Über die Türkeipolitik der EU und die Rolle
der BRD
Just in den Tagen, in denen vor den Augen der Weltöffentlichkeit
kurdische Ortschaften vom türkischen Militär und Spezialeinheiten der Polizei
umlagert, dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten – vor allem Kinder und Frauen
auf offener Straße hingerichtet wurden und der schmutzige Krieg der
Herrschenden in der Türkei eine neue Eskalationsstufe erreichte, fanden in
Berlin und Brüssel zwei wichtige Ereignisse statt.
In Berlin war es eine Premiere: erstmals fanden deutsch-türkische
Regierungskonsultationen statt. Bundeskanzlerin Merkel empfing ihren türkischen
Kollegen Davutoğlu mit allen militärischen Ehren und sie ließen ihre Minister zusammenkommen.
Offensichtlich war es der Bundesregierung, die derzeit in der Flüchtlingsfrage
unter Druck steht, von Bedeutung, die besondere »Wertschätzung« gegenüber der
Türkei öffentlichkeitswirksam hervorzuheben. Zwar warfen gehässige Mäuler der
Bundeskanzlerin vor, sie würde »einen schmutzigen Deal« eingehen, der einem
»Kniefall vor dem Despoten Erdoğan« gleiche, aber in den bürgerlichen Medien fanden die
»Konsultationen« weitgehend ein positives Echo. Immerhin wird von der Türkei
erwartet, dass sie zukünftigen Flüchtlingsströmen einen Riegel vorschiebt und
somit Europa von dem Druck der »Verdammten dieser Erde« befreit. Das ist der EU
mindestens 3,5 Mrd. Euro sowie wohlwollende politische Unterstützung wert.
Ein paar Tage später, am 26. und 27. Januar 2016 fand in Brüssel
die 12. Internationale Konferenz zum Thema »Die EU, die Türkei und die Kurden«
statt. An der von EUTCC und der Konföderalen Fraktion der Vereinigten
Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) ausgerichteten Konferenz
nahmen zahlreiche Persönlichkeiten teil: Vertreter*innen kurdischer
Organisationen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen sowie
Politiker*innen aus der EU und der Türkei machten auf die dringende
Notwendigkeit eines Friedensprozesses aufmerksam, verurteilten die türkische
Regierung und appellierten an die EU sowie an europäische Regierungen, sich für
ein Friedens- und Demokratisierungsprozess in der Türkei einzusetzen. Diese
internationale Konferenz, in der ohne Frage das »Richtige« gesagt und gefordert
wurde, fand jedoch in den bürgerlichen Medien kaum Resonanz. Kurd*innen und
ihre Freund*innen waren wieder einmal unter sich. Das war’s!
War’s das wirklich oder sollte diese traurige Tatsache nicht
Anlass genug sein, um einiges grundsätzlich zu überdenken und Antworten auf einige
Fragen zu suchen, so z.B.: Warum unterstützt die EU das AKP-Regime? Ist die EU
und sind die europäischen Regierungen an einer demokratischen und friedlichen
Lösung der Kurdischen Frage überhaupt interessiert? Was ist die Rolle der BRD und wessen Interessen sind
eigentlich von Bedeutung?
Klarheit über die EU
In diesem Zusammenhang steht die kurdische Bewegung vor der
Notwendigkeit, die Rolle der EU, des EU-Parlaments und der europäischen
Regierungen im Bezug auf die Kurdische Frage neu zu bewerten. Denn die
Erwartungen, die EU und europäische Regierungen könnten das AKP-Regime zum
Umdenken bzw. zur Wiederaufnahme des sog. »Friedensprozesses« drängen oder
mindestens ihre repressive Politik gegen kurdische Organisationen in Europa
beenden, haben sich als Illusion herausgestellt. Diese Erwartungshaltung ist
und bleibt nur ein Wunschtraum. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Erstens ist zu konstatieren, dass sich die EU unter der Führung
der BRD, also des deutschen Imperialismus zu einer wirtschaftlichen und
politischen Struktur der imperialistischen Staaten Westeuropas entwickelt hat.
Expansionistische Ziele, neoliberaler Umbau, gewaltiger Sozialabbau, Aushöhlung
der bürgerlichen Demokratie, Militarisierung der Außenpolitik, Orientierung an
der Durchsetzung der Interessen internationaler Konzerne, aggressive Aktionen
gegen die Unabhängigkeit und territoriale Integrität souveräner Staaten,
bewusste Verletzung des UNO-Charta und des internationalen Völkerrechts sind
nun Charakteristika dieser EU.
An der Seite der USA, aber zugleich in Konkurrenz zu ihr, streben
imperialistische Staaten Westeuropas unter der EU-Hülle aktiv danach, den
geopolitischen Raum zu erobern. Innerhalb der letzten 25 Jahre haben zahlreiche
Kriege und bewaffnete Interventionen, die allesamt von imperialistischen
Mächten initiiert wurden, vor allem aber die Osterweiterung der NATO und der EU
die europäischen und internationalen Widersprüche verschärft. Während NATO und
die EU Mittel- und Osteuropa zu ihrem Aufmarschgebiet verwandelt haben,
gemeinsam mit der USA zu einer feindlichen Haltung gegenüber Russland und China
übergegangen sind und mit militärischen, politischen und wirtschaftlichen
Gewalt der gesamte Nahe und Mittlere Osten sowie Teile Afrikas weiter
destabilisiert werden, werden in den bürgerlichen Staaten der EU nach und nach
autoritär-neoliberale Sicherheitsregime installiert, mit Freihandels- und
Investitionsschutzabkommen wie CETA, TTIP und TISA Sozialstandards abgebaut,
Ausbeutungsmechanismen verstärkt und durch die Förderung des
Wohlstandschauvinismus, Rechtspopulismus sowie des Rassismus gesellschaftliche
Spaltungslinien vertieft, somit mögliche gesellschaftliche
Widerstandspotantiale geschwächt.
Sowohl die USA, als auch die EU setzen bei ihrem Kampf um die
erneute Aufteilung der Welt, um die Kontrolle von Rohstoffquellen,
Absatzmärkten und Versorgungswegen, um politische Einflusssphären auf immer
mehr militärische Mittel. Dieser Tendenz zum Einsatz des Militärischen erhöht
die Gefahr eines weltweiten Krieges und führt zur Zuspitzung von kriegerischen
Handlungen in regionalen Konflikten. Der wesentliche Grund dafür ist die dem
Imperialismus innewohnende Aggressivität, welche durch die im Rahmen des
Kapitalismus unlösbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen verschärft
wird. Unsere Gegenwart, die ökonomische, politische und gesellschaftliche
Realität belegt die offensichtliche Tatsache, dass der Krieg, auch im 21.
Jahrhundert nur der Ausdruck und Fortsetzung der Klassenpolitik des Kapitals
ist.
Gerade im Nahen und Mittleren Osten, wo reiche Erdgas- und
Erdölquellen liegen und mehrere Pipelinepläne auf ihre Verwirklichung warten,
kann verfolgt werden, welche Auswirkungen diese unsägliche Politik hat:
Millionen Menschen auf der Flucht, Hundertausende Tote, zerstörte Städte und
ganze Regionen, Armut, dschihadistischer Terror, Stellvertreterkriege,
ethnische und konfessionelle Konflikte. Irak und Syrien befinden sich in einem
Zerfallsprozess und die Gefahr, dass der Flächenbrand auf Nachbarländer
übergreift, wird von Tag zu Tag größer. Das, was seinerzeit als »Bekämpfung des
Terrors« und »Durchsetzung von Freiheit und Demokratie im geopolitischen
Großraum von Marokko bis Kasachstan« (auch bekannt als »Middle East Partnership
Initiative«) angepriesen wurde, hat sich als Brandbeschleuniger entpuppt. Mehr
noch; die Brandstifter wollen jetzt die Feuerwehr stellen!
»Neue Macht. Neue Verantwortung«
Die »Zentralmacht in Europa«, die BRD, seit langem ihrer Stellung
als »Gestaltungsmacht im Wartestand« überdrüssig, ist aktiv an dieser
Entwicklung beteiligt und nutzt ihre ökonomische Macht sowie ihre führende
Position in der EU aus, um in den Rang einer internationalen Ordnungs- und
Gestaltungsmacht aufzusteigen. Es steht außer Frage; der deutsche Imperialismus
wird aggressiver und militaristischer. Während die BRD Europa zu ihrem
Binnenmarkt fortentwickelt und kleinere EU-Mitgliedsstaaten sowie Nachbarländer
der EU ihren Diktaten unterworfen hat, ist sie bestrebt, die Hebelwirkung der
EU für ihre expansionistischen Ziele zu nutzen und verwandelt dabei ihre
Bundeswehr zu einer Interventionsarmee. Mit Rüstungsprojekten –
Verteidigungsministerin von der Leyen plant in den kommenden Jahren 130 Mrd. EU
in die militärische Ausrüstung zu investieren – und immer umfangreicheren
Auslandseinsätzen soll die Kriegsfähigkeit der Bundeswehr gesteigert werden.
Eine EU-Armee unter deutscher Führung und mit der Fähigkeit zur weltweiten
Intervention ist im Aufbau.
In Dokumenten wie das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur
Zukunft der Bundeswehr« oder im Strategiepapier »Neue Macht. Neue
Verantwortung« können die strategischen Ziele der seit den 1990er Jahren
systematisch umgesetzten langfristigen Konzepten des deutschen Imperialismus
herausgelesen werden: der kontinuierliche Ausbau und Sicherung seiner Hegemonie
und Führungsrolle in Europa und Aufstieg in den Rang einer Weltmacht. Insofern
ist es kein Zufall, dass nahezu alle führenden Köpfe der deutschen Politik bei
jeder Gelegenheit von der »neuen Verantwortung Deutschlands« schwadronieren und
hochmütig voraussagen, dass »Deutschland künftig öfter und entschiedener führen
müssen« werde.
Der »größte und wirtschaftlich stärkste Staat in Europa« will
aller Welt ihren eisernen Willen und ihre Fähigkeit, die strategischen und
wirtschaftlichen Interessen des deutschen Kapitals »gegen äußere
wirtschaftliche, politische und ggf. auch militärische Pressionen zu
verteidigen« unter Beweis stellen – wobei bekanntlich Angriff die beste
Verteidigung ist! Gerade der Nahe und Mittlere Osten, als einer der politisch wichtigsten
Regionen der Welt scheint dem deutschen Imperialismus dafür ein geeignetes
Terrain zu sein. Angesichts des Rohstoffreichtums, der geostrategischen
Bedeutung, der Möglichkeiten neue und große Märkte zu erschließen – so. z.B.
aktuell im Iran – und des wirtschaftlichen Entwicklungspotentials der gesamten
Region ist dieser Drang nachvollziehbar.
Die Politik der BRD in dieser Region ist in erster Linie darauf
ausgerichtet, zum einen Profit sichernde Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen und
die Staaten in der Region so zu beeinflussen, so dass das Kräfteverhältnis in
der Region zugunsten des deutschen Kapitals langfristig abgesichert werden
kann. Andererseits ist ihre Politik auf eine einflussreichere Teilnahme an der
sich vollziehenden Neuordnung der Region ausgerichtet, um so stärker in den
Entscheidungsmechanismen der internationalen Politik wirken zu können und
gleichzeitig die negativen Auswirkungen der regionalen Krisen sowie von
Zerfallsprozessen wie im Irak und Syrien auf die deutsche Wirtschaft abzumildern.
Abgesehen davon macht die Absicherung und Erweiterung ihrer Rüstungsexporte ein
stärkeres Engagement in der Region notwendig.
Die »strategische Imperative«
Das Expansionsbestreben des deutschen Imperialismus und anderer
imperialistischer Staaten Europas erfordert eine stärkere und ausgeweitete
Kooperation mit den herrschenden Klassen in der Region. Die Neuordnung der
Machtverhältnisse in der Region ist zugleich ein Kampf um die regionale
Hegemonie und für die EU-seitige Beeinflussung der herrschenden Klassen in
Ägypten, im Iran und Irak, in Israel, Jemen, in den Golfkooperationsstaaten,
Saudi Arabien und der Türkei.
Aufgrund ihrer wertvollen geostrategischen Lage und ihrer Position
als eines der zentralen Energieumschlagsplätze kommt der Türkei eine besondere
Bedeutung zu. Die deutsche Türkeipolitik, welche die seit den Zeiten Kaiser
Wilhelms von einer Konstante geleitet wird, ist ein unschätzbarer
Wettbewerbsvorteil für die BRD. Denn vom Kolonialstrategen Paul Rohrbach (1911)
über den ehem. Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann bis zur
Bundeskanzlerin Merkel, also von der bürgerlichen Wissenschaft, dem deutschen
Militär und der politischen Vertretung des deutschen Kapitals war stets zu
hören, dass die Unterstützung der türkischen Machthaber immer eine
»strategische Imperative« zur Verteidigung wirtschaftlichen Interessen
Deutschlands war und ist.
Insofern ist es keine Überraschung, dass bisher alle
Bundesregierungen, trotz ihrer Türkei- und Islamkritischen Rhetorik in der
Innenpolitik, alle türkischen Regierungen unterstützt haben. Als NATO-Partner,
als Rüstungslieferant bzw. Lizenzgeberin für Rüstungsgüter und als Listenplatz
Nr. 1 für türkische Exporte hat die BRD ein strategisches Interesse daran, das
türkische Kapital und dessen Herrschaftsinstrumente zu stärken und zu schützen.
Jedoch, die deutsch-türkische »Waffenbrüderschaft« und
strategische Partnerschaft war und ist nie frei von Widersprüchen. Wie jede
Kollaboration basieren auch die deutsch-türkischen Beziehungen auf gemeinsame
Interessen, die sich zeitweilig auch widersprechen können, gestalten sich im
Rahmen der Kräfteverhältnisse und müssen immer wieder von neuem geformt werden.
Auch wenn die wirtschaftliche Übermacht der BRD immer ein bestimmender Faktor
ist, kann die türkische Seite, je nach gesellschaftlichen, politischen,
wirtschaftlichen sowie regionalen Entwicklungen, als souveräner Partner den
Fortgang und die Richtung dieser Beziehungen mitbestimmen.
So nutzt beispielsweise das AKP-Regime, die der geostrategisch
wertvollen Lage der Türkei und der gegenseitigen Abhängigkeiten bewusst ist,
die derzeitige Flüchtlingskrise als ein Faustpfand für seine Beziehungen zur
BRD und EU. Alle Beteiligten wissen, dass die seit Monaten andauernden
Flüchtlingsströme in die europäischen Staaten ohne die Entscheidung der Türkei,
die Flüchtlinge »gehen zu lassen«, so nicht möglich geworden wäre. Die BRD und
die EU benötigen zur Abschottung der Außengrenzen und zur Wahrung ihrer
wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen in der Region die
türkischen Machthaber. Das AKP-Regime wiederum benötigt die Unterstützung der
EU und der BRD zur Erhaltung ihrer Macht. Das Regime ist auf die Wiederaufnahme
des Beitrittsprozesses angewiesen, zum einen, um ihr Image als europäisches
Land aufzupolieren und zum anderen, um die wirtschaftlichen Verluste, die durch
das Wegbrechen ganzer Märkte in der Region und wegen dem Investitionsrückgang
entstanden sind, zu kompensieren.
Auch wenn es so erscheint, als ob das AKP-Regime in der
Flüchtlingsfrage am längeren Hebel sitzt und der EU ihre Bedingungen diktieren
könnte, ist das Regime dennoch aufgrund ihres außenpolitischen Fiaskos, der
innenpolitischen Lage, der entstandenen Instabilität sowie aufgrund der
verheerenden Auswirkungen der Vielfachkrise, in der die Türkei steckt, auf das
wohlwollende Entgegenkommen der imperialistischen Staaten Europas angewiesen.
Diese wissen genau, in welchen wirtschaftlichen und politischen Problemen das
Regime steckt und von der Wiederbelegung des Beitrittsprozesses innenpolitisch
profitieren möchte. Zugleich wollen sie sich durch die Stärkung des AKP-Regimes
gegen negative Auswirkungen der regionalen Krisen absichern. Die Türkei soll
wieder ein »Stabilitätsfaktor in einer Region der Instabilitäten« (G. Schröder)
werden – zugunsten der BRD und der EU.
Fazit
Kommen wir zurück auf die am Anfang gestellten Fragen. Warum also
unterstützt die EU das AKP-Regime? Um ihre Abschottungspläne zu verwirklichen
und um ihre Interessen zu wahren, braucht die EU das Regime. Die
Flüchtlingsfrage wird genutzt, um die seit 2004 entwickelten Pläne,
Flüchtlingslager außerhalb der EU aufzubauen und die Fluchtwege noch in der EU-Peripherie
zu schließen, soll die Türkei zu einer Pufferzone und einem
Flüchtlingsabwehrzentrum verwandelt werden. Die wiederaufgenommenen
Beitrittsgespräche sind nicht nur eine politische Unterstützung für das
AKP-Regime. Vielmehr wird der EU-Beitrittsprozess dazu genutzt auf das Regime
einzuwirken und den Einfluss der EU zu erhöhen. Die Eröffnung eines jeden neuen
Kapitels bedeutet, da es dem Charakter des Beitrittsprozesses entspricht, die
schrittweise Übertragung von Souveränitätsrechten auf die EU. Mittel- und
langfristig ist die Türkei ökonomisch, politisch und militärisch auf die EU und
vor allem auf die BRD angewiesen. Genau damit »pokert« die EU, womit wir
konstatieren können, dass weder die EU, noch irgendeine europäische Regierung
an einer echten demokratischen und friedlichen Lösung der Kurdischen Frage –
sprich Demokratisierung, Autonomierechte, Rechtsstaatlichkeit,
Sozialstaatlichkeit etc. – interessiert sind.
Interessiert sind sie jedoch an einer systemimmanenten,
herrschaftssichernden »beruhigenden Befriedung« in den kurdischen Gebieten, was
in erster Linie der inneren Stabilität des AKP-Regimes und der Domestizierung
der kurdischen Bewegung dienlich ist, diese spalten und im Endergebnis
marginalisieren soll. Gleichzeitig wird über diese »beruhigende Befriedung« für
die Erhaltung des parlamentarischen Systems in der Türkei – was einer Karikatur
der bürgerlichen Demokratie entspricht – beworben werden, da das von der AKP
verfolgte Durchsetzung eines autoritären Präsidialsystems, aufgrund der staatlichen
Interventionen in die Organisation der kapitalistischen Konkurrenz, Seitens der
EU nicht präferiert wird. Letztlich wird über die generierte Legitimität
entschieden werden, ob das Präsidialsystem umgesetzt werden kann. Aber
unabhängig davon ist sich auch die EU bewusst, dass die AKP, in welcher
Regierungsform auch immer, Kapitalinteressen »wie ein Löwe« verteidigen wird.
Wie sich der Einfluss der EU auswirken wird, ist noch offen. Aber
im Bezug auf die Flüchtlingsfrage kann die EU durchaus auf einen sofortigen
Erfolg (!) hinweisen: Gleich nach dem Gipfel am 29. November 2015 zwischen der
Türkei und den europäischen Staats- und Regierungschefs hat die Zahl der
Flüchtlinge, die über Griechenland nach Europa flüchten wollen, stark
abgenommen. Umgekehrt konnte aber die AKP ihrer Basis nachweisen, dass sie weiterhin
von der EU hofiert wird und eventuelle Erleichterungen bei Visaerteilung und
Reisefreiheit nur mit ihr zu bekommen sind. Eine »Win-Win-Situation« also.
Während die EU die Türkei als »sicheres Herkunftsland« ausrufen
will und sich auffällig stillhält, setzt das AKP-Regime ganze Regionen in
Kurdistan in Schutt und Asche und führt ihre rigorose Unterdrückungspolitik
gegen jegliche Opposition fort. Eigentlich müssten im Laufe der letzten Monate
nun jeder liberale Zweifler, jeder begriffsstutzige Träumer und die
kleinbürgerlichen »Intellektuellen« längst begriffen haben, dass Seitens der
EU, geschweige denn Seitens der BRD, irgendwelcher Protest gegen die
Willkürjustiz und faschistoiden Maßnahmen des AKP-Regimes zu erwarten ist.
Die kurdische Bewegung, aber auch die Linke in der Türkei und
deren Organisationen in Europa müssen diesen Tatsachen bewusst werden. Es ist
nun mal so, dass die EU, die BRD oder europäische Regierungen ganz genau
wissen, was sie tun. Es ist falsch, deren Politik als verfehlt, inkonsequent
oder verantwortungslos zu charakterisieren, denn sie setzen ihre Klassenpolitik
konsequent durch und verfolgen genau das, wofür sie stehen: die Wahrung der
ökonomischen, politischen, strategischen Interessen des Kapitals. Das ist der
Grund, warum sie auf die Zusammenarbeit mit den Despoten angewiesen sind und
Despoten wie Erdoğan auf deren Unterstützung. Die logische Schlussfolgerung dieser
Tatsache ist, sich bewusst zu werden, dass die Lösung der Nationalitätenfrage,
die Demokratisierung und die Friedensfrage untrennbar mit der sozialen Frage
verbunden ist und jegliche Kampf für deren Verwirklichung dem entsprechend
gestaltet werden muss.
In der Bewertung der AKP-Politiken teilen viele die Ansicht, dass
die Türkei sich auf dem Weg in eine offene Diktatur befindet, der Dschihadismus
in der Türkei ideologisch wie organisatorisch Fuß gefasst hat und sich eine
gesellschaftliche Basis des Faschismus ausbildet. Dem ist zuzustimmen. Es stellt sich in der
Tat die Frage, ob und wie in der Türkei heute eine friedliche Oppositionsarbeit
zu leisten ist. Aufgrund der gegenwärtigen Situation in der Türkei und in
Kurdistan ist die kurdische Bewegung und mit ihr solidarisch verbundenen Kräfte
gehalten, ihre Strategien grundsätzlich zu überprüfen. Denn, frei nach Max
Horkheimer, wer vom Kapitalismus und Imperialismus nicht reden will, sollte
auch vom Faschismus schweigen. Demokratischer Konfederalismus, demokratische
Autonomie und die demokratische Republik – sie können nur und ausschließlich
antikapitalistisch und antiimperialistisch sein und sonst nicht!