlichen Recht gleichzeitig, zwar inoffiziell, aber gesellschaftlich
akzeptiert, das sunnitische Rechtsverständnis existiert und die meisten Morde
vor den Gerichtsgebäuden – meist nach der Urteilsverkündung – begangen werden,
bestätigt das eindrucksvoll. Die staatliche Willkürjustiz, das heute noch
angewandte Feindstrafrecht aus den Tagen des schmutzigen Krieges und in der
AKP-Ära gänzlich aufgeweichte Gewaltenteilung begünstigen diese absurde
Situation.
Aber
um diese strukturelle Hegemonie nachzuweisen ist es nicht notwendig, in die
Anfänge der Republik zu schauen. Allein die Betrachtung der Wahlergebnisse seit
1983 wäre dafür der beste Beweis. Der Journalist Can Gürses wies in einem
Artikel daraufhin, dass die nationalistisch-konservativen Parteien zwischen
1983 und 2014 durchschnittlich 68 Prozent der Stimmen erhalten haben. Gürses
zählt dabei die kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei) zu den
linksaffinen Parteien, die durchschnittlich 27,5 der Stimmen erhalten haben.
Das ist irreführend, weil die CHP eine nationalistische Programmatik hat. Doch
Gürses hat Recht, wenn er die konservativen Parteien als Gewinner der Wahlen
aufführt. Denn in den letzten 8 Parlamentswahlen seit 1983 haben die
nationalistisch-konservativen Parteien, die durch die 10-Prozent-Hürde
zusätzlich begünstigt wurden, durchschnittlich 74,8 Prozent der Parlamentssitze
erhalten. [9]
Diese
gesellschaftliche Realität ist übrigens auch der eigentliche Grund, warum die
CHP gemeinsam mit der neofaschistischen MHP (Partei der nationalistischen
Bewegung) mit Ekmelettin M. İhsanoğlu einen
ausgewiesenen Konservativen als Erdoğans
Gegenkandidaten aufstellte. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu wurde in den Medien mit den Worten zitiert, dass »die
CHP auf die konservative Bevölkerung zugehen und konservative Wähler für sich
gewinnen« müsse. Diese Rechnung ging nicht auf: die sunnitisch-konservative
Mehrheit wählte das »Original« und nicht dessen Karikatur. Die CHP hat in
doppelter Hinsicht sich selbst einen Bärendienst erwiesen: Zum einen wurde
durch die Kandidatur des ehemaligen Generalsekretärs der Islamischen Konferenz
die sunnitisch-konservative Hegemonie gestärkt und zum anderen wurden die
eigenen Wähler_innen verprellt, die massenhaft den Wahlurnen ferngeblieben
sind.
Wie
dem auch sei, es ist zu konstatieren, dass der Einfluss der strukturellen
Hegemonie des sunnitischen Konservatismus enorm ist. Unter dessen Einfluss
stehen insbesondere ärmere Bevölkerungsteile, die immer eine wahlentscheidende
Rolle gespielt haben – wie auch zuletzt bei den Staatspräsidentschaftswahlen.
Die
AKP hat es geschafft, einen großen Teil dieser Bevölkerungsgruppe für sich zu
gewinnen. Deren niedriger Bildungsstand nutzte ihr dabei: Laut TUIK haben von
den rund 55 Millionen Wähler_innen rund 33,5 Millionen einen niedrigen
Schulabschluss. Nur 28 Prozent dieser Wähler_innen, also rund 9,3 Millionen
verfügen über einen Internetanschluss und informieren sich ausschließlich über
regierungsnahe Medien.
Aber
das ist nur die eine Seite der Medaille: Laut TUIK hat die Türkei 76,7
Millionen Einwohner_innen. Davon sind ca. 16,3 Millionen
sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Zahl derjenigen, die nach einem gewerkschaftlich
ausgehandelten Tarif bezahlt werden, beträgt gerade mal 700.000. Den
offiziellen Zahlen zufolge werden rund 5 Millionen Menschen nach dem
gesetzlichen Mindestlohn bezahlt, die derzeit bei knapp 300,00 Euro pro Monat
liegt. Demgegenüber, so die Gewerkschaften, liegt die Armutsgrenze für eine
vierköpfige Familie bei umgerechnet 1.161,00 Euro. Wenn man bedenkt, dass
indirekte Steuern und Gebühren fast 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen
und die, größtenteils von Lohnabhängigen bezahlten Einkommensteuer rund 21
Prozent, müsste man annehmen, dass die Unzufriedenheit der verarmten
Bevölkerungsgruppen sehr groß sein müsste. Dem ist nicht so und das hat
unterschiedliche Gründe.
Zum
einen ist eine gefühlte »Teilhabe« am Regierungshandeln weit verbreitet. Den
Massen wird vorgegaukelt, dass »einfache Leute wie sie«, die jeden Freitag in
die Moschee gehen und deren Frauen Kopftuch tragen, jeder Zeit Aufstiegschancen
haben. Die offen praktizierte bevorzugte Behandlung von konservativen
Bürger_innen in den Stadtverwaltungen, bei den Behörden, in Schulen und
insbesondere in den Grundbuchämtern verstärkt sicherlich diesen Eindruck. Daher
sind viele der Auffassung, dass die AKP-Regierung »ihre Regierung« und Erdoğan »einer von ihnen« sei.
Zum
anderen ist durch den kreditfinanzierten Konsum der gefühlte Wohlstand in den
letzten Jahren gewachsen. Die Möglichkeit, dass Menschen mit niedrigem
Einkommen durch die »grüne Gesundheitskarte« sowohl in staatlichen als auch in
privaten Krankenhäusern nahezu kostenlos behandelt werden können, hat
insbesondere für die rund 9 Millionen Karteninhaber_innen sowie deren Familien
eine sichtbare Verbesserung gebracht. Wenn man bedenkt, dass fast 11 Millionen
Menschen im informellen Sektor, also ohne Sozialversicherung beschäftigt sind
und einkommenslose Frauen auf Antrag eine monatliche Unterstützung von über
100,00 Euro vom Staat erhalten, bedeutet das eine deutliche Verbesserung ihrer
Lebenssituation verglichen mit der Zeit vor den AKP-Regierungen. Zwar hat das
zum größten Teil willkürlich gehandhabte Wohltätigkeit der Regierung nichts mit
einer verbrieften Sozialstaatlichkeit zu tun, aber für die ärmeren Familien
spielt es keine Rolle, woher die Unterstützung kommt.
Im
Grubenunglücksort Soma, wo am 13. Mai 2014 301 Kumpel ums Leben gekommen sind,
kann symptomatisch beobachtet werden, wie die strukturelle Hegemonie in
Verbindung mit dem Wohltätigkeitsgebaren der AKP die Menschen beeinflussen
kann: Bei den Kommunalwahlen am 30. März 2014 hatte die AKP 43,3 Prozent der
Stimmen, die MHP 28,7 Prozent und die CHP 22,3 Prozent erhalten. Bei den
Staatspräsidentschaftswahlen am 10. August 2014 wiederum hat Erdoğan 47,3
Prozent der Stimmen bekommen, während auf İhsanoğlu 50,1 Prozent zufielen. Trotz des Grubenunglücks und
den offensichtlich gewordenen regierungsamtlichen Vernachlässigungen konnte
Erdoğan seine Stimmanteile erhöhen.
Soma
gehört zu einer Region, in der vorher die Landwirtschaft prägend war. Nachdem
die AKP die Subventionen aufgehoben und die Bauern dem Marktdruck überlassen
hatte, passierte genau das, was in allen ländlichen Gebieten beobachtet wurde:
die Bauern verschuldeten sich und mussten zur Schuldentilgung ihre Äcker
verkaufen. Ein Teil wurde in die Binnenmigration gedrängt, ein größerer Teil
stand nun als Billigstkräfte für den Bergbau zur Verfügung. Da aber die Arbeit
in der Grube mit durchschnittlich 12 oder mehr Stunden zu schwer ist, sind die
Arbeiter gezwungen, mehrere Tage Pausen einzulegen. Den kargen Lohn versuchen
sie dann mit Tätigkeiten im informellen Sektor zu verbessern. Für deren
Familien ist selbst eine monatliche Unterstützung von 100,00 Euro
Lebensnotwendig. Und sie sind der Meinung, dass sie diese Verbesserung nur der
AKP verdanken.
Zudem
kommt die Tatsache, dass die Sehnsüchte und Erwartungen der
sunnitisch-konservativen Mehrheit, die von Erdoğan geschickt durch seine
Polarisierungspolitik stärker um die AKP zusammengezogen wurde, mit der
neo-osmanischen Ambitionen korrespondieren. Die Mehrheit erhofft sich von dem
zu erwartetem Reichtum einer stärker und größer werdenden Türkei mehr Teilhabe.
Daher hatten weder Korruptionsvorwürfe, noch die offene Unterstützung der AKP
für den IS-Terror irgendwelchen Einfluss auf das Wahlverhalten der Mehrheit.
Doch
lange wird das nicht gutgehen können. Erdoğan und die AKP haben ihren Zenit
längst überschritten. Die akuten wirtschaftlichen Gefahren, das wachsen des
Unmuts, der ins Stocken geratene Friedensprozess in der kurdischen Frage und
der Druck der USA, sich gegen den IS-Terror zu positionieren werden ihren
Tribut von der AKP fordern. Auch wenn Erdoğan es schaffen sollte, die
weitgehenden Wirkungsmöglichkeiten, welche dem Staatspräsidenten von der noch
gültigen Juntaverfassung zugestanden werden, für die Verfestigung von
autoritären Strukturen und für die Vertiefung der neoliberalen Politik zu
nutzen, werden sich spätestens nach den Wahlen im nächsten Jahr die
Machtverhältnisse im türkischen Parlament ändern. Ob die linke HDP und die
kurdische Bewegung diese Situation für eine Demokratisierung des Landes nutzen
und für einen echten Politikwechsel einen angemessenen Beitrag leisten können,
wird in erster Linie von ihrer Bündnisfähigkeit und ihrer sozialen
Schwerpunktsetzung abhängen. Gesellschaftlich gibt es durchaus Potentiale, die
dafür sprechen. Das Wahlergebnis von Demirtaş gibt
Hoffnung, aber für die HDP waren die Staatspräsidentschaftswahlen nur die Probe
– die echte Prüfung steht noch bevor.
***
[1] Siehe: Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 11. September 2014, S. 10.
[3] ebd.
[4] Siehe: Ismail D.
Karatepe, »Bauwirtschaft, Islamismus und die türkische Bourgeoisie«, in:
Infobrief Türkei, Nr. 06/13, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2013/12/bauwirtschaft-islamismus-und-die_19.html
[5] Siehe: http://mustafasonmez.net/?p=4628
[7) Mit der Bezeichnung
»schwarze Türken« sind vorwiegend arme, sunnitisch-konservative
Bevölkerungsteile gemeint. Zitat aus: Nick Brauns, Junge Welt vom 20. Juni
2013.
[9] Zum Vergleich siehe: http://tr.wikipedia.org/wiki/Türkiye'de_seçimler