Über die Bemühungen türkeistämmige
und kurdische Organisationen unter einem Kongressdach zusammenzubringen, Murat
Çakır
Seit
Jahrzehnten versuchen Vereine und Verbände von linken, sozialistischen und
kommunistischen Migrant*innen aus der Türkei und Kurdistan in Europa
themenbezogene Bündnisse aufzubauen. Es sind i. d. R. aktuelle Entwicklungen in
der Türkei und in Kurdistan, die zu solchen, meist befristeten Bündnissen und
gemeinsamen Aktionen führen. Für die beteiligten Organisationen haben diese
Aktionsbündnisse Vorteile in doppelter Hinsicht: Zum einen werden durch
konkrete gemeinsame Aktivitäten die Kommunikation zwischen den Verbänden
verbessert und das gegenseitige Vertrauen ausgebaut. Zum anderen führen die
massenhaften Aktionen und gemeinsam formulierte Forderungen zu einer breiteren
öffentlichen Wahrnehmung und ziehen die Aufmerksamkeit der Medien, politischen
Parteien, Parlamenten und Regierungen auf diese Forderungen. Dennoch kann
bilanziert konstatiert werden, dass weder eine nachhaltige öffentliche
Wahrnehmung, noch ein nachhaltiger Einfluss auf politische
Entscheidungsmechanismen erreicht werden konnte. Das hat verschiedene Gründe.
Das
wichtigste ist wohl die bewusste Marginalisierung und Ausgrenzung der linken
Selbstorganisationen in Europa. Die Kriminalisierung und Stigmatisierung
kurdischer Organisationen aufgrund des PKK-Verbots kommt erschwerend hinzu.
Zudem ist der Einfluss der Türkei als NATO-Mitglied auf den europäischen
Regierungen und allgemein die Auswirkungen der imperialistischen Politik nicht
zu vernachlässigen.
Doch das
ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der einen Seite agieren die
migrantischen Selbstorganisationen meist Türkei- bzw. Kurdistanbezogen und
beteiligen sich ungenügend an den sozialen Kämpfen und politischen
Auseinandersetzungen in dem jeweiligen europäischen Land. So sind z.B. an den
Maifeiern die meisten migrantischen Selbstorganisationen nur folkloristisches
bzw. kulinarisches Beiwerk. Andererseits entstehen die bisherigen Bündnisse nur
in Top-down-Prozessen. Die Einbeziehung der jeweiligen Basis in die
Entstehungs- und Entscheidungsprozesse führen dazu, dass die Mitglieder der
Selbstorganisationen außer der verordneten »nebeneinander demonstrieren« keine
Gemeinsamkeiten entwickeln können. Vorstände entscheiden und Mitgliedsvereine
führen aus – mehr ist es nicht.
Um
Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, die Existenz der
unterschiedlichen Selbstorganisationen sowie deren politischen und sozialen
Aktivitäten zu hinterfragen. Im Gegenteil: die Unterschiedlichkeiten und die
Vielfalt sind eine Bereicherung für die Bündnisarbeit. Verankerung,
Organisierung und Stärkung der jeweiligen Bündnisorganisation innerhalb ihrer
Zielgruppe ist zugleich zum Vorteil der gemeinsamen Arbeit. Die Kritik richtet
sich an das Verständnis und an die bisherigen Methoden der Zusammenarbeit.
Und
positive Beispiele gibt es auch zuhauf: So hat der gemeinsame Wahlkampf während
der türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni und 1. November 2015 dazu geführt,
dass die HDP das zweitbeste Wahlergebnis in den Auslandsurnen herausholen
konnte. Über 90.000 Stimmen allein in der BRD und die erfolgreiche Arbeit der
gemeinsamen örtlichen Komitees sind nicht nur gute Beispiele. Sie zeigen
zugleich die Notwendigkeit einer nachhaltigen und langfristig ausgelegten
Zusammenarbeit auf.
Ein
kurzer Blick auf die politische Lage
Die
Situation in der Türkei und in Kurdistan ist bekannt. Das AKP-Regime, dass sich
nach den letzten Wahlen konsolidieren und die Unterstützung nahezu aller
Kapitalfraktionen, der Staatsbürokratie und imperialistischen Staaten sichern
konnte, ist auf dem Weg zu einer offenen Diktatur. Wir müssen davon ausgehen,
dass der schmutzige Krieg in Kurdistan weiter an Fahrt gewinnen, die gesamte
Opposition noch mehr unterdrückt, die Rechtsstaatlichkeit völlig ausgehöhlt,
das Parlament zur Funktionslosigkeit degradiert und ein autoritäres
Präsidialsystem verfassungsrechtlich verankert sein wird. Das AKP-Regime hat
bewiesen, dass sie die Macht durch Wahlen nicht aus der Hand geben und alle
Instrumente, die ihr zur Verfügung stehen nutzen wird, um ihre Macht
auszubauen. Es ist zu konstatieren, dass das Regime den gesamten Staatsapparat,
die Armee und die Justiz unter ihre Kontrolle gebracht hat und eine
reaktionär-nationalistische Regierungsmacht geworden ist, die zudem über ein
nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Einfluss verfügt.
Weiter
ist davon auszugehen, dass die Außenpolitik noch aggressiver und
militaristischer gestaltet, die Zusammenarbeit mit anderen despotischen Regimen
sowie djihadistischen Terrorbanden intensiviert und Kriegstreiberei verstärkt
wird. Sowohl eine solche, auf verstärkte Kollaboration mit dem Imperialismus
basierende Außenpolitik, als auch die neoliberale Wirtschafts- und restriktive
Innenpolitik bedürfen die Absicherung durch den Aufbau eines autoritären
Sicherheitsregimes und Repressalien. Der schmutzige Krieg gegen die kurdische
Bevölkerung, die Konfessionalisierung und Islamisierung aller Lebensbereiche,
die Mobilisierung eines faschistischen, aggressiv nationalistisch-rassistischen
Mobs und die Willkürjustiz zeigen, wie groß inzwischen die Gefahr einer
faschistischen Diktatur geworden ist.
Genauso
ist es davon auszugehen, dass die türkeistämmigen und kurdischen Menschen in
Europa die Auswirkungen dieser Entwicklung mit aller Härte hautnah spüren
werden. Am 10. April 2016 konnten wir mit den zeitgleichen und europaweiten
Demonstrationsversuchen türkischer Faschisten und Rassisten erleben, wie das
AKP-Regime im Ausland ihren Einfluss geltend machen will. Mit ihren
regierungsnahen Vereinen und Verbänden, geheimdienstlichen Organisationen und
Medien ist das Regime in Europa bestens vernetzt.
Seitens
der EU und europäischen Regierungen ist keine Abhilfe zu erwarten. Im
Gegenteil, wie im Skandalpakt gegen Flüchtlinge zu sehen ist, werden die EU und
europäische Regierungen das Regime weiter unterstützen. Gleichzeitig wird die
imperialistische Politik im Nahen Osten weiter den Flächenbrand anfachen und
weitere Fluchtursachen schaffen. In diesem Zusammenhang ist auch die
rechtspopulistische Tendenz in den europäischen Ländern zu sehen. Die Stärkung
von rechtspopulistischen und rassistischen Bewegungen führt dazu, dass die
übrigen bürgerlichen Parteien deren Positionen übernehmen und dem Druck der
Straße nachgeben. Gleichzeitig ist diese Entwicklung den herrschenden Klassen
in Europa ein willkommener Anlass, um die Militarisierung der EU-Außenpolitik
und den neoliberalen Umbau voranzutreiben. Die als uferlos verstandene
Abschottungspolitik sowie der Ausbau des Sicherheitsstaats in allen EU-Ländern
wird auch dazu führen, dass oppositionelle linke migrantische
Selbstorganisationen unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« vermehrt Ziel
staatlicher Repressionen werden. Die Verfahren nach dem § 129b StGB und
Isolationshaft von kurdischen und türkischen Linken ist nur die Spitze des
Eisbergs, mit der Europa zu kollidieren droht.
Diese
Entwicklungen werden kurdische und türkische Selbstorganisationen unter einem
besonderen Druck bringen und das alltägliche Leben der Migrant*innen negativ
beeinflussen. Natürlich werden die demokratische Öffentlichkeit, linke
Parteien, die Friedens- und Gewerkschaftsbewegung sich gegen eine solche
Entwicklung positionieren und als unsere natürlichen Bündnispartner uns
beistehen. Aber das Fehlen eines breiten, starken und geeinten migrantischen
Zentrums wird sich als ein Faktor darstellen, der die Solidarität und den
gemeinsamen Kampf weiter schwächen wird. Die angemessene Antwort darauf ist die
qualitative Weiterentwicklung der bisherigen Bündniserfahrungen und die
Schaffung eines linken politischen Zentrums von türkeistämmigen und kurdischen
Migrant*innen.
Notwendigkeiten
und Methoden des gemeinsamen Kampfes
In der
Türkei hat die Gründung des »Demokratischen Kongress der Völker« (HDK) im Kampf
um Demokratie, friedliche Lösung der Nationalitätenfrage, Gleichheit und
soziale Gerechtigkeit neue Impulse gegeben. Die aus der HDK herausgegangene und
als »Kongresspartei« konzipierte »Demokratische Partei der Völker« (HDP) hat
die undemokratische Wahlhürde von 10 Prozent funktionslos gemacht. Es konnten
gesellschaftliche Bündnisse aufgebaut werden, die vielfach größer waren als die
Summe der Massen, die alle HDK bzw. HDP Mitgliedsorganisationen zusammenbringen
können. Die Erfahrungen des HDK-Aufbaus sind lehrreich.
Die
meisten türkisch-kurdischstämmigen Organisationen in Europa haben in der Türkei
und in Kurdistan Schwesterorganisationen, die sich in der HDK bzw. HDP zusammengeschlossen
haben. Das, was in der Türkei und in Kurdistan als Notwendig angesehen und
erfolgreich umgesetzt wurde, gilt in gleicher Weise auch in Europa. Es wäre
nicht nachvollziehbar, wenn die gleichen politischen Strömungen in der Türkei
und in Kurdistan ein basisdemokratisches Bündnis wie die HDK aufgebaut haben,
in Europa aber dies nicht bewerkstelligen könnten.
Insofern
war es kein Zufall, dass in Europa unterschiedliche migrantische Organisationen
– wenn auch verspätet – eine solche Debatte begonnen haben. Auch wenn sich der
Prozess etwas langwierig darstellt, so ist es nicht notwendig, das Rad neu zu
erfinden. Es ist völlig ausreichend, den HDK-Gründungskonsens und die
Programmatik, ergänzt um die spezifischen Bedürfnissen und politischen Forderungen
in Europa, aufzunehmen und zur Grundlage eines ständigen basis- bzw.
rätedemokratischen Bündnisses – z.B. als HDK Europa – zu machen.
In den
Diskussionen, die auf verschiedenen Ebenen geführt werden, suchen die
beteiligten Organisationen nach Wegen, ein solches Bündnis aufzustellen. Einige
Selbstorganisationen wie die ATIK, DIDF oder alewitische Föderation AABF stehen
diesen Diskussionen noch reserviert gegenüber. Es wird also noch einiges an
Überzeugungsarbeit notwendig sein, die sich aber auf jeden Fall lohnen werden.
Denn eine »HDK Europa« ohne ATIK, DIDF und AABF könnte die vorhandenen
Potentiale nicht entfalten können.
In den
bisherigen Diskussionen hat es sich herauskristallisiert, dass auf örtlicher,
regionaler, auf Landes- und europaebene über Rätestrukturen von Unten nach Oben
das Bündnis aufgebaut werden sollte. Diese Aufbaustruktur, die die jeweilige
Vertretung auf der übergeordneter Ebene durch Delegiertensystem vorsieht,
könnte, anders als bei den klassischen Vereinsstrukturen, die beteiligungsorientierte
freiwillige Mitarbeit möglichst breiter Kreise fördern. Die Sicherstellung der
Geschlechtergerechtigkeit auf allen Vertretungsebenen, die Möglichkeit der
Mitwirkung und Mitentscheidung in thematischen Räten bzw. Kommissionen,
basisdemokratische Entscheidungsmechanismen, der Aufbau von örtlichen Räten zu
Zentren der sozialen Arbeit, Begegnung, politischen Bildung, der Solidarität,
von bedarfsorientierten sozialen wie kulturellen Angebote und des gemeinsamen
Kampfes ist machbar und kann breite Kreise mobilisieren.
Es wäre
jedoch fatal, wenn die Rätestrukturen eines solchen Bündnisses eine reine
Exilvertretung türkischer und kurdischer Bewegungen bliebe. Die politische
Arbeit und Organisierung des HDK-Europas sollte auf drei Säulen fußen:
- Solidarität mit den Kämpfen in der Türkei und in Kurdistan; Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit für demokratische Kräfte, soziale und Friedensbewegungen der Türkei und Kurdistan, eben internationalistische Intervention in die politischen Entscheidungsmechanismen und der Meinungsbildung in Europa.
- Beteiligung an sozialen Kämpfen, an Aktionen der Friedens- und Gewerkschaftsbewegungen, der antifaschistischen und antirassistischen Organisationen in dem jeweiligen europäischen Land und auf EU-Ebene. Kurz, als fester Bestandteil der Bewegungen in Europa unseren Beitrag für die demokratische, soziale und friedliche Gestaltung der Zukunft zu leisten.
- Als Dach der Selbstorganisationen der Migrant*innen eine basisdemokratische Interessensvertretung in den Bereichen Migration, Flucht und Asyl zu sein, Angebote für die Lösung der spezifischen migrantischen Probleme, für eine Politik der Gleichstellung, Antirassismus und Antidiskriminierung entwickeln, politische Bildung organisieren, Selbstermächtigung und Wissensaneignung fördern, Organizing.
Eine so
aufgestellte HDK-Europa könnte vor Ort, in den Kommunen, Ländern und auf der
Bundes- wie EU-Ebene ein wichtiger, ernstzunehmender politischer und
gesellschaftlicher Akteur werden. Die Erfahrungen in den Wahlkämpfen bei den
türkischen Parlamentswahlen haben gezeigt: durch die gemeinsame Arbeit wurde
die Dynamik und das Potential des HDP-Bündnisses auch für die europäische
Öffentlichkeit sichtbar. Zudem war dies eine zusätzliche Motivation für die
gesellschaftliche und politische Linke in Europa.
Ob wir es wollen oder nicht: die Entwicklungen in der Türkei und
in Kurdistan, die aktuelle Lage in Europa, die Rechtsentwicklung, der
neoliberale Umbau und die Militarisierung der EU beeinflussen unser
alltägliches Leben und machen deutlich, dass die Zeit für den Aufbau eines
HDK-Europas längst gekommen ist. Auch wenn derzeit nicht alle
Selbstorganisationen davon überzeugt sind, gilt es kontinuierlich und
beharrlich daran zu arbeiten, die basisdemokratische Bündnisarbeit auf allen Ebenen
voranzutreiben. Die Zeit ist reif. Das einzige, was uns verhindern könnte, ist
nichts anderes als Organisationsegoismen und die Kurzsichtigkeit der Akteure.