... und das gefährliche Spiel mit der
Eskalationsschraube
Im Heft 7/8 2015 der Zeitschrift Sozialismus hatten
wir festgestellt, dass die Parlamentswahlen von Anfang Juni in der 13-jährigen
AKP-Ära eine Zäsur darstellen. Die AKP-Regierung wurde abgewählt. Alles deutete
auf eine Koalitionsregierung hin. Wochen später, nach der Konstituierung des
neuen Parlaments gab Staatspräsident Erdoğan dem amtierenden
Ministerpräsidenten Davutoğlu am 9. Juli den Auftrag, die 63. Regierung der
Türkei zu bilden. Seit dem regiert das Davutoğlu-Kabinett das Land
kommissarisch. Da inzwischen die Koalitionsgespräche mit der CHP und der
neofaschistischen MHP scheiterten und die verfassungsgemäße Frist zur
Regierungsbildung am 23. August endet, droht eine Neuwahl.
Die Türkei ist in einer Vielfachkrise gefangen. Noch
scheint keine Lösung in Sicht zu sein. Im Gegenteil, das gefährliche Spiel der
AKP mit der Eskalationsschraube birgt das Risiko, dass diese Vielfachkrise sich
noch mehr vertieft und die gesellschaftliche Spaltung in einem
bürgerkriegsähnlichen Konflikt münden könnte. Erdoğan, dessen Plan, ein
Präsidialsystem zu etablieren, durch den Einzug der HDP ins Parlament einen
empfindlichen Dämpfer bekommen hat, will sich nicht geschlagen geben. Sein
derzeitiges Handeln deutet daraufhin, dass er das Wahlergebnis vom 7. Juni mit
einer erzwungenen Neuwahl korrigieren will. Um eben dieses Ziel zu erreichen
schrecken Erdoğan und seine AKP nicht davor zurück, die »Staatsform in Richtung
einer offenen Diktatur zu verschieben«. [1]
Für westeuropäische Verhältnisse mag es sein, dass im
21. Jahrhundert in einer parlamentarischen Demokratie eine offene Diktatur
unmöglich erscheint. Doch das parlamentarische System der Türkei fußt auf einer
undemokratischen Junta-Verfassung und spätestens seit dem Verfassungsreferendum
vom 2010 ist die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Die Junta-Verfassung gibt
dem Staatspräsidenten, der erstmals 2014 direkt gewählt wurde, weitgehende
Befugnisse. Nach dem die AKP in den letzten 3 Legislaturperioden ihrer
Alleinregierung die Staatsapparate unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind
diktatorische Maßnahmen – trotz Verlust der Parlamentsmehrheit – leicht
umzusetzen. Für die AKP, die in der Kontinuität des neoliberalen Regimes der
Militärjunta von 1980 steht, wäre das nichts Ungewöhnliches. Immerhin hat sie
genug Erfahrung darüber sammeln können, so z.B. 2011, wo sie das Land 6 Monate
lang mit »Erlassen in Gesetzeskraft« regiert hat. Insofern hat Gehrings
Feststellung durchaus Hand und Fuß. Ein kurzer Blick auf die Ereignisse der
letzten Wochen macht das deutlich.
Kriegszustand in Kurdistan
In den Tagen nach den Parlamentswahlen mied Erdoğan
die Öffentlichkeit und erklärte bei seinem ersten Auftritt, dass »alle Akteure
ihre Egos beiseite stellen und für eine stabile Regierung sorgen sollen«.
Kommentatoren der bürgerlichen Medien deuteten dies als »Akzeptanz der Absage
der Wählerschaft an das geplante Präsidialsystem«. Es keimte die Hoffnung an
eine Koalitionsregierung, die ein breites gesellschaftliches Fundament hat und
dazu sorgen könnte, das parlamentarische System zu restaurieren. Doch schon bei
der Konstituierung des Parlaments konnte man sehen, wie trügerisch diese
Hoffnungen waren. Die AKP konnte sich mit der Unterstützung der
neofaschistischen MHP das Amt des Parlamentspräsidenten, der zugleich
Stellvertreter des Staatspräsidenten ist, sicherstellen. Nach dem diese
wichtige Hürde genommen war, beauftragte Erdoğan den abgewählten Ministerpräsidenten
Davutoğlu mit der Regierungsbildung.
Davutoğlu nahm sich für Koalitionsgespräche reichlich
Zeit. Während diese Gespräche mit der CHP schleppend vorangingen, überschlugen
sich die Ereignisse: Am 20. Juli wurde auf ein linkes Jugendcamp in Suruç an
der türkisch-syrischen Grenze ein Bombenanschlag ausgeübt. 31 Sozialist*innen
starben, Hunderte wurden verletzt. Die Jugendlichen waren auf dem Weg nach
Kobanê, um dort den Wiederaufbau zu unterstützen. Inzwischen hat sich die Zahl
der Toten auf 34 erhöht.
Obwohl bis heute kein Bekennerschreiben des
»Islamischen Staates« (IS) vorliegt, wurde von der Regierung der IS dafür
verantwortlich gemacht. Kurze Zeit später wurden zwei Polizisten, denen
Kollaboration mit der IS vorgeworfen wurde, erschossen. Dafür wurde die PKK
verantwortlich gemacht. Danach wurde bekannt, dass sich die Türkei und die USA
geeinigt hätten und die US-Luftwaffe den Luftwaffenstützpunkt Incirlik für ihre
Angriffe benutzen darf. In den westlichen Medien wurde kommentiert, dass die
Türkei »nun endlich in der Anti-IS-Koalition mitkämpft«. Am 24. Juli
bombardierten türkische F16-Jets vier IS-Stellungen. Doch gleichzeitig begann
eine großangelegte Luftoffensive gegen PKK-Stellungen in den nordirakischen
Kandil-Bergen und eine Verhaftungswelle im Inland. Die AKP-Regierung erklärte,
dass »die Türkei den Terrororganisationen der IS, PKK und der DHKP-C den Krieg
erklärt habe«.
In der ersten Welle wurden über 1.300 Personen
festgenommen. Türkische Medien berichteten, dass rund 100 Personen
IS-Verdächtige wären, der Rest aber Mitglieder der PKK und der linksradikalen
DHKP-C. Spezialkräfte der inzwischen paramilitarisierten Polizei gingen dabei
äußerst brutal vor. In dem überwiegend von linken und Aleviten bewohnten Istanbuler
Stadtteil Gazi wurde eine Frau in ihrem Schlafzimmer regelrecht hingerichtet.
Selbst deren Begräbniszeremonie in einem alevitischen Zentrum wurde 3 Tage lang
von der Polizei belagert und angegriffen. Provokationen, Verhaftungen, Angriffe
und Bombardierungen wurden fortgeführt und dauern noch an. In Ağrı wurden zwei
Bäckerhelfer, 15 und 16 Jahre alt von Spezialkräften erschossen. In Varto, nahe
Muş wurde eine getötete Guerilla ausgezogen und nackt fotografiert, was im
ganzen Land für Aufsehen sorgte. 12 Regierungsbezirke in den kurdischen
Gebieten wurden zu »Besonderen Sicherheitsregionen« erklärt. Es herrscht de
facto das Kriegsrecht. Während linke und kurdische Aktivist*innen weiterhin
festgenommen werden, wurden inzwischen sämtliche IS-Verdächtige freigelassen.
Nach dem Suruç-Attentat und den Beginn der Luftoffensive
begann die PKK mit Vergeltungsaktionen, die wiederum mit neuen Bombardierungen
und Verhaftungen beantwortet werden. Innerhalb weniger Wochen wurden in 56
Städten HDP-Büros Ziel von Pogromen und Anschlägen. Als Reaktion auf die
Luftoffensive gegen die PKK und Militäroperationen gegen zivile Kräfte haben kurdische
Kommunen begonnen die autonome Selbstverwaltung auszurufen. Die Eskalation der
Gewalt führte auch dazu, dass binnen eines Monats 48 Soldaten und Polizisten
getötet wurden. Die von Liveberichterstattung begleiteten Begräbniszeremonien
für »Gefallene« werden von Erdoğan und Regierungsmitgliedern als Bühne für
politische Reden instrumentalisiert. Zwar genießen Erdoğan und die AKP
innerhalb der sunnitisch-konservativen Mehrheitsgesellschaft weiterhin
Unterstützung, aber inzwischen sind auch von den Familienangehörigen von
»Gefallenen« Proteste zu hören. Erst vor kurzem wurde der stellvertretende
Ministerpräsident Akdoğan bei einem Soldatenbegräbnis von einer wütenden Menge
mit Wasserflaschen beworfen, worauf er fluchtartig den Ort verlassen musste.
Dennoch, Erdoğan und die AKP drehen weiterhin an der
Eskalationsschraube. Provokationen und militärische Operationen in den
kurdischen Siedlungsgebieten dauern an. Silvan, ein Vorort von Diyarbakır und
Şemdinli sind von der Armee belagert. Häuser wurden in Brand gesteckt und
Geschäfte von Gewehrkugeln durchlöchert. In Silopi versuchen sich die
Einwohner*innen mit aneinander genähten Bettlaken, die sie zwischen ihre Häuser
aufhängen, vor den Scharfschützen der Polizei zu schützen. Während
regierungsnahe Medien von getöteten »Terroristen« sprechen, melden die wenigen
unabhängigen Zeitungen und soziale Medien, dass die mutmaßlichen »Terroristen«
unschuldige Zivilisten seien. Untersuchungskommissionen der HDP berichten von
Massakern in den kurdischen Städten, werden aber in den gängigen Medien nicht
gehört. Die Menschen informieren sich nur noch über die sozialen Medien, weshalb
inzwischen die Telefonnetze und Internetzugänge in diesen Regionen abgeschaltet
wurden. In Kurdistan herrscht nun wieder Kriegszustand.
Kapitalfraktionen auffällig ruhig
Erdoğan hat längst mit dem Wahlkampf begonnen. In
seinen aktuellen Auftritten spricht er nur noch von der »Notwendigkeit des
Präsidialsystems« und sagt: »Die Regierungsform der Türkei hat sich faktisch
geändert. Nun muss die Verfassung an diese Realität angepasst werden«.
Regierungsvertreter und AKP-Abgeordnete stimmen sich diesem Chor ein und
erklären im Bezug auf die Eskalation der Gewalt, dass »das parlamentarische
System an ihre Grenzen gekommen« sei und »das Land aus dieser Situation nur mit
dem Präsidialsystem herauskommen« könne.
Seit 2011 ist Erdoğan bemüht, für sein autoritäres Präsidialsystem
zu werben. Dabei kritisierte er stets die Gewaltenteilung. Schon damals
schreckte er bürgerliche Verfassungsrechtler auf, als er sagte: »Wir wollen für
unser Wachstum große Investitionen tätigen. Aber die Oligarchie der Gerichte
will uns dabei hindern. Es kann nicht sein, dass irgendein Verwaltungsrichter
wegen Umweltvorgaben für das Land wichtige Investitionen verhindert. (...) Die
Türkei ist ein starker Staat und muss wie eine Aktiengesellschaft regiert
werden. Gewaltenteilung darf uns dabei nicht behindern«. Obwohl die Medien
gleichgeschaltet sind und der Justizapparat, genau wie die Polizei und das
Militär längst unter seiner Kontrolle gebracht wurde, will Erdoğan der erste
Präsident der »neuen Türkei« werden.
Im Grunde genommen ist das Präsidialsystem ein
Protektionsversprechen an die klein- und mittelständige sunnitisch-konservative
Kapital, die bei der schärfer werdenden Konkurrenz zu den internationalen
Monopolen auf die Unterstützung des Staates angewiesen ist. Eng verwoben mit
den internationalen Monopolen stellt sich das türkische Großkapital, das einen
Großteil der industriellen Produktion und des Exportes unter seiner Kontrolle
hält, dagegen. Erdoğans Präsidialsystem wurde vom Großkapital als eine
Vormundschaft der kapitalistischen Konkurrenz bewertet. Der prowestliche
Unternehmensverband TÜSIAD setzte auf das parlamentarische System und
unterstützte die Forderungen nach Stärkung des Parlaments. Mit dem Wahlergebnis
vom 7. Juni schienen Erdoğan und ihn unterstützende Kapitalfraktionen bei dem
Kampf um die politische Form der Organisierung der kapitalistischen Konkurrenz
eine vorläufige Niederlage erhalten zu haben. [2]
Nun drängt Erdoğan auf eine endgültige Entscheidung.
Obwohl die Kapitalakkumulation stagniert, das Wirtschaftswachstum rückgängig
ist und die Lasten der Vielfachkrise immer größer werden, sind die
Kapitalfraktionen z.Zt. auffällig ruhig. Dabei ist die Situation alles andere
als rosig: Die Auslandsverschuldung der Privatwirtschaft hat die
212-Milliarden-Dollar-Marke überschritten. In den nächsten 12 Monaten sind
insgesamt 69,8 Milliarden Dollar an Tilgungszahlungen fällig, was eine neue
Umschuldung wahrscheinlich macht. Die Türkische Lira (TL) verliert weiterhin an
Wert: in der dritten Augustwoche kostete 1 Dollar fast 2,90 TL. Bald könnte die
3,00 TL-Marke überschritten werden. Auch die türkischen Banken bekommen
Schwierigkeiten: Laut einem Bericht des Risikozentrums der Türkischen
Bankenunion (TBB) hat sich das Volumen der sog. faulen Kredite der
Privatwirtschaft um 25,8 Prozent auf 40,9 Milliarden Dollar erhöht.
Aber allgemein betrachtet kann z.Zt. nicht von einer
Entwicklung gesprochen werden, die den Interessen der Kapitalfraktionen
widersprechen würde. Zum einen sind von der Auslandsverschuldung eher die
klein- und mittelständigen Unternehmen betroffen, nicht aber das Großkapital.
Die sunnitisch-konservativen Kapitalfraktionen wiederum können sich bezüglich
der Verschuldung und fauler Kredite staatlicher Unterstützung sicher sein. Das
Davutoğlu-Kabinett hat längst neue indirekte Steuern beschlossen. Auch bei den
Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst ist der Staat nicht willens, einer
Lohnerhöhung über der Inflationsrate zuzustimmen. Aufgrund des Wertverlustes
der TL hat der gesetzliche Mindestlohn inzwischen eine Kaufkraft von nur noch
341 Dollar. Insofern können alle Kapitalfraktionen zu recht davon ausgehen,
dass die Rechnung der Krise den Beschäftigten und privaten Haushalten
präsentiert wird.
Ein weiterer Faktor: Das angespannte
Umfeld
Auch wenn in den westlichen Medien der türkische Krieg
in Kurdistan weitgehend verschwiegen wird, so kommen sie nicht umhin, Ankaras
Haltung in der Syrienfrage zu kritisieren. Es steht außer Frage, dass auch die
Kriege im Irak und in Syrien für die Krisen der Türkei mitverantwortlich sind.
Zumal die AKP-Regierung Syrien zu einem innenpolitischen Thema erkoren hat. Der
Grund ist nicht nur die Assad-Gegnerschaft der AKP, sondern in erster Linie die
eigene Kurdenproblematik.
Der erfolgreiche Kampf gegen den IS, die Befreiung
Kobanês und davor die Evakuierung der ezidischen Bevölkerung aus den
Schengal-Bergen sowie die Gründung der Kantone Rojavas auf der Grundlage eines
demokratisch-geschlechtergerecht verfassten Gesellschaftsvertrages hat der
kurdischen Bewegung von Abdullah Öcalan in der internationalen Öffentlichkeit
große Sympathien eingebracht. Bei ihrem – wenn auch zaghaften – Vorgehen der
USA gegen die IS sind die Volkverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten
YPJ in Rojava für die USA zu unverzichtbaren Partnern geworden. Das ändert zwar
nichts daran, dass die USA die Schwesterorganisation der YPG, die HPG-Guerilla
der PKK weiterhin als »terroristische Organisation« betrachten, aber ein
militärisches Vorgehen der Türkei gegen die YPG wird von den USA nicht zugelassen.
Die Kantone in Rojava wurden für die Türkei zu einer
doppelten Herausforderung: als ein Hindernis für die Erweiterung der türkischen
Einflusssphäre in Syrien und als Modell für die kurdische Bevölkerung in der
Türkei. Deshalb erklärt Erdoğan bei jeder Gelegenheit, dass »die Türkei ein
staatliches Gebilde an seinen syrischen Grenzen nicht zulassen« werde. So war
es auch kein Zufall, dass türkische Kampfjets, die Angriffe auf IS-Stellungen
flogen, »fälschlicher Weise« auch einige YPG-Stellungen bombardierten.
Im Grunde genommen bedeuten die türkischen
Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Nordirak eine Schwächung des Kampfes gegen
den IS, weil die PKK in Nordirak gemeinsam mit nordirakischen Kräften das
Vordringen der IS-Miliz nach Rojava verhindert. Aus diesem Grund ist es
nachzuvollziehen, wenn die kurdische Bewegung die türkische Luftwaffe als
»Luftwaffe des IS« tituliert. Die Türkei will mit aller Macht die Vereinigung
der Kantone Rojavas verhindern. Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs fordert
Ankara die Einrichtung einer »Pufferzone« - inzwischen »Schutzzone« - im Norden
Syriens. Bis jetzt fanden zwei NATO-Treffen auf der Grundlage des Art. 4 des
NATO-Vertrages, die von der Türkei initiiert waren und in denen die Türkei ihre
Forderungen stellte. Aber die führenden NATO-Länder erteilten Ankaras Wünschen
immer wieder Absagen. Selbst nach der Öffnung des Luftwaffenstützpunktes
Incirlik konnte die Türkei die Zustimmung der USA für eine »Schutzzone« nicht
bekommen. Der inzwischen beschlossene Abzug deutscher und US-amerikanischer
Patriot-Systeme kann als eine weitere Niederlage der türkischen Außenpolitik
bewertet werden.
Es ist offensichtlich, dass die unmittelbaren
Interessen der kapitalistischen Hauptländer USA und BRD in Syrien stark von
denen des türkischen Staates divergieren. Während die Türkei
islamistisch-terroristische Gruppen als Gegenmacht zu den kurdischen Einheiten
in Rojava erhalten und für ihre Politik gegen das Assad-Regime weiterhin
unterstützen will, verfolgt die USA eine Strategie, die darauf abzielt, mit
Unterstützung der kurdischen Einheiten den Einflussgebiet der IS zu begrenzen,
ohne den IS gänzlich zu zerschlagen, da dies das Assad-Regime stärken könnte.
Die US-iranische Annäherung, die Zersplitterung der sog. syrischen Opposition,
die erfolglosen Ausbildungsversuche von sog. »gemäßigten islamischen Kämpfern«,
der weiterhin vorhandene gesellschaftliche Rückhalt des Assad-Regimes in
Syrien, die Aktivitäten des israelisch-saudischen Allianz, die Rolle Russlands
und das Vorgehen der Türkei machen die Situation in Syrien völlig
unübersichtlich. Noch kann nicht vorausgesagt werden, wie eine Annäherung der
sich divergierenden Interessen der USA, BRD und der Türkei hergestellt werden
kann. Im weiteren Verlauf des Bürgerkrieges werden wir sicherlich die Antworten
darauf bekommen. Feststeht aber, dass für die USA die Nutzung von Incirlik eine
positive Entwicklung ist. Aber wenn nicht bald »Erfolge« vorgezeigt werden
können, könnte die Bedeutung von Incirlik zweitrangig werden. Für die USA steht
mit der Kurdischen Regionalregierung im Nordirak, wo Nahe Erbil ein
US-Stützpunkt im Format des kosovarischen Camp Bondsteel geplant ist, eine
weitere Alternative bereit. Die Barzani-Regierung hat das Potential, als
»Stabilitätsanker« für die US-Interessen in der Region zu fungieren.
Aber hier sollte ordnungshalber auf die perfide
Doppelmoral der US-Administration und der Bundesregierung hingewiesen werden.
Sowohl die USA als auch die BRD »mahnen« die Türkei, den Friedensprozess mit
der PKK nicht zu gefährden, geben aber der Türkei für ihren schmutzigen Krieg
gegen die eigene kurdische Bevölkerung weiterhin Rückendeckung. Besonders die
Bundesregierung ist unglaubwürdig. Solange die BRD mit Rüstungsexporten und dem
repressiven Vorgehen gegen kurdische Aktivist*innen hierzulande weiter macht,
solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, aus rein
wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen an den Massakern Ankaras
Mitverantwortung zu tragen.
Wie sehen die Perspektiven aus?
Die außenpolitischen Niederlagen, das Stocken der
Kapitalakkumulation, die Schwächung der Binnenkonjunktur, die schwache globale
Nachfrage, das chronische Leistungsbilanzdefizit, die Verschuldung, die
ungelösten Nationalitäten- und Minderheitenfragen, Korruptionen, Legitimations-
und Repräsentationskrisen, undemokratische und unsoziale Gesetzgebung, die
Eskalation militärischer Gewalt, der autoritäre Neoliberalismus und die
Islamisierung u.v.a.m. bilden in ihrer Gesamtheit die türkische Vielfachkrise.
Die lange vom Westen gepflegte Erzählung von »dem türkischen Wirtschaftswunder«
hat sich als eine Seifenblase erwiesen. Es ist offensichtlich, dass Erdoğan und
ihn unterstützende Kräfte den Weg aus der Vielfachkrise im Krieg, im
autoritären Präsidialsystem und der Errichtung eines »Sicherheitsregimes«
suchen. Dadurch potenzieren sich die Gefahren, nicht nur für das Land selbst,
sondern für die gesamte Region.
Doch wie wird es weitergehen? Wie sehen die
Perspektiven aus? Mit dem Stand vom 20. August kann angenommen werden, dass
Erdoğan mit einer von ihm berufenen Regierung die Neuwahlen ansteuern wird. Es
mag paradox erscheinen, aber Erdoğan hat mit seiner Strategie, eine
Koalitionsregierung durch Verschleppung zu verhindern, die Niederlage vom 7.
Juni zu einem vorläufigen Sieg verwandelt und steht gegenüber dem Parlament
mächtiger als je zuvor. Laut Art. 116 der türkischen Verfassung hat der
Staatspräsident in dieser Situation das alleinige Recht, ein Kabinett zu
berufen. Zwar sagt der Art. 116, dass »der Staatspräsident in Beratung mit dem
Parlamentspräsidenten den Beschluss fassen kann, binnen einer Frist von 45
Tagen nach der Wahl des Parlamentspräsidiums die Wahlen zu erneuern«[3], aber
das ist eine Kann-Bestimmung. Ob Erdoğan tatsächlich und für welches Datum Neuwahlen
ausrufen wird, liegt in seinem Ermessen.
Es gibt genügend Anzeichen dafür, dass Erdoğan für
diese Entscheidung sich viel Zeit nehmen wird. Zum einen bescheinigen
derzeitige Wahlumfragen, dass eine Neuwahl an dem derzeitigen Parlamentstableau
wenig ändern würden. Laut den Umfragen würde die HDP wieder die Wahlhürde
überwinden und die AKP, die 1 bis 2 Punkte zulegt, wäre wieder an einen
Koalitionspartner angewiesen. Zum anderen würde Erdoğan mit einer vorzeitigen
Entscheidung seine derzeitige Machtposition verlieren.
Erdoğan hat jetzt viele Möglichkeiten, die er je nach
Situation nutzen kann. Die Oppositionsparteien haben sich durch eigene Fehler
seinem Willen ausgeliefert. Nach den Wahlen hatten CHP und HDP verlautbart,
dass Erdoğan »illegitime Macht ausübt« und sie »niemals« sein Amtssitz
aufsuchen würden. Heute erklären beide Parteien, dass sie aus Staatsräson
bereit sind, einer kommissarischen Regierung Minister zu stellen. Erdoğan hat
sie in eine Bittsteller-Situation gedrängt und wird nun selber bestimmen, wen
er aus diesen Parteien in das Kabinett beruft – wenn überhaupt. Die CHP und HDP
haben sich in eine Lage manövriert, in der sie nur ein Spielball Erdoğans sein
können.
Abdüllatif Şener, ein guter Kenner Erdoğans und
zwischen 2002 und 2007 sein stellvertretender Ministerpräsident, inzwischen
erbitterter Gegner, meint, dass Erdoğan über zwei realistische Möglichkeiten
nachdenkt [4]: die erste Möglichkeit ist, mit einer von ihm berufenen
AKP-Regierung die Neuwahlen zu organisieren. Dabei wird er an der
Eskalationsschraube weiterdrehen, um mit Hilfe der kontrollierten Gewalt
nationalistische Wähler*innen an sich zu binden. Es ist offensichtlich, dass er
dafür den Tod von weiteren Soldaten und Polizisten hinnimmt, denn mit jedem
»Gefallenen« sieht er die AKP-Zustimmung wachsen. Zu dem wird sicherlich wie zu
vor mit fingierten Umfrageergebnissen versucht werden, eine Stimmung zu
erzeugen, in der man von einem AKP-Sieg ausgeht und so die Wahlbeteiligung
niedriger gehalten wird. Eine niedrige Wahlbeteiligung bedeutet vor allem das
Fernbleiben von laizistischen Wähler*innen. Es sind auch Pläne bekannt
geworden, die Wähler*innen in den ländlichen Gebieten in die Städte fahren zu
lassen. Damit wären Wahlfälschungsversuchen Tür und Tor geöffnet. Zu dem wird mit
der Aufrechterhaltung von »Besonderen Sicherheitsregionen« die HDP-Wählerschaft
unter Druck gestellt.
Die zweite Möglichkeit von der Şener spricht, ist der
Transfer von 18 Abgeordneten, die eine AKP-Alleinregierung ermöglichen würden.
Für türkische Verhältnisse wäre das nichts Ungewöhnliches. In der Vergangenheit
wurde dieses Mittel mehrfach angewendet. Die Tatsachen, dass zum einen die
Neuwahl für einige Oppositionsabgeordnete das Ende ihrer parlamentarischen
Karriere bedeutet und zum anderen, die AKP und MHP zum größten Teil das gleiche
Wähler*innen-Reservoir, nämlich die sunnitisch-konservative
Mehrheitsgesellschaft ansprechen und den gleichen Kapitalfraktionen nahestehen,
vereinfachen diese Option.
So abwegig sind die Äußerungen von Şener nicht.
Ähnlich stellt Gehring fest: »Die gegenwärtige politische Lage markiert also
geradezu eine Explosion von Möglichkeiten, bei der die vielen gegenwärtigen
Instabilitäten der politischen Lage durch den Souverän machiavellistisch im
Sinne eines fragilen Gleichgewichts ausbalanciert werden können. Entscheidend
ist dabei, dass die verschiedenen Instabilitäten nicht etwa die AKP gefährden,
sondern ihr vielmehr jenen politischen Spielraum geben, den sie im Falle der
Konfrontation mit einer geschlossenen Opposition nicht hätte. Der de facto
herrschende Ausnahmezustand ist eben die Stunde der Exekutive – selbst wenn
diese abgewählt ist. Gleichwohl zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre,
dass die AKP in immer kürzeren Abständen zu immer stärkeren Methoden der
Polarisierung greifen muss. Der Besitz der Staatsapparate und die
Zersplitterung der Opposition werden für die AKP dabei immer wichtiger.« [5]
Welche Möglichkeit nun Erdoğan auch wählen wird, eine
nachhaltige Lösung wird er trotzdem nicht haben können. Selbst wenn bei einer
Neuwahl die AKP wieder eine Alleinregierung stellen und gar mit einer
Verfassungsänderung das Präsidialsystem einführen könnte, würden sich die
vorhandenen Krisen vertiefen, da mindestens die Hälfte der Gesellschaft weiter
in Feindschaft gegenüber der AKP stehen würde. Nicht auszumalen, wenn die PKK,
die derzeit in einer »Verteidigungsposition« steht, sich für einen aktiven
bewaffneten Kampf entscheiden würde.
Absolute Annahmen gibt es natürlich nicht. Noch ist
nicht klar, ob die Opposition so zersplittert bleibt, wie bis jetzt und ob
nicht sich neue Widerstandspotentiale ergeben. Noch ist auch nicht klar, ob auf
dem Parteikongress der AKP im September der mögliche Kontrahent Erdoğans und
ehemaliger Staatspräsident Abdullah Gül eine wesentliche Rolle spielen kann.
Von den möglichen Entwicklungen in der Region ganz zu schweigen. Aber
unabhängig davon steht fest, dass der Türkei blutige Wochen bevorstehen, welche
die derzeitige Eskalation der Gewalt unkontrollierbar machen können. Ungeniert
davon spielt Erdoğan mit dem Feuer und kann sich auf die Unterstützung seiner
strategischen Partner im Westen verlassen.
[1] Siehe: Axel Gehring,
»Die Stunde der abgewählten Executive. Ende des Friedensprozesses in der
Türkei«, in: Infobrief Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2015/08/die-stunde-der-abgewahlten-exekutive.html
[2] Siehe: Errol Babacan,
»Die Türkei nach den Wahlen – Politischer Autoritarismus und kapitalistische
Dynamiken«, in: Infobrief Türkei, http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2015/06/die-turkei-nach-den-wahlen-politischer.html
[3] Siehe: Die Türkische
Verfassung (Türkisch), https://www.tbmm.gov.tr/anayasa/anayasa_2011.pdf
[4] Siehe: Interview mit
Abdüllatif Şener, in: Internetprotal T24, http://t24.com.tr/haber/abdullatif-sener-cumhurbaskani-45-gun-dolduktan-sonra-da-secim-karari-vermez,306463
[5] Siehe: Axel Gehring,
a.a.O.