Von Errol Babacan und
Murat Çakır
Nach den Neuwahlen am 1. November 2015 ist die
Enttäuschung in der linken und kurdischen Opposition der Türkei groß. Die AKP
erzielte ein Ergebnis nahe an 50 Prozent, womit sie erneut über eine absolute
Mehrheit verfügt. Die größte Oppositionspartei CHP erreichte das Ergebnis vom Juni,
während die beiden anderen Oppositionsparteien MHP und HDP Verluste
verzeichneten. Sie verloren jeweils einen Teil ihrer Wählerschaft an die AKP,
schafften jedoch den Sprung über die Zehnprozenthürde.
Da fast alle Meinungsforschungsinstitute eine Wiederholung
des Ergebnisses aus den Juni-Wahlen vorhergesagt hatten, wurde
unmittelbar nach Bekanntwerden erster Hochrechnungen über Manipulationen
spekuliert. Unabhängige Untersuchungen konnten jedoch nur minimale
Unregelmäßigkeiten feststellen. Die Präsenz des Militärs und der Polizei am
Wahltag, vor allem im kurdischen Südosten, war zwar massiv, außerordentlich war
sie jedoch nicht. Zweifellos richtig ist aber, dass die Wahlen nicht unter
freien und fairen Bedingungen stattfanden. Grundrechte wie die Presse- und
Versammlungsfreiheit sind in der Türkei stark eingeschränkt. Die Repression
gegenüber Opposition und Medien behindert deren Arbeit enorm.
Nicht zuletzt erlebte die Republik die massivste Eskalation
von Gewalt, die es je im Vorfeld von Wahlen gegeben hat. Der neuerlich
entfachte Bürgerkrieg mit der kurdischen Befreiungsbewegung forderte mehrere
Hundert Tote in wenigen Wochen. Eine Reihe von Bombenanschlägen, die mit dem
»Islamischen Staat« in Verbindung gebracht werden, aber allesamt nicht
aufgeklärt sind, hat dagegen eine lähmende Wirkung auf die Opposition
entfaltet. Insbesondere der Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara mit
über hundert Toten war für die linke, säkulare und kurdische Opposition ein
Schock. Die Oppositionsparteien CHP und HDP reduzierten ihren Wahlkampf nach
dem Anschlag erheblich.
Dennoch behielt insbesondere die HDP ihren Glauben, dass der
Erfolg aus den Juni-Wahlen noch ausgebaut werden könne. Der Wahlslogan »Die Wahlhürde haben wir niedergerissen,
jetzt ist der Palast dran« (gemeint ist der palastartige Amtssitz, in dem
der Staatspräsident Erdoğan in Ankara residiert) spiegelte diese Erwartung.
Dieses überaus ambitionierte Ziel wurde weit verfehlt, entsprechend groß ist
die Enttäuschung. Nun stellt sich vordringlich die Frage, warum niemand mit
einem so deutlichen Wahlsieg der AKP gerechnet hat. Im Folgenden werden einige
Versäumnisse und Probleme skizziert, die zu dieser Fehleinschätzung führten und
Überlegungen zur Zukunft linker Opposition in der Türkei angestellt.
Nieder mit dem Palast
Ein zentrales Versäumnis der linken und kurdischen Opposition
besteht darin, dass sie kein nachvollziehbares Programm für breite
Bevölkerungsschichten formuliert hat. Stattdessen hat sie sich auf einen
populistischen Lagerwahlkampf eingelassen. Allein der Slogan »Nieder mit dem Palast« liefert aber
noch keine Antwort, wie dies geschehen soll und was an seine Stelle treten
könnte. Der »Palast« ist kein Papiertiger, der mit Leichtigkeit weggepustet
werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine inzwischen konsolidierte
Regierungsstruktur, die ein riesiges Land mit milliardenschweren
multinationalen Konzernen, zehntausenden Einzelunternehmen und einem
ausgefeilten bürokratischen Apparat steuert.
Der Palast, vielmehr die AKP garantiert eine
investorenfreundliche Politik und vor allen Dingen die Zustimmung der
Arbeiterschaft für diese Politik. Extreme Arbeitsbedingungen, Vertreibung aus
Wohnvierteln und massive Umweltzerstörung durch riesige Infrastrukturprojekte
und uferlosem Wohnungsbau treten für viele weiterhin hinter das Versprechen
eines sozialen Aufstiegs zurück. So ist der materielle Fortschritt der
vergangenen Dekade nicht von der Hand zu weisen. In der breiten Wahrnehmung ist
dieser Fortschritt und damit die Aussicht auf einen Aufstieg an die AKP
gekoppelt. Selbst die Offenlegung individueller Bereicherung durch Korruption
oder solche Desaster wie das Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten, die die
Kehrseite des Fortschritts aufzeigen, stören diese Wahrnehmung kaum. Etliche
Mechanismen wie die Schaffung konfessioneller Privilegien, die Verteilung der
städtischen Rendite und die Austeilung materieller Hilfsleistungen über
regierungsnahe Sozialfonds stellen den Konsens auch der untersten Schichten der
Arbeiterklasse für ein brutales kapitalistisches Ausbeutungssystem her.
Die Zunahme der Repression einerseits und der Erfolg in den
Juni-Wahlen andererseits haben der Opposition den Blick auf diese Zusammenhänge
verstellt. Sie verstellten auch den Blick darauf, dass die durch den Palast
symbolisierte Regierungsstruktur nicht vom Himmel gefallen ist, sondern den
vorläufigen Endpunkt einer langen politischen Tradition bildet. Erdoğan stellt
sich selbst zwar in die Kontinuität osmanischer Sultane, realistischer ist
jedoch, ihn und seine Partei in der Kontinuität rechts-konservativer Parteien
der Türkei zu sehen, die in erster Linie das Bürgertum in seinen verschiedenen Facetten
organisieren und repräsentieren. Proto-faschistische und äußerst reaktionäre
Strömungen, die mit Gewalt gegen ihre politischen Gegner vorgehen, sind seit
jeher ein fester Bestandteil dieses Blocks.
Die rechten Parteien verfügen seit den 1950er Jahren über
einen stabilen Wählerzuspruch von etwa 60 Prozent. Sicherlich ist dieser
Zuspruch nicht in Beton gegossen und muss immer wieder von neuem ideologisch
reproduziert werden. Der AKP gelingt dies, flankiert von der MHP, mit Erfolg.
So sind die neoliberalen Maßnahmen durch den kontinuierlichen Ausbau eines
ideologischen Netzwerks begleitet. Moscheegemeinden, religiöse Schulen,
Stiftungen und andere Medien vermitteln der Bevölkerung eine bestimmte
Weltauffassung, in der kapitalistisches Wachstum und islamisch-konservatives
Machtstreben im Bild einer aufsteigenden und prosperierenden Nation - der
»Großen Türkei« - vereint sind. Jede/r Einzelne ist aufgefordert, seinen/ihren
Beitrag zu leisten und gleichzeitig am Wachstum zu partizipieren.
Von der Krise zur Rekonsolidierung
Die Lage vor den Juni-Wahlen war gekennzeichnet durch ein
Kriseln der neoliberal-islamischen Herrschaft. Konflikte innerhalb der
herrschenden Klassen, Streitereien innerhalb der AKP um die Verteilung von
Pfründen und Posten, die sich an der Person und der Machtstellung Erdoğans
entzündeten, sowie im Alltag spürbare Auswirkungen der schwelenden ökonomischen
Krise dominierten die Tagesordnung. Das Vertrauen in die Stärke der AKP nahm
ab. Doch muss sogleich hinzugefügt werden, dass selbst in dieser krisenhaften
Konstellation die AKP immer noch mehr als 40 Prozent der Stimmen erhielt.
Zusammen mit den Stimmen der MHP erhielt der rechte Block auch bei den
Juni-Wahlen weiterhin knapp 60 Prozent der Stimmen.
Nach den Wahlen gelang es der AKP, die politische
Konfliktlage wieder zu ihren Gunsten zu verschieben. Die Partei setzte auf die
Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung durch Eskalation des Bürgerkriegs
und Verbreitung von Angst. Das einfache Kalkül der Wahlstrategen, als Lösung
für die zunehmende Unsicherheit inmitten des neu entfachten Bürgerkriegs für
eine stabile Einparteienregierung zu plädieren, ging auf.
Die Opposition hat dagegen sowohl die AKP als auch ihre
Wirkmacht unterschätzt. Sie war trotz aller Warnzeichen nicht darauf gefasst,
dass die AKP zur Sicherung ihrer Herrschaft bereit ist, alle Register zu
ziehen. Dabei charakterisieren politisch motivierte Massenverhaftungen,
Methoden der Aufstandsbekämpfung, die Mobilisierung faschistischer Banden,
Bombenanschläge und die Unterstützung des salafistischen Dschihadismus in
Syrien seit zwei Wahlperioden den politischen Alltag. Die Klage insbesondere
aus den Reihen der CHP aber auch der HDP, dass der Wahlkampf nicht fair gewesen
sei, wirkt vor diesem Hintergrund weltfremd.
Daneben hat die Opposition, statt wie zuvor angesprochen eine
langfristige Strategie zu entwickeln, die die Reproduktionsgrundlagen des
rechten Blocks durchbricht, durch einen oberflächlichen Anti-Erdoğanismus der
AKP in die Karten gespielt. Offenbar gefesselt vom eigenen Hype herrschte die
Überzeugung vor, dass die Kampagne, die bei den Juni-Wahlen erfolgreich war,
lediglich weitergeführt und zugespitzt werden muss. Allerdings wurden von der
bewährten Kampagne nicht etwa die sozial-demokratischen Inhalte, wie die
Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu
Bildung, oder die liberalen Inhalte, wie die Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse,
ethnischer Identitäten und der Geschlechter, hervorgehoben. Tatsächlich war das
Werben mit solchen Inhalten angesichts des Kriegszustands sehr schwierig. Ein
einseitiges Umschwenken eines großen Teils der linken und kurdischen Opposition
auf eine Anti-Erdoğan Kampagne, deren sozialer und klassenpolitischer Inhalt
gleich Null ist, entpuppte sich dennoch als Fehler. Dieser vermeintlich direkte
Weg an die Massen zu appellieren, diente gerade angesichts der sich
zuspitzenden Gewalt als Steilvorlage für die AKP, die Rekonsolidierung des
rechten Blocks hinter der Führungsfigur Erdoğan zu organisieren. Die AKP hatte
insofern leichtes Spiel, als dass die Produktion starker Führungsfiguren, die
das Volk durch stürmische Zeiten geleiten, zum Kernbestandteil rechter Politik
gehört.
Die langfristige Ausblendung struktureller Zusammenhänge –
die Frage, wen oder was die AKP in ihrer Gesamtheit repräsentiert - ermöglichte es der
AKP also, einen Wahlkampf zu führen, der sich auf die Mobilisierung von
Bedürfnissen nach Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität konzentrierte, wofür
sie ihr gesamtes ideologisches Netzwerk in Stellung bringen konnte. Auf diese
Weise konnte sie entscheidende Stimmen von der im »Kampf gegen den PKK-Terror«
als passiv wahrgenommenen MHP loseisen und gleichzeitig einen eher kleineren
Teil der zuvor für die HDP stimmenden kurdischen Wählerschaft davon überzeugen,
dass es Frieden nur mit einer starken AKP geben kann.
Fragen an die
Opposition
Indes lieferten die HDP und die kurdische Bewegung
zwischenzeitlich ein zerfahrenes und unentschlossenes Bild ab. So entsendete
die HDP beispielsweise zwei Minister in die Übergangsregierung, um sie wenig
später mit der Begründung, dies sei eine Kriegsregierung, wieder
zurückzuziehen. Was die beiden voraussehbar wirkungs- und machtlos gebliebenen
HDP-Minister in der Kriegsregierung der AKP zu suchen hatten, obgleich letztere
lange zuvor einen brutalen Krieg vom Zaun gebrochen hatte und reihenweise
Aktivisten und Funktionsträger der HDP festnehmen ließ, ist bis heute ein
ungelöstes Rätsel.
Für erhebliche Diskussionen in der Linken sorgte (und sorgt
weiterhin) auch das Verhältnis zwischen der PKK und der HDP. So maßregelte die
PKK-Führung mehrfach die HDP, sie sei politisch zu anspruchslos und dürfe eine
Koalition mit der AKP nicht von vornherein ausschließen. Die PKK irritierte
damit insbesondere die linke und säkulare Bevölkerung, die sich der HDP
zugewandt hatte, da sie von ihr eine klare Ablehnung des islamistischen und
autoritären Kurses der AKP erwartete.
Welche Ziele die PKK in den kurdischen Kleinstädten
verfolgte, in denen eine mit ihr assoziierte militante Jugendorganisation die
Staatsgewalt für aufgehoben erklärte und den bewaffneten Kampf aufnahm, ging
dagegen in der allgemeinen Eskalation von Gewalt unter. Im Westen des Landes
wurden diese Aktionen nicht als eine notwendig gewordene Selbstverteidigung
gegenüber einem vollkommen enthemmten Sicherheitsapparat wahrgenommen, sondern
als Versuch der Abspaltung Kurdistans von der Türkei. Widersprüchliche
Erklärungen aus der kurdischen Bewegung trugen zu dieser Wahrnehmung bei.
Allerdings wäre es viel zu kurz gegriffen und ausgesprochen
unfair, die Probleme bei der kurdischen Bewegung abzuladen. Schließlich hat die
Bewegung es trotz massiver Gewalt in der Türkei und eines gleichzeitig
geführten Krieges gegen den »Islamischen Staat« in Syrien und im Irak
geschafft, einen großen Teil der kurdischen Bevölkerung hinter sich zu bringen.
In den vor den Wahlen vom Militär belagerten kurdischen Städten war die
Zustimmung für die HDP sogar besonders groß.
Vielmehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Linke in
der Türkei leisten kann, die emanzipatorische Dynamik, die sowohl an der
sozialen Basis der CHP als auch der kurdischen Bewegung vorhanden ist, gegen
die in beiden Strömungen ebenfalls mehr oder minder stark vorhandene
neoliberale, nationalistische und konservative Dynamik zu fördern. Wie kann es
gelingen, eine linke Praxis zu etablieren, die eine dauerhafte Herausforderung
des wahlweise religiös- oder ethnisch-nationalistischen neoliberalen
Autoritarismus bilden und somit auch die Reproduktion des rechten Blocks
untergraben kann?
Aufbau von Unten
Aus dem bisher Gesagten kann das Zwischenfazit gezogen
werden, dass die November-Wahlen die Grenzen des linken Populismus, der bei den
Juni-Wahlen bis zu einem gewissen Grad aufging, aufgezeigt haben. Allein auf
Wahlen und populistische Rhetorik zu setzen, bringt vielleicht kurzfristig
Erfolge, ohne eine Bewegung mit einer sozialen Machtbasis im Hintergrund
gelingt eine nachhaltige Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse
jedoch nicht.
Der vermeintliche Erfolg der HDP täuschte darüber hinweg,
dass die üblichen Formen professionalisierter Politik sich schon seit längerem
in einer Sackgasse befinden, während rechtsstaatliche Mittel in der Türkei de
facto ausgehebelt sind. Dabei gewährte der größte Aufstand in der jüngeren
Geschichte der Türkei – der Juni-Aufstand - Einsichten, wie eine alternative
Praxis aussehen könnte.
Die Erfahrungen von »Gezi« haben damals Vielen neue Optionen
und Räume politischen Wirkens eröffnet. Von den Anlaufstellen für die
Organisierung einer kollektiven Stadtteilkultur, die sehr praktische
Vernetzungen schufen, von den Parkforen, die sich basis-demokratisch
organisierten und aus denen neue Initiativen gegen den neoliberal-islamistischen
Autoritarismus hervorgingen, ist jedoch nur wenig geblieben. Versuche, die
damals vorhandene Dynamik weiter zu entwickeln, die Stadtteilinitiativen zu
Stadtteilräten zusammenzuführen, die sich mit den gegen die kapitalistische
Landnahme Widerstand leistenden Dörfern solidarisieren, um eine wirkmächtige
politische Praxis zu schaffen, haben sich weitgehend verlaufen.
Zwei Jahre nach dem Aufstand muss also konstatiert werden,
dass es nicht gelungen ist, die Praxis des Aufstands in Richtung einer sozialen
Bewegung, die eine Selbstermächtigung der Subalternen ermöglicht,
weiterzuführen. Stattdessen ist eingetreten, was sich schon damals abzeichnete
und der Linken nun gewissermaßen auf die Füße gefallen ist. Der Unmut wurde auf
die Gegnerschaft zur AKP oder noch simpler auf Erdoğan minimiert. Mitunter
wirkt der Aufstand weit entrückt als etwas, das in einem anderen Zeitalter
unter Mitwirkung längst vergessener Akteure stattgefunden hat.
Es ist leicht gesagt, aber die Linke müsste nach Wegen
suchen, die kommunalistische und libertäre Praxis von unten wieder zu beleben,
und sie müsste gleichzeitig ein koordinierendes Zentrum schaffen, das nicht
unmittelbar den Dynamiken des Bürgerkriegs unterworfen ist. Eine Erneuerung der
gewerkschaftlichen Arbeit – partizipativ und basis-orientiert – stünde ebenfalls an. Dies bedeutet
Maulwurfarbeit. Sie wird ohnehin notwendig, denn in der Türkei kann davon
ausgegangen werden, dass der politische Islam auch im Falle einer
Wahlniederlage seine Machtpositionen nicht mehr räumen, stattdessen mit allen
Methoden ausbauen wird. Formal finden in der Türkei zwar noch Wahlen statt,
faktisch ist die parlamentarische Demokratie jedoch aufgehoben. Das Parlament
wirkt nur noch als Fassade, die Opposition im Parlament ist machtlos.
Konkret steht zu erwarten, dass die AKP das Projekt
Präsidialsystem zum Abschluss bringen und juristisch absichern wird. Zu diesem
Zweck buhlt sie bereits jetzt um die Gunst von Abgeordneten der Opposition.
Inwiefern dieses Buhlen Anklang findet, die AKP sogar den Weg zurück zu den
Geheimverhandlungen mit der kurdischen Bewegung findet, wird sich zeigen. Dass
nichts Gutes daraus entstehen kann, lässt sich aber schon jetzt sagen.
Äußerst schwer wiegt heute allerdings der Umstand, dass sich
die gesellschaftliche Polarisierung weiter zugespitzt und die
Gewaltbereitschaft im rechten Lager erheblich zugenommen hat. Die Reaktion
eines Teils der AKP-Anhängerschaft auf den Bombenanschlag in Ankara
verdeutlicht das Ausmaß und den Charakter dieser Polarisierung. Bei einem Fußball-Länderspiel
in der mittelanatolischen Stadt Konya, die eine Hochburg des politischen Islam
ist, wurden während einer Schweigeminute für die Opfer des Anschlags
islamistische Parolen gerufen, die als Aufruf zum »Dschihad« gelten. In
Nachbarschaft zu den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak hat der sunnitische
Dschihadismus in der Türkei organisatorisch und ideologisch Fuß gefasst. Ein
Massaker an Friedensbewegten erfährt offenen Jubel.
Der Bombenanschlag in Ankara wirkt auch auf eine andere Weise
nach. Er hat eine wesentliche Erfahrung des Juni-Aufstands, bei dem die
brutalen Polizeieinsätze durch erlebte Solidarität auf den Barrikaden gekontert
wurden, nachhaltig zerstört. Das Massaker von Ankara steht für absolute
Schutzlosigkeit. Die Opposition auf der Straße weiß nun, dass sie jederzeit von
einer Bombe oder einer Polizeikugel getroffen werden kann. Vor diesem
Hintergrund hat ein Teil der Linken damit begonnen, die Notwendigkeit der
Selbstverteidigung zu thematisieren. In der Tat stellt sich die Frage, inwiefern
eine friedliche und zivile Opposition in der Türkei überhaupt noch möglich ist.