Was zur
Zeit in der Türkei passiert, kann nur mit dem Arbeiteraufstand vom 15. und 16.
Juni 1970 verglichen werden. Genau wie damals erleben die Menschen historische
und bewegte Tage, nach denen in der Türkei nichts mehr so sein wird, wie es
bisher war.
Vieles erinnert an den ägyptischen
Aufstand und an die Geschehnisse auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Doch weder ist
der Taksim-Platz in Istanbul mit Tahrir, noch die Türkei mit Ägypten
vergleichbar. Doch die noch andauernden Aufstandstage zeugen von der
Veränderungskraft und Spontaneität der Massen.
Diese Spontaneität hat
eine Geschichte. Die Nacht des 31. Mai 2013 sowie die folgenden Tage haben die
aufgestaute Wut der Mittelschichten entladen. Sie künden den verspäteten
»Türkischen Frühling« an, dessen Saat vor längerem ausgebracht worden war. Ob
dieser »Frühling« jedoch Bestand haben wird, ist noch nicht ausgemacht.
Die Partei für
Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kam nach der verheerenden Wirtschaftskrise
von 2001 an die Regierung. Ausgestattet mit den Vorschusslorbeeren ihres Demokratisierungsversprechens
konnte sie die Früchte der Konsolidierungsmaßnahmen der Vorgängerregierung
ernten und profitierte vom Wirtschaftswachstum. Mit ihrer »passiven Revolution«
- so der Soziologe Cihan Tugal - errang sie breite Unterstützung in der Bevölkerung.
Die AKP war in der Lage,
zum einen mit ihrer rigorosen neoliberalen Umbaupolitik, zum anderen als die
einzige politische Formation, die einen steten Zufluss von ausländischem
Kapital - insbesondere aus Katar und Saudi-Arabien - sicherstellt, die Unterstützung
unterschiedlicher Kapitalfraktionen zu erhalten. Durch ihr Versprechen, die
»Mutter aller Probleme«, nämlich den kurdisch-türkischen Konflikt, lösen zu
wollen sowie ihren scheinbaren Kampf gegen die kemalistische Generalität
sicherte der AKP zum dritten Male die Mehrheit im türkischen Parlament.
Aber in den letzten
Jahren, insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010, wurde die
repressive Seite der neoliberal-islamistischen Hegemonie immer stärker
sichtbar. In den kurdischen Gebieten war das der Alltag. Der schmutzige Krieg,
Massenverhaftungen, die beispielslose Unterdrückung hatten der kurdischen
Bevölkerung sehr früh das wahre Gesicht der AKP offenbart. Der
Wohlstandschauvinismus und die nationalistische Staatsideologie schienen die Menschen
im Westen demgegenüber blind gemacht zu haben.
Jede zweite WählerIn hatte
die AKP gewählt. Beim letzten Referendum hatte die AKP sogar 58 Prozent
Zustimmung erhalten. Jetzt zeigte sich das arrogante und autoritäre Gesicht.
Der Justizapparat und die Medien sind nahezu gleichgeschaltet. Proteste gegen
die Regierung wurden mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten bekämpft.
Zahlreiche Protestierende verloren ihr Leben. Willkürjustiz und ein
»Feindstrafrecht« par excellence führte dazu, dass Zehntausende, darunter
gewählte PolitikerInnen, GewerkschafterInnen, JournalistInnen und
WissenschaftlerInnen mit konstruierten Beschuldigungen ins Gefängnis gesteckt
wurden.
Überall im Land machte
sich Unmut breit über Privatisierungen, den Bau von Wasser- und Atomkraftwerken,
über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Gentrifizierung ganzer
Stadtviertel, Repression im Bildungswesen und insbesondere über den
regierungsamtlich erklärten Krieg gegen die säkulare Lebensweise in den urbanen
Zentren. Das Massaker von Roboski Ende 2011 an der türkischen Ostgrenze, wo 34
Bauern von türkischen Kampfjets getötet wurden, löste ein Fanal in der
Öffentlichkeit aus - obwohl es von den regierungsnahen Medien lange Zeit
totgeschwiegen wurde.
Dazu kam die
regionalimperialistische Außenpolitik, deren Auswirkungen verheerend waren. Die
Unterstützung islamistischer Terrorgruppen durch die Regierung wurde heftig
kritisiert. Die toten Zivilisten in Akçakale, der Bombenanschlag in Antep und
zuletzt der Anschlag in Reyhanli an der Grenze zu Syrien mit zahlreichen Toten
und Zerstörungen erfüllten die Menschen mit Zorn. Die Polizeigewalt am 1. Mai
und das Verbot des symbolträchtigen Taksim-Platzes für Gewerkschaftsaktionen
waren die jüngsten Wegbereiter für den Aufstand.
Der kurdische Widerstand
hatte den Menschen gezeigt, dass die Herrschenden nicht unbezwingbar sind. So
waren die Bäume im Gezi-Park nur noch letzter Anstoß für die jetzigen
Ereignisse.
In der ganzen Türkei sind
nun Hunderttausende aufgestanden, um gegen autoritäre Regierungspolitik, für
Frieden und Demokratisierung zu demonstrieren. Die Gewerkschaftskonföderation
KESK hat einen Streik angekündigt, die kurdische Bewegung ihre Solidarität.
Zwar versucht die kemalistische Republikanische Volkspartei, sich den Aufstand
anzueignen, aber wenn es gelingt, dass Gewerkschaften gemeinsam mit
»städtischen Rebellen« und der kurdischen Bewegung für Frieden und
Demokratisierung den gesellschaftlichen Widerstand organisieren, werden weder
die Kemalisten noch die Regierung die Oberhand gewinnen.
Noch ist
die Gefahr einer Eskalation durch Polizeigewalt oder gar einen Militärputsch
nicht gebannt. Die Menschen in Kurdistan und in der Türkei brauchen jetzt
unsere Solidarität.