Über die herrschaftssichernde
Laizismus-Debatte in der Türkei
Es war kein Geringerer als der Parlamentspräsident Ismail
Kahraman, der mit seinem Vorschlag, »den Laizismus aus der Verfassung zu
streichen und den Bezug zu Allah zu verankern« den Paukenschlag setzte.
Immerhin ist Kahraman eines der AKP-Schwergewichte, den Erdogan sogar ehrenvoll
»älterer Bruder« nennt. Kahraman gehört seit seiner Jugend dem politischen
Islam an und war einer der Führer der antikommunistisch-faschistischen
Studentenorganisation »Milli Türk Talebe Birligi MTTB« (Nationaler Türkische
Studentenunion), die während der 68’er Studentenaufstände mit Morden an linken
Studenten auf sich aufmerksam machte. Heute ist bekannt, dass diese
Organisation mit CIA-Unterstützung gegründet wurde. Viele der heutigen
AKP-Abgeordneten waren ehemalige MTTB-Mitglieder. Insofern hat die türkische
Öffentlichkeit Kahramans Vorschlag als einen offiziellen AKP-Vorstoß verstanden
und der Aufschrei war dementsprechend groß. Kemalisten und andere,
oppositionelle Nationalisten fühlten sich bestätigt: Die Islamisten waren dabei,
die Grundpfeiler der modernen Republik endgültig abzureißen.
In den bürgerlichen Medien des Westens wurde diese Entwicklung mit
besorgten Kommentaren begleitet. War die Türkei, das letzte Bollwerk gegen die
Flüchtlingsströme und das »Modellland« (C. Wulff), welches »den Islam und die
Demokratie mit einander Kompatibel gemacht und so für Wohlstand und Freiheiten
gesorgt hat«, dabei, sich vom Westen zu entfernen? Würde jetzt die Scharia
gelten und nicht mehr die bürgerliche Gesetzgebung?
Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Es ist eine,
auch von kapitalistischen Zentralstaaten gern genutzte Legende, dass die
türkische Republik laizistisch sei – i. S. der bürgerlichen Revolutionen. Der
»Laizismus alla turca« ist jedoch nichts anderes als ein Herrschaftsinstrument
der kemalistischen Bourgeoisie. Ein kurzer Rückblick kann das bestätigen:
Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Die erste
Verfassung trat 1924 in Kraft. Damit wurde das Kalifat nebst dessen
bürokratischem Apparat abgeschafft. 1926 wurde das Bürgerliche Gesetz erlassen
und 1928 wurde die Bestimmung »Islam ist die Staatsreligion und das
Nationalparlament ist zuständig für die Umsetzung der Scharia-Bestimmungen« aus
der Verfassung gestrichen. 1937 wurde das Prinzip des Laizismus in die
Verfassung aufgenommen.
Vom Laizismus wurde aber nicht die Trennung vom Staat und Religion
verstanden, im Gegenteil: der kemalistische Laizismus war der Hauptinstrument
für die Formung der »neuen türkischen Nation« auf der Grundlage des
sunnitischen Islams und diente für die staatlichen Interventionen in das
religiöse Alltagsleben der mehrheitlich sunnitisch-konservativen Gesellschaft.
Damit bekamen die kemalistische Bourgeoisie und die Staatsbürokratie die
Möglichkeit, ihre originären Interessen religiös zu untermauern.
Nach 1946 war es das erklärte Ziel der türkischen Regierung,
»durch die Einführung des Religionsunterrichts in allen Schulen, die moralische
Widerstandskraft der Bevölkerung gegen die kommunistische Propaganda zu
stärken«. Damit begann nicht nur die staatliche Ausbildung der Imame, sondern
auch die Förderung von antikommunistisch-faschistischen Organisationen wie
»Verein zur Bekämpfung des Kommunismus« oder später MTTB.
Im Oktober 1950 hatten die Imame den Auftrag, die Kriegsbeteiligung
der Türkei an der Seite der USA gegen Korea religiös zu unterstützen. Auch die
NATO-Mitgliedschaft in 1952 wurde in den Moscheen als »notwendiger Schritt zum
Schutze des Islams« dargestellt. 1965 wurde das 1924 gegründete »Amt für
Religiöse Angelegenheiten« (Diyanet) direkt dem Nationalen Sicherheitsrat
unterstellt und fortan wurden die Freitagspredigte, die an allen Moscheen des
Landes vorgetragen wurden, vom Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates
genehmigt.
Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verstärkte sich die
Unterordnung des sunnitischen Islams unter die Staatsideologie. In der
Juntaverfassung von 1982 wurde dem »Diyanet« weitere Aufgaben zugeteilt, die
bis heute gültig sind. So hat »Diyanet« die Aufgabe, »die gesellschaftliche
Integration und Einheit gegen Kommunismus, gegen Separatismus und gegen den
Terror zu stärken«. Dem entsprechend sind alle Imame gehalten, in den Moscheen
für »Zustimmung der Gemeinden für Regierungspolitik zu werben« und »den Kampf
gegen den Terrorismus sowie gegen kommunistische und separatistische Umtriebe
zu unterstützen«.
Entgegen der in den
bürgerlichen Medien verbreiteten Meinung, dass die
Armee »Beschützerin des Laizismus« sei, war es stets die kemalistische
Generalität, die die sunnitisch-konservative Religionsauffassung gefördert hat.
So hat sich die Zahl der Predigerschulen gerade nach dem Militärputsch von 1980
verzehnfacht. So konnte der neoliberale Umbau, welche mit dem Putsch
durchgesetzt wurde, eine religiös-gesellschaftliche Legitimität erlangen.
Aber umgekehrt hat der staatlich unterstützte politische Islam den
kemalistischen Laizismus als »paternalistische Unterdrückung der religiösen
Bevölkerung« darstellen und die sunnitisch-konservative Hegemonie für ihre
Organisierung nutzen können. Insbesondere die AKP konnte mit dieser Erzählung –
und natürlich mit ihrem Versprechen, durch Demokratisierung und Wohlstand die
kurdische Frage lösen zu wollen – binnen kurzer Zeit die Unterstützung der
armen, sunnitisch-konservativen Bevölkerungsmehrheit gewinnen. Nun waren
»Leute, wie du und ich«, deren Frauen Kopftuch trugen, an der Macht und hatten
scheinbar die kemalistischen Eliten zurückgedrängt.
Was Jahrzehnte lang der Herrschaftssicherung der kemalistischen
Eliten diente, transformiert sich nun zu einem Instrument, mit dessen Hilfe
jene »islamischen« Kapitalfraktionen, deren neoliberale Politik sich in der AKP
manifestiert, ihre Herrschaft absichern wollen. Das stärkste politische Zentrum
des Konservatismus, die AKP, ist dabei, in jacobinischer Manier ihr
reaktionäres Gesellschaftsbild über die Islamisierung des Alltags durchzusetzen
und ein autoritär-neoliberales Sicherheitsregime zu installieren. Ihre scheinbare
Kritik an dem kemalistischen Laizismus dient ihr dabei als herrschaftssichernde
Debatte und zur Konsolidierung ihrer gesellschaftlichen Basis.
In ihrem Bemühen, ein autoritäres Präsidialsystem durchzusetzen –
was im Grunde ein Protektoratsversprechen an die sunnitisch-konservativen
Kapitalfraktionen ist –, macht die AKP keinen Hehl daraus, die traditionellen
Strukturen des kemalistischen Laizismus für eine Diktatur des sunnitischen
Islams nutzen zu wollen – für eine Staatsreligion, die keine anderen
Glaubensgrundsätze neben sich duldet und der den Neoliberalismus und eine
aggressive Außenpolitik zu ihrem Heiligtum erklärt hat. Die einzigen Kräfte,
die diese Entwicklung stoppen könnten, sind die säkularen Kräfte der Türkei:
die Arbeiterbewegung, die türkische Linke und die kurdische Bewegung. Die
Zukunft der modernen Türkei wird davon abhängen, ob diese Kräfte die große
Herausforderung des gemeinsamen Kampfes meistern können.