In reaktionärer Kontinuität auf dem Weg zur
Diktatur
Als Merkel im April 2016 mit dem EU-Ratspräsidenten Tusk ein
Flüchtlingslager in der Türkei besuchte, lobte sie die »Anstrengungen der
Türkei«. Tusk war euphorischer: Die Türkei sei, »heute das beste Beispiel für
die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«[1] – trotz des
Wissens, dass Flüchtlinge in der Türkei keinen adäquaten Aufenthaltsstatus
erhalten und keinen gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und
Sozialleistungen haben. Für die Herrschenden in der EU ist diese Realität
unerheblich und wird ignoriert. Diese Ignoranz hat ihre Gründe und sie finden
sich in der Militarisierung der EU-Außenpolitik und dem Primat der Wahrung
geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen.
Daher ist es kein Zufall, dass die EU dem schmutzigem Krieg gegen
die kurdische Bevölkerung, den massiven Menschenrechtsverletzungen, der
Gleichschaltung von Medien und Justiz, der Inhaftierung von Oppositionellen
sowie den extralegalen Hinrichtungen mit Schweigen reagiert. Mehr noch: mit der
Forderung nach der Einrichtung von Flugverbotszonen in Syrien wird die
völkerrechtswidrige und aggressive Syrienpolitik der Türkei unterstützt.[2] Berichte
über das »eisige Klima« zwischen der EU und Türkei oder die »tiefe Besorgnis« Merkels über die Aufhebung der
Abgeordnetenimmunität sollten nicht darüber hinweg
täuschen, dass die Kooperation zwischen der EU und dem AKP-Regime gedeihlich
weiter wächst. Denn, »sie ist richtig und in beidseitigem Interesse«, so
Merkel.[3]
Wie wahr: Als Rüstungsimporteur und Lizenznehmerin, billiger
Produktionsstandort, Energieumschlagplatz und als Brücke zu den Märkten und
Ressourcen im Kaukasus, Nahen Osten und in Zentralasien hat die Türkei für das
deutsche Kapital einen unschätzbaren Wert. Die geostrategische Bedeutung der
Türkei und die Interessen der BRD, eine Weltmacht zu werden, sind die
bestimmenden Faktoren in den deutsch-türkischen Beziehungen. Für die aggressivste
imperialistische Macht der EU gilt, was der ehem. Generalinspekteur der
Bundeswehr, Klaus Naumann schon 2007 feststellte: »die Bindung der Türkei an die EU, an die
NATO, an den Westen ist für uns in Europa eine strategische Imperative, da
Europa ohne die Türkei seine ehrgeizigen strategischen Ziele, ein globaler
Akteur (...) zu werden, nicht erreichen kann«.[4]
»Modellland Türkei«
Lange wurde die Türkei als ein »Modell für die islamische Welt«
angepriesen. Unter der Führung der AKP habe das Land bewiesen, dass der Islam
mit der bürgerlichen Demokratie kompatibel gemacht werden kann und »die Türkei
ein Modelland« geworden ist, der »Freiheiten und Wohlstand« verspreche (C.
Wulff). Obwohl die Umwälzungen in den arabischen Ländern nach 2011 bewiesen,
dass der politische Islam, auch in seiner »gemäßigten« Form, weder für
»Demokratie« noch für die, von imperialistischen Staaten gewünschte regionale Stabilität
geeignet war, wurde das AKP-Regime weiter mit allen Mitteln unterstützt. Denn:
die AKP hatte es bewerkstelligt, zum einen die Unterstützung aller
Kapitalfraktionen der Türkei zu erhalten und zum anderen für den rigorosen
Neoliberalismus und für die aggressiv-interventionistische Außenpolitik breite
gesellschaftliche Zustimmung zu generieren. Und sie war in der Lage, Dank der
sunnitisch-konservativen gesellschaftlichen Hegemonie, die Ausgebeuteten im
Zaum halten.
Während einerseits große Privatisierungserlöse (2002-2013: 68,5
Mrd. US-Dollar) die Staatskassen füllten und durch die geförderte Verschuldung
der privaten Haushalte (2003: 4,5 Mrd. US-Dollar, 2013: 156 Mrd. US-Dollar) der
gefühlte Wohlstand für breite gesellschaftliche Kreise erhöht wurde, wurden andererseits
mit immensen staatlichen Investitionsprogrammen (»weltgrößtes« Flughafen, dritte
Bosporus-Brücke, Ausbau der Landstraßen, AKWs, Ausbau des Pipeline-Netzes,
staatlicher Eigentums-Wohnungsbau etc.), Subventionen, Kreditförderung,
Hochzinspolitik für Staatsanleihen, Ausbau der staatlichen und halbstaatlichen
Rüstungsindustrie, massiver Abbau von Sozialrechten, Privatisierungen,
Flexibilisierungen und Deregulierungen neue und größere
Kapitalakkumulationsmöglichkeiten für nationale wie internationale Monopole
geschaffen.
Gleichzeitig stand die AKP für die Demagogie, die kurdische Frage friedlich
lösen und die kemalistische Generalität zurückdrängen zu wollen. Auch das
war im Interesse ihrer NATO-Partner, da die beabsichtigte »Neuordnung des Nahen
Ostens« stabile Herrschaftsstrukturen innerhalb der Regionalmächte notwendig
machte. Es fand ein scheinbarer Kampf gegen die kemalistische Staatsbürokratie
statt, an dessen Ende die AKP die Justiz, Polizei und die Armee unter ihre
Kontrolle bringen und die Gewaltenteilung de facto aufheben konnte.
Aber andererseits wurde aus der »Null-Probleme-Politik« mit den
Nachbarländern ein außenpolitisches Fiasko und die »strategische Tiefe der
türkischen Außenpolitik« (A. Davutoğlu) mündete in geostrategischen
Untiefen. Fortan war die Türkei umzingelt von Nachbarn, mit denen sie
erhebliche Probleme hatte und wurde zum Logistikzentrum djihadistischer
Terrorbanden. In Eintracht mit den saudischen und katarischen Despoten wurde
ein Konglomerat unterschiedlicher Terrororganisationen wie IS, El-Nusra-Front
oder El-Qaida in Syrien und im Irak finanziell, militärisch, politisch und
logistisch unterstützt. Während die rund 900 km lange syrisch-türkische Grenze
für Schutzsuchende geschlossen wurde, blieb sie bis jetzt für Djihadisten
unterschiedlicher Couleur löchrig wie ein Schweizer Käse!
Der Lack ist längst ab
Obwohl die Wirtschaftskrise von 2008-2009 noch glimpflich
überstanden werden konnte, ist heute zu konstatieren, dass das AKP-Regime,
trotz ihres weiterhin starken gesellschaftlichen Rückhalts, in einer
Vielfachkrise steckt. In den letzten 5 Jahren fand diese Vielfachkrise ihren
Ausdruck in der aggressiven außenpolitischen Praxis, massiven Abbau
demokratischer und sozialer Rechte, Aushöhlung der Rechte des Parlaments, im
Regieren per Dekrete, in neuen Polizei- und Sicherheitsgesetzen, der
gesellschaftlichen Polarisierung und Islamisierung aller Lebensbereiche, in der
massiven Unterdrückung oppositioneller Kräfte und nicht zuletzt in der
Eskalation der militärischen Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung.
Insbesondere nach 2009 entstanden überall im Land Widerstandsherde,
die jedoch nicht mit einander verbunden waren. So u. a. der fünf Monate
andauernde Widerstand der TEKEL-Arbeiter, die mit Streiks und Platzbesetzungen
sich erfolgreich gegen Gesetzesveränderungen wehrten. Studierende, die in
zahlreichen Universitäten demonstrierten, Bauern und Umweltschützer*innen, die
gegen den Bau von Wasserwerken und Privatisierungen protestierten, Frauen- und
LGBTI-Bewegungen, die gegen sexuelle Gewalt und Frauenmorde auf die Straße
gingen, Gewerkschaften, die trotz ihrer Organisationsschwäche Streiks
durchführten sowie der Kampf linker, sozialistischer und kommunistischer
Parteien deuteten auf die Formierung einer breiten Protestbewegung hin. So
reichte ein städtebaulicher Beschluss aus, um im Mai 2013 in Zusammenhang mit
den Protesten um Gezi-Park eine große Protestbewegung entstehen zu lassen. Die
Tage des »Juni-Aufstandes« rüttelten an den Fundamenten des Regimes, die mit
massiver Polizeigewalt zurückschlug.
Währenddessen hatte der Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung
den türkischen Staat an den Verhandlungstisch gezwungen. Es begann der sog.
»Friedensprozess«, in der Vertreter des Staates mit Abdullah Öcalan offiziell
verhandelten. Durch den Korruptionsskandal vom Dezember 2013 unter Bedrängnis
gekommene Regime hatte offensichtlich das Ziel, die kurdische Bewegung zu
domestizieren und für ihre neo-osmanischen Ambitionen einzuspannen. Doch die
Entwicklung in Syrien, insbesondere die erfolgreiche Verteidigung Kobanes und
die Errichtung von demokratisch-autonomer Kantone in Rojava bereiteten dem
»Friedensprozess« ein jähes Ende zu.
In der Zwischenzeit, im August 2014, hatten die ersten direkten
Präsidentschaftswahlen stattgefunden und Erdoğan hatte sich behauptet. So begann die Debatte um
das Präsidialsystem. Dieses von Erdoğan
favorisierte autoritäre Präsidialsystem ist im Grunde ein
Protektoratsversprechen an die sunnitisch-konservativen Kapitalfraktionen, die
in der Konkurrenz mit den internationalen Monopolen die Unterstützung des
Staats bedürfen. Auch wenn das Präsidialsystem eine staatlich-parteiische
Intervention in die Organisation des kapitalistischen Wettbewerbs ist und die
türkische Monopolbourgeoisie anfänglich sich davon distanzierte, so ist den
nationalen wie internationalen Monopolen bewusst, dass das AKP-Regime, auch im
Präsidialsystem die Kapitalinteressen »wie ein Löwe« verteidigen wird.
Die Notwendigkeit der
Herrschaftssicherung: Diktatur
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen hatten den oppositionellen
Kräften gezeigt, dass die hohe Wahlhürde von 10 Prozent durchaus zu überwinden
ist. Auf Vorschlag von Öcalan hatten die kurdische Bewegung und linke Kräfte
den Versuch gestartet, sich gemeinsam im »Demokratischen Kongress der Völker«
(HDK) zu organisieren. Aus der HDK ging dann im Juni 2014 die »Demokratische
Partei der Völker« hervor. Dieser Zusammenschluss konnte dann bei den Wahlen am
7. Juni 2015 die Wahlhürde überwinden und zog mit 13,2 Prozent der Stimmen in
das Parlament ein.
Dieses Ergebnis hatte zur Folge, dass die AKP ihre Mehrheit verlor
und nun auf ein Koalitionspartner angewiesen war. Erdoğan und die AKP
begannen unmittelbar nach den Wahlen das Ergebnis zu sabotieren. Gleichzeitig
wurde die Gewalt gegen die Opposition verschärft. Während in Kurdistan die
militärische Gewalt eskalierte, Ausgangssperren verhängt und Massaker an
Zivilisten verübt wurden, wurden im Westen die Friedens- und
Oppositionsbewegung das Ziel von Gewalt. Mit dem Attentat von Ankara am 10.
Oktober 2015, bei dem über 100 Menschen den Tod fanden, wurde nun auch der
Westen zum Kriegsgebiet verwandelt.
In einer Atmosphäre der Gewalt, Repression und
Angst fanden am 1. November 2015 die Wiederholungswahlen statt – die AKP konnte
wieder die Alleinregierung stellen. Trotz dieses Erfolges wurde an der
Gewaltschraube weiter gedreht und ein totaler Krieg gegen die gesamte
Opposition eröffnet. Die Repressionsmaschinerie des Regimes traf nun mit voller
Wucht jede kritische Stimme. Selbst ehemalige und noch AKP-Mitglieder, die die
absolute Unterwerfung vor Erdoğan noch
scheuten, wurden geschasst oder wie im Fall des ehem. Ministerpräsidenten Davutoğlu, zum Rücktritt gezwungen. Bürgerliche Medien sind
nahezu gleichgeschaltet. Mit Enteignungen und Zwangstreuhand werden
Medienunternehmen entweder gefügig gemacht oder durch Ausschlachtung vernichtet.
Den verbliebenen kritischen Medien droht das gleiche Schicksal.
Das Regime ist der Auffassung, dass das
Präsidialsystem längst Realität ist und nur die verfassungsrechtliche
Verankerung bedürfe. Es wird nun gefordert, die Legislative, die Executive und
die Judikative dem Präsidentenpalast unterzuordnen. Der »Palast«, so wird das
eigentliche Machtzentrum der »neuen Türkei« genannt, hat auch die bürgerliche
Opposition entzweien und schwächen können: Während die neofaschistische MHP mit
einem gerichtlich durchgesetzten außerordentlichen Parteitag beschäftigt ist
und möglicherweise eine erneute Spaltung hinnehmen muss, wurde die
kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei im Parlament, in Zusammenhang
mit der Aufhebung der Immunitäten derart in die Enge getrieben, so dass sie in
der politischen Meinungsbildung im Land kaum noch eine Rolle spielt und sich
vorwerfen lassen muss, eine AKP-Unterstützerin geworden zu sein. Der HDP
wiederum droht ein Parteiverbot.
Ohne Frage: das Überleben der AKP erfordert die
Installation eines diktatorischen Sicherheitsregimes. Ein solches
Sicherheitsregime, der allen Kapitalbewegungen offen ist, die Arbeiterklasse
und somit weitere Widerstandspotentiale zurückdrängen kann, mit
paramilitärischen Polizeikräften und modernisierter Armee nicht davor zurückscheut
sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch ggf. gegen die Nachbarländer
vorzugehen, ihren militärisch-industriellen Komplex ausgebaut hat; bereit ist,
als strategischer Partner und schlagkräftige Vorhut imperialistischer Mächte zu
fungieren, die Interessen nationaler und internationaler Monopole zu wahren und
als autoritäre Regierungsmacht die erforderliche »Stabilität« zu schaffen,
verdient (!) die volle Unterstützung der türkischen Monopolbourgeoisie und der
imperialistischen Mächte. Zweifelsohne wäre das AKP-Regime ohne diese starke
Unterstützung nicht in der Lage, diesen Weg einzuschlagen und sich in Richtung
einer faschistischen Diktatur zu begeben.
Liberale Erwartungen, dass womöglich der Westen
diesem Treiben ein Ende bereiten würde, sind und bleiben Wunschträume. Die USA
– egal ob unter Trump oder Clinton – und die von der BRD geführte EU werden
weiterhin dem »Palast« die notwendige Unterstützung gewähren. Denn es geht um
nichts wesentlicheres als um den freien Zugang zu den Märkten und
Energieressourcen der Region, um die absolute Kontrolle der Transportwege, um
die Erweiterung der Einflusssphären und um die Interessen der Monopole. Die
Türkei spielt hierbei eine Schlüsselrolle.
Dennoch; gerade dann, wenn Despoten vor Kraft kaum
laufen können, haben sie i. d. R. ihren Zenit überschritten. Denn sie
produzieren zugleich ihre Leichengräber. In den kurdischen Gebieten, wie in
Cizre oder Nusaybin, konnte die türkische Armee trotz massiver Gewalt den
Widerstand nicht brechen. Die hohe Zahl von »Gefallenen« ist nicht mehr zu
verheimlichen und die Frühlingsoffensive der PKK droht größere bewaffnete
Auseinandersetzungen und Krisen. Aber auch in anderen Landesteilen formiert
sich der Widerstand: Streiks und Betriebsbesetzungen im Bergbau und in der
Metallindustrie, Proteste von Akademiker*innen und Studierenden zeugen davon.
Sicher: noch ist der Widerstand im Westen schwach. Noch wird die Sicht der
armen Bevölkerungsteile auf die eigentlichen Ursachen ihres Elends durch den
reaktionär-sunnitischen Konfessionalismus betrübt. Und noch ist es nicht
gelungen, mit der Fokussierung auf die soziale Frage den Weg für die Verbindung
der Kämpfe zu ebnen. Aber dennoch bildet sowohl um die HDK und HDP, als auch in
verschiedenen Abwehrkämpfen und im Umfeld linker Kräfte das Bewusstsein für den
gemeinsamen Kampf gegen das Regime.
In einer Erklärung der illegalen Kommunistischen
Partei der Türkei (TKP) heißt es: »Für die Befreiung der Türkei von der
Dunkelheit der Reaktion und den Höllenfeuern des Krieges, für die Freiheit der
kurdischen und türkischen Völker ist der, schrittweise in den Fabriken,
Hochschulen, Städten und Dörfern aufzubauende gemeinsame Kampf aller Friedens-,
Demokratie- und Sozialismuskräfte notwendig und möglich.« [6] Dem ist nichts
hinzuzufügen.
***
[1] http://www.nachrichtenxpress.com/04/2016/polnischer-ex-premier-tusk-die-tuerkei-das-beste-beispiel-fuer-die-ganze-welt-wie-wir-mit-fluechtlingen-umgehen-sollten/
[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-angela-merkel-unterstuetzt-forderung-nach-flugverbotszone-a-1077520.html
[3] http://www.bild.de/politik/ausland/recep-tayyip-erdogan/kippt-erdogan-heute-den-tuerken-deal-45919776.bild.html
[4] Siehe: Konrad-Adenauer-Stiftung, Dokumente der
Tagung »Deutsch-Türkischer Sicherheitsdialog zur neuen NATO-Strategie«, Ankara
März 2009, S. 26 ff.
[5] Siehe: http://tkp-online.org.