Parlamentswahlen in der Türkei – Eine
Wahlnachtanalyse
Die Parlamentswahlen vom gestrigen Sonntag haben alle
Beobachter*innen überrascht. Erdoğans Angst- und Eskalationsstrategie ging auf:
Die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 wurden zugunsten der AKP »korrigiert«. Am
1. November 2015 holte die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Hoffnung) ihre
Parlamentsmehrheit zurück. CHP (Republikanische Volkspartei) konnte ihre
Position nicht ausbauen und bleibt die größte Oppositionspartei. Die HDP
(Demokratische Partei der Völker) wurde trotz Verluste die drittstärkste Kraft
im Parlament und konnte die hohe Wahlhürde wieder überwinden. Die
neofaschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ist schwer angeschlagen
und bleibt die größte Wahlverliererin.
Das vorläufige Endergebnis* (1. November
2015, 23:00 Uhr):
Parteien
|
1.
November 2015
|
7.
Juni 2015
|
12.
Juni 2011
|
22.
Juli 2007
|
||||
i.
v. H.
|
Sitze
|
i.
v. H.
|
Sitze
|
i.
v. H.
|
Sitze
|
i.
v. H.
|
Sitze
|
|
AKP
|
49,17
|
314
|
40,93
|
258
|
49,8
|
327
|
46,7
|
341
|
CHP
|
25,58
|
135
|
25,08
|
132
|
26,0
|
135
|
20,9
|
112
|
MHP
|
12,05
|
41
|
16,38
|
81
|
13,0
|
53
|
14,3
|
71
|
HDP
|
10,74
|
60
|
13,10
|
79
|
-
|
-
|
-
|
-
|
*) Die Ergebnisse basieren
auf den Zahlen von Cihan
Haber Ajansi. In der Wahlnachtberichterstattung gab es große Unterschiede
zwischen den Aussagen der Cihan Haber Ajansi und der amtlichen Anadolu Ajansi.
Die Hohe Wahlkommission wird in ca. 10-11 Tagen das endgültige Wahlergebnis veröffentlichen,
wobei durchaus geringfügige Unterschiede zwischen den Zahlen in diesem Artikel
und dem endgültigen Ergebnis geben können.
Zusammenfassung des Wahlergebnisses und erste
Bewertung
Von den 56.949.042 Wähler*innen gingen 47.944.013,
also rund 84 Prozent an die Urnen. Von den abgegebenen Stimmen wurden 856.659
als ungültig bewertet. Europäische Wahlbeobachter*innen meldeten aus den
kurdischen Gebieten massive Militär- und Polizeipräsenz. Schwer bewaffnete
Sicherheitskräfte in den Wahllokalen wurden als Bedrohungspotential und
Einschüchterungsversuche bewertet. In den sozialen Medien wurden von
zahlreichen Wahlfälschungen und Manipulationen berichtet. Da auch die
öffentliche Internetseite der Hohen Wahlkommission (YSK) abgeschaltet wurde,
wurden in der nach in den oppositionellen Medien Wahlfälschungsvorwürfe
erhoben.
Ohne Frage, die Parlamentswahlen fanden unter äußerst
widrigen Umständen statt. Aufgrund der Repressionen, der gleichgeschalteten
Medien und fehlender Gewaltenteilung ist es sehr schwer, von demokratischen,
gleichen und freien Wahlen zu sprechen. Und es ist auch davon auszugehen, dass
Wahlfälschungsversuche stattgefunden haben, wie bei jeder Wahl. Aber diese
reichen bei weitem nicht aus, um den Wahlerfolg der AKP zu erklären.
Eine Atmosphäre der Gewalt, Angst und Bedrohungen
sowie die Diskreditierung von Regierungskoalitionen als Faktor der Instabilität
scheinen dazu geführt zu haben, dass die sunnitisch-konservative
Mehrheitsbevölkerung sich an die stärkste politische Kraft, also der AKP
zugewandt hat. In der Türkei fanden konservative Parteien immer die größte
Unterstützung. Die Stimmen, welche die AKP am 7. Juni an andere konservative
Parteien wie MHP, SP-Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) oder BBP-Büyük
Birlik Partisi (Große Einheitspartei) verloren hatte, konnte sie Gestern wieder
zurückholen. Wenn wir die Stimmen der AKP (49,17 Prozent), der MHP (12,05
Prozent), SP (0,68 Prozent) und der BBP (0,54 Prozent) zusammenzählen, kommen
wir auf eine Summe von 62,44 Prozent. Am 7. Juni 2015 lag diese Summe bei 59,2
Prozent. Das ist also keine außergewöhnliche Entwicklung.
Überraschend ist, dass die AKP innerhalb von 5 Monaten
über 8,5 Prozent der Stimmen zurückholen und quasi ihr Ergebnis von 2011
wiederholen konnte. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden,
dass nahezu alle Umfrageinstitute der Türkei falsch lagen. Kein Institut hat
ein solches Ergebnis voraussagen können. Ordnungshalber sollte hier betont
werden, dass frühere Analysen des Autors sich zum größten Teil an diesen
Umfragen orientierten und im Bezug auf das Wahlergebnis auch falsche Schlüsse
zogen. In seiner Aussage in dem jüngsten Artikel zum türkischen
Nationalismus, dass die Auswirkungen der ökonomischen Realität dazu führen
würden, »dass der türkische Nationalismus wenig geeignet ist, bei den
bevorstehenden Wahlen als Rettungsanker für den politischen Islam zu fungieren«
irrte der Autor. Der entfachte nationalistische Fanal hat der AKP den
Stimmenzuwachs garantiert.
Die AKP setzte von Anfang an auf eine »Stabilitätskampagne«,
die darauf zielte, dass die Stabilität nur unter einer AKP-Alleinregierung
gewährleistet werden könne. Regierungsnahe Medien propagierten, dass das
Wahlergebnis vom 7. Juni die »Chaos-Gefahr« erhöht habe und
Regierungskoalitionen die Instabilitäten fördern würden. Es war offensichtlich,
dass die AKP im Westen MHP-Wähler*innen gewinnen und in den kurdischen Gebieten
die Wahlbeteiligung bzw. die HDP-Unterstützung möglichst niedrig halten wollte.
Im Nachhinein kann diese Strategie als erfolgreich bezeichnet werden.
Erdoğan und seine AKP drehten an der
Eskalationsschraube und entfachten einen nationalistisches Fanal, welches die
AKP-Wähler*innen mobilisierte. Gesteuerte Pogrome, Bombenanschläge, rund 700
Tote in knapp 5 Monaten, Brandanschläge auf HDP-Büros und auf linke
Einrichtungen, Ausgangssperren in den kurdischen Gebieten, Horrorszenarien in
den regierungsnahen Medien, de facto Kriegszustand in Kurdistan und damit
verbunden zahlreiche Tote Soldaten und Polizeibeamte – all dies u. v. a. m.
führten dazu, dass die Propaganda, »ohne AKP-Alleinregierung wird das Chaos
herrschen« in der Mehrheitsgesellschaft große Wirkung zeigte. In Verbindung
damit erhöhte die Verschlechterung der ökonomischen Situation breiter Kreise,
der Wertverlust der Türkischen Lira und Stagnation in der Wirtschaft die Ängste
der Mehrheitsgesellschaft.
Die AKP konnte die Vielfachkrise, in der die Türkei
steckt, diesmal für ihr »Stabilitätsversprechen« erfolgreich nutzen und mit
ihrem nationalistischen Gebaren konservative Stimmen auf sich vereinen. Der
schmutzige Krieg gegen die kurdische Bevölkerung erfüllte auch ihr Zweck:
insbesondere kurdische Mittelschichten und Kleinbürger sowie Konservative
Kurden, die am 7. Juni der HDP ihre Stimmen gegeben hatten, aber in den letzten
Monaten aufgrund der Repressionsmaßnahmen in den kurdischen Gebieten massive
wirtschaftliche Verluste verzeichneten, wandten sich wieder an die AKP. Die
Verluste der HDP von rund 18 Prozent in den kurdischen Gebieten, besonders in
den Städten können vor allem damit erklärt werden.
Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der
Wähler*innen in der Türkei konservativ und nationalistisch orientiert sind,
wurde Gestern wieder bestätigt. Eine fehlende regierungsfähige konservative
Alternative und die weitgehende Kontrolle der bürgerlichen Medien, die offene
Unterstützung durch die EU sowie die Erwartung, mit einer starken Regierung
wieder auf die Wachstumspfade zu kommen, hat die Mehrheit der Wähler*innen zur
Stimmabgabe zugunsten der stärksten politischen Formation des türkischen Konservatismus
bewogen.
Die
Wahlergebnisse für die CHP und HDP
sollten aber bei aller Enttäuschung nicht unbedingt als Niederlage bewertet
werden. Während bei den Wahlen am 7. Juni ökonomische Gründe eine wichtige
Rolle gespielt haben, waren bei den gestrigen Wahlen Terror und Gewalt die
ausschlaggebenden Faktoren. In einem Land wie die Türkei haben
sozialdemokratische oder linke Parteien kaum Chancen an die Macht zu kommen,
wenn Nationalismus und Gewalt die Tagesordnung beherrschen. Weder die CHP, noch
weniger die HDP konnten der Propagandamaschinerie der Staatspartei viel
entgegenbringen. Die sozialpolitischen Aussagen (z. B. Erhöhung des
gesetzlichen Mindestlohnes u. ä.) erreichten aufgrund fehlender
Zugangsmöglichkeiten zu den bürgerlichen Medien kaum die Öffentlichkeit. Zudem
haben CHP und HDP viel weniger Wahlkampfkundgebungen durchgeführt, da sie
Bombenanschläge befürchteten. Insofern kann die CHP ihr Wahlergebnis unter
diesen Umständen durchaus als Zufriedenstellend ansehen.
Für die HDP ist das Wahlergebnis trotz allem ein
Erfolg, da sie trotz aller Versuche sie unter der Wahlhürde zu halten, trotz
Angriffe und Repressionen wieder in das Parlament einziehen konnte – als
drittstärkste Fraktion wohlbemerkt. Ein großer Teil der kurdischen Wähler*innen
haben wieder die HDP gewählt. Die Stimmen der konservativen Kurd*innen waren
aufgrund der Entwicklung in Syrien und Rojava der HDP am 7. Juni nur
»geliehen«. Jetzt, am 1. November hat sich die Klassengrundlage der HDP
konsolidiert: sie hat bei den armen kurdischen Bevölkerungsteilen die meisten
Stimmen holen können. Gerade die ärmsten kurdischen Regionen haben sich als
Hochburgen der HDP erwiesen. Daher wird sich die HDP fragen müssen, ob die
Öffnung der Partei für Konservative eine richtige und nachhaltige Strategie
war. Die Tatsache, dass zahlreiche linke und sozialistische Parteien die HDP
unterstützten und in diesem Zusammenhang ernsthafte Bemühungen zur Überwindung
der linken Zersplitterung unternommen wurden und dadurch die HDP sich als eine
wählbare Alternative für arbeitende Klassen darstellte, zeigt, dass die HDP ihr
schwammige Programmatik überarbeiten und eindeutig links positionieren muss.
Darin wird die HDP ihre eigentliche Stärke finden können.
In diesem Zusammenhang kann konstatiert werden, dass
der linksaffine Block der Wähler*innen in der Türkei historisch gesehen größer
geworden ist. Die Stimmen für die CHP und HDP sowie für einige kleinere linke
Parteien ergeben zusammen immerhin 36,98 Prozent und das sind 3 Prozent mehr
als der historische Durchschnitt für linke Parteien. Dennoch; der türkische Konservatismus kann
allein an der Urne nicht besiegt werden. Ohne die außerparlamentarischen Kämpfe
wäre das HDP-Ergebnis eine andere, wahrscheinlich niedrigere geworden. Aus
diesem Grund wird es in den nächsten Monaten noch wichtiger werden, den
außerparlamentarischen Kampf breiter aufzustellen und die vorhandenen, aber
fragmentierten Widerstandsherde miteinander zu verbinden.
Ausblick
Diese Kämpfe werden auch notwendig sein, denn die
AKP-Regierung wird, ausgestattet mit diesem Wahlergebnis, ihre neoliberale
Agenda und Kriegsrhetorik verschärfen. Die Gefahr einer militärischen
Beteiligung im syrischen Bürgerkrieg hat sich jetzt potenziert. Auch wenn Erdoğan
für sein Präsidialsystem die notwendige parlamentarische Mehrheit nicht
erreicht hat, ist davon auszugehen, dass das autoritäre Regierungshandeln sich
verfestigen, möglicherweise ein autoritäres Sicherheitsregime installiert wird.
Die Fortführung von militärischen Angriffen gegen die kurdische Bewegung und
der Repressionen, aber auch die Erhöhung des Drucks auf die bürgerliche
Opposition sind zu erwarten. Kurzum, schwierige Zeiten und neue Konflikte
warten auf die Türkei. Ob die AKP-Regierung ihre Politiken nachhaltig
fortführen kann, steht trotz des eindeutigen Wahlergebnisses nicht fest.
Feststeht allerdings, dass die kurdische Bewegung, die Linke und demokratische
Kräfte der Türkei mehr denn je unsere Solidarität benötigen werden.